Von Brakelsiek ins Schloss Bellevue

Der "Frank" ist Bundespräsident

Der designierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, SPD, geht am 12. Februar 2017 im Reichstag in Berlin nach der Wahl zum Bundespräsidenten zum Rednerpult.
Der designierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, SPD, geht am 12. Februar 2017 im Reichstag in Berlin nach der Wahl zum Bundespräsidenten zum Rednerpult. © picture alliance / Bernd Von Jutrczenka/dpa
Von Frank Capellan und Klaus Remme |
In der SPD nennen sie ihn alle nur "den Frank", den Mann aus kleinen Verhältnissen, der nun der Präsident der Bundesrepublik Deutschland ist. Seine politische Karriere verdankt Frank-Walter Steinmeier Alt-Kanzler Gerhard Schröder, seine Beliebtheit hingegen seinem ausgleichenden Temperament. Ein Porträt.
Am ersten Dezember sitzt Frank Walter Steinmeier auf der Bühne des Maxim Gorki Theaters in Berlin. Ausverkauftes Haus. Gerade ist er von Ukraine-Verhandlungen aus Minsk zurückgekehrt, am Flughafen in Tegel wartet schon die Maschine, um ihn zu einem Besuch in den Libanon zu fliegen. Seit zwei Wochen weiß Steinmeier, dass seine Zeit als Bundesaußenminister zu Ende geht und er sich nun, mit 60 Jahren, berechtigte Hoffnungen auf den Wechsel ins Bellevue und damit ein noch höheres Amt machen kann. Er spricht über sein neues Buch, es geht darin um dieses "Dauernd-unterwegs" und heißt deshalb auch "Flugschreiber", und vermutlich ist er froh, dass seine Nominierung für das Amt des Bundespräsidenten inzwischen offiziell ist, allzu leicht hätte man das Buch sonst als Begleitmusik eines allzu eifrigen Bewerbers interpretieren können.
Natürlich geht es im Maxim Gorki um Außenpolitik und um die Frage, wie man sie in den aktuellen Krisenzeiten erfolgreich bewältigt. Steinmeier verweist auf ein Bild im wörtlichen Sinne, und wer es sehen will, der muss nach Augsburg fahren, zur Wallfahrtskirche St. Peter am Perlach. Johann Georg Melchior Schmidtner hat das Gnadenbild um 1700 gemalt und Maria Knotenlöserin genannt:
"Auf dem Bild sieht man Maria, wie sie mit stoischer Miene ein Band voller Knoten aufdröselt, und so ist Außenpolitik. Kurzer Prozess, einfach mit einem Schwert durchschlagen, so wie es Alexander der Große mit dem gordischen Knoten gemacht haben soll, geht fast nie. Tatenlosigkeit ist ebenso keine Option, wir müssen geduldige Knotenlöser sein und möglichst viele zum Mitdröseln ermutigen."

Aushängeschild für Geduld, Dialog und Deeskalation

In Sachen Tonlage muss sich dieser Frank Walter Steinmeier nicht umstellen, der Übergang in sein neues Amt dürfte in dieser Hinsicht mühelos werden. Gerade in seiner zweiten Amtszeit als Außenminister ist er zum Aushängeschild für Geduld, Dialog und Deeskalation geworden. "Als Diplomat geboren", so hat man ihn oft beschrieben, doch das ist natürlich Unsinn. Seine politische Laufbahn beginnt vor 26 Jahren in der niedersächsischen Staatskanzlei. Als Medienreferent wird er dem Ministerpräsidenten vorgestellt, der heißt Gerhard Schröder. Der Cineast würde sagen: Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Der Alt-Kanzler erinnert sich so:
"Er kam da rein und war sehr selbstbewusst, ganz anders, als das sonst vielleicht erwartbar gewesen wäre. Und dieses Selbstbewusstsein gründete, das konnte man im Gespräch sehr schnell feststellen, auf Kenntnissen und auf einer sehr seltenen Mischung zwischen, wie sich später herausstellte, der Fähigkeit, eine Bürokratie zu leiten und sich in der Politik auch wirklich zu bewegen. Das kennzeichnet ihn sehr, das hab ich im Laufe der Zeit erfahren. Ich hab natürlich am Anfang, als ich ihn kennenlernte, nicht darüber nachgedacht, ob er denn je Bundespräsident werden würde, aber das er ein sehr guter werden wird, das ist mir jedenfalls klar."
Ursula Steinmeier, Mutter von Frank-Walter Steinmeier, blättert in ihrem Wohnzimmer in Brakelsiek / Nordrhein-Westfalen in einem Fotoalbum.
Ursula Steinmeier, Mutter von Frank-Walter Steinmeier, blättert in ihrem Wohnzimmer in Brakelsiek / Nordrhein-Westfalen in einem Fotoalbum. © picture alliance / dpa
Doch wer ist das, der da 1991 in kurzer Zeit vom Referenten zur rechten Hand von Gerhard Schröder wird? Die biografischen Wurzeln des neuen Bundespräsidenten liegen im Lipperland, genauer in einem Dorf namens Brakelsiek.
"Ich komme aus einer Familie, zu denen sagt man so gemeinhin: Stammt aus kleinen Verhältnissen!"
Vater Walter ist Tischler, Mutter Ursula zunächst Fabrik- dann Forstarbeiterin. Fünf Monate nach der Hochzeit kommt Frank Walter am 5. Januar 1956 als erstes Kind zur Welt. Im beschaulichen 1000-Seelen-Dorf Brakelsiek erlebt er eine unbeschwerte Kindheit. Die Familie schafft es zu bescheidenem Wohlstand. Aber dem jungen Steinmeier ist schnell klar: "Wenn du etwas haben willst, dann musst du hart dafür arbeiten."
"Die Herausforderungen, die dort in der deutschen Provinz zu bewältigen sind, waren insbesondere nicht klein in den 50er Jahren."
Die Eltern machen keinen Druck, aber Frank-Walter möchte etwas werden. Sein Lehrer ermuntert dazu, ihn aufs Gymnasium zu schicken.
"Er war kein Einser-Schüler, also dass er jetzt immer Einsen geschrieben hat, gar nicht. Aber hat sich immer so dran gehalten, dass er mitkam!"
So erinnert sich die inzwischen 87-jährige Mutter, die bis heute in Brakelsiek lebt. Als verschlossen beschreiben ihn Jugendfreunde. Der jüngere Bruder Dirk macht gern mal einen drauf, Frank-Walter ist eher ruhig. "Aber", meint Ursula Steinmeier, "er war nie ein Kind von Traurigkeit!"
"Die ganzen Abi-Feten. Die sind alle bei uns gewesen, die haben gekocht, das war wahnsinnig! Ich weiß, dass sie einmal Pickert gebacken haben: Die Waschküche, die sah hinterher aus!"

Prägendes protestantisches Umfeld

Mit Blick auf seine Kochkünste bleibt es nicht beim Pickert, dem besonderen Pfannkuchen, der vom "Arme-Leute-Essen" zum ostwestfälischen Nationalgericht wurde. Kochen wird zur Leidenschaft Steinmeiers – neben dem Fußball. Prägend ist zunächst sein protestantisches Umfeld. Schmunzelnd bekennt er sich dazu, 2016, als er den Toleranzpreis der Evangelischen Akademie Tutzing erhält:
"Ich erinnere mich an Menschen mit großem inneren Ernst, an Pastoren mit wortstarker, zuweilen donnernder Predigt, und die hatte lang und ausführlich zu sein. Ein Gottesdienst unter anderthalb Stunden wäre als Arbeitsverweigerung verstanden worden!"
Seit der Reformation verläuft die Trennlinie zwischen Protestanten und Katholiken durch Ostwestfalen-Lippe. Bis ins erzkonservative Paderborn mit seinen Nachbarorten ist es nicht weit, aber:
"Obwohl die Schule, das Gymnasium, in der katholischen Kleinstadt näher war, blieb man doch lieber im Evangelischen, auch wenn es ein paar Kilometer mehr waren. Und selbst beim Fußball – habe ich heftig und intensiv gespielt – begegnete man sich nicht, da auch die Fußball-Ligen sich streng an den Kreisgrenzen orientierten."
Nur 15 Kilometer von Brakelsiek entfernt wächst derweil jemand auf, der später Steinmeiers Mentor wird: Gerhard Schröder. Auch der spätere Kanzler spielt mit Begeisterung Fußball.
"Bei Schröder sagten sie Acker, nich, Frank war immer Prickel."
So erinnerte sich einmal Steinmeiers 2012 verstorbener Vater. Acker und Prickel - auf dem Fußballplatz treffen sie sich nie. Schröder ist zwölf Jahre älter. Was sie aber bald verbindet: Schröder wie Steinmeier sind davon überzeugt, dass sie den Aufstieg aus einfachen Verhältnissen ohne die Sozialdemokratische Partei nicht geschafft hätten.
"Ich gehöre zu jener Generation, die ihren Weg machen konnte, weil es eine sozialdemokratische Bildungsoffensive in den späten 60er Jahren gab, in den frühen 70er Jahren. Und hätte es sie nicht gegeben, hätte es kein Schüler-Bafög gegeben und keine Studienförderung, säße ich nicht hier."

1975 tritt Steinmeier in die SPD ein

Frank Walter Steinmeier macht seinen Weg, er macht Abitur, er studiert. Politisch ist er interessiert und engagiert, 1975 tritt er der SPD bei. An eine Karriere als Politiker allerdings denkt der junge Steinmeier nicht.
"Ich hab mich nicht irgendwann hingesetzt und habe mir überlegt: Ab morgen wirst du Politiker, sondern ich wollte Rechtsanwalt werden."
In Gießen beginnt er ein Jurastudium, lernt an der Universität Brigitte Zypries kennen, mit der er später am Kabinettstisch sitzt. Bald schon arbeitet Steinmeier als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für öffentliches Recht. Es ist die Zeit, in der er seine spätere Frau Elke Büdenbender kennenlernt:
"Da ist er mir schon aufgefallen, weil er so unglaublich freundlich und ansprechbar war. Also er saß überhaupt nicht auf irgendeinem hohen Ross, sondern man hatte das Gefühl, der hört zu, man kann ihn fragen, er ist zugänglich."
Das macht ihn später so populär. Seine Zugänglichkeit erklärt zudem, warum er auch in der SPD seinen Weg macht, ohne Parteikarriere, ohne den oft zitierten sozialdemokratischen Stallgeruch. Ein Mann mit Bodenhaftung, so urteilen sie über ihn - in Brakelsiek und Berlin.
"Alle, die ihn näher kennen, die mit ihm groß geworden sind, sagen Frank zu ihm!"
So erklärt Franz Müntefering als SPD-Chef einmal, warum Frank-Walter Steinmeier auch für die Genossen einfach nur "der Frank" ist. Schließlich hatten selbst die Eltern den "Walter" immer weggelassen.
"Irgendwann habe ich mal offen mit ihm darüber geredet und habe gesagt: Ja was ist denn eigentlich, wieso sagen die immer 'Frank' zu dir und ich sage 'Frank-Walter'. Da hat er gesagt, alle haben immer 'Frank' zu mir gesagt. Da habe ich gesagt gut, geschenkt, bin für kurze Formulierungen: Frank!"
Altkanzler Gerhard Schröder und Frank-Walter Steinmeier unterhalten sich im März 2013 zu Beginn der Fraktionssitzung ihrer Partei im Reichstagsgebäude in Berlin.
Altkanzler Gerhard Schröder und Frank-Walter Steinmeier unterhalten sich im März 2013 zu Beginn der Fraktionssitzung ihrer Partei im Reichstagsgebäude in Berlin.© dpa/ picture alliance/ Wolfgang Kumm
"Der Frank" wäre wohl nie ins Auswärtige Amt, geschweige denn ins Bellevue gelangt, wäre es 1991 nicht zu jener schicksalhaften Begegnung mit Gerhard Schröder gekommen. Als Steinmeier Medienreferent der Niedersächsischen Staatskanzlei wird, treffen sich in Hannover zwei Männer, die sich in ihrer Verschiedenheit perfekt ergänzen. Steinmeier ist Schröders "Macher", der wiederum macht ihn am Ende zum Politiker. Zunächst bleibt Steinmeier vor allem eines: "Schröders Mann". Referent des Ministerpräsidenten, Chef der Staatskanzlei, Kanzleramtschef – stets im Schatten Gerhard Schröders. In den rot-grünen Regierungsjahren ist er der stille Mann im Hintergrund, ein loyaler Regierungsbeamter, Architekt der Agenda 2010. Steinmeier ist es, der Schröders Sozialstaatsreformen umsetzt.
"Raubbau am Sozialstaat, das war es nie, sondern es ging darum, Menschen wieder in Arbeit zu bringen."
In der Linkspartei wird das anders gesehen. Wegen seiner Rolle als "Agenda-Mann" war sie nicht bereit, ihn als Kandidaten für die Gauck-Nachfolge mitzutragen. In der Öffentlichkeit allerdings wird Steinmeier kaum mit Schröders Reformen in Verbindung gebracht. Es ist seine stets vermittelnde Art, die ihm Anerkennung verschafft, seit er am 20. November 2005 das Erbe Joschka Fischers antritt und in Merkels erster Koalition mit der SPD Außenminister wird.
"Joschka, wer von uns beiden hätte am 22. Mai, dem Tag der Neuwahl-Entscheidung, gedacht, dass wir hier und heute eine Amtsübergabe vollziehen würden!?"

Warum verhindert er die Freilassung von Murat Kurnaz ais Guantanamo?

Das Außenamt wird schnell zu seinem Lieblingsjob, der damals 49-Jährige bald zu einem Lieblingspolitiker der Deutschen. Dabei ist seine Arbeit eher unspektakulär. Große Krisen bleiben ihm noch erspart. Dafür holt ihn seine Vergangenheit als Geheimdienstkoordinator immer wieder ein – die Verstrickung in den Anti-Terrorkrieg der Amerikaner nach dem 11. September 2001. Wann hat er von der Verschleppung und Misshandlung des Deutsch-Libanesen Khaled El-Masri durch die CIA erfahren? Was machten BND-Agenten im Irak? Vor allem aber: Warum verhindert er die Freilassung von Murat Kurnaz? Der in Bremen geborene türkische Staatsbürger sitzt vier Jahre in Haft - unschuldig. Steinmeier ist mitverantwortlich, davon ist Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele überzeugt. Hier sieht er die Schattenseiten des neuen Bundespräsidenten:
"Es gibt eben auch die negativen Erfahrungen. Ich hab ihn ja auch befragen können in einem späteren Untersuchungsausschuss, wo er auch im Nachhinein uneinsichtig geblieben ist: vor allen Dingen, aber nicht nur, der Fall Kurnaz, wo ich der festen Überzeugung bin, dass Herr Kurnaz Jahre vorher aus Guantanamo nach Deutschland hätte kommen können und müssen, dass die Amerikaner auch bereit waren, ihn freizugeben, dass diese Möglichkeit aber von Deutschland nicht genutzt wurde, sondern an Deutschland geradezu gescheitert ist."
Ist es die Angst, einen Fehler zu machen, einen Terroristen nach Deutschland zu holen? Steinmeier schweigt. Murat Kurnaz beklagt in einem ARD-Interview, er warte bis heute auf eine Entschuldigung.
"Ich habe wegen Frank-Walter Steinmeier vier Jahre unschuldig in Guantanamo gesessen. Wenn er von seiner Arroganz wegkommen würde und sagen würde 'Okay, ich bin zwar Politiker, aber auch ein Mensch und habe einen Fehler begangen und entschuldige mich dafür', dann wäre die Sache für mich auch gegessen."
Der Fall Kurnaz - Tiefpunkt der Karriere des Frank-Walter Steinmeier. Doch seine Beliebtheit bleibt.
"Das ist ja nett, dass wir Sie hier mal getroffen haben – ja, dass sie extra gekommen sind."
2009 tritt Merkels Außenminister als Kanzlerkandidat gegen die Chefin an. Steinmeier vermittelt nicht den unbedingten Willen zur Macht. Lange wirbt er für Kurt Beck. Allerdings: Als die eigenen Leute dem SPD-Chef in den Rücken fallen, schweigt Steinmeier. Die Partei will ihn, der als Außenminister im Licht der internationalen Bühne strahlt. Vom Spitzenbeamten zum Spitzenkandidaten – Steinmeier greift zum Höchsten, und ist zum Scheitern verurteilt. Zu sehr verschwimmen die Grenzen in der Großen Koalition. Selbst Anhänger der SPD machen ihr Kreuz inzwischen bei Angela Merkel, wie eine Wählerin in Steinmeiers brandenburgischem Wahlkreis unfreiwillig offenbart:
"Unser Bundesaußenminister oder wie heißt der Herr Steinmeier? Ich wähle natürlich die SPD, ist doch logisch. Bin ja auch sehr angetan von unserer Frau Merkel, die ist doch SPD!"
Steinmeier vermag nicht zu polarisieren. Die lautstarke Attacke ist nicht sein Ding. Bayerns SPD-Chef Franz Maget spürt es damals geradezu:
"Das ist der Härtetest. Ein volles Zelt, eine Maß Bier dazu, lieber Frank, wer das durchsteht, der wird auch Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden."
Steinmeier steht es nicht durch, er ist kein Wahlkämpfer, schon gar nicht im Bierzelt. Auch wenn er sich alle Mühe gibt, seinen Patron Gerhard Schröder zu imitieren. Eine Hörprobe:
"Jeder Mensch muss das Recht haben auf bestmögliche Bildung – und dieser Zugang muss für alle in unserem Volk offen bleiben – auch wenn er aus einem armen Elternhaus stammt – ich weiß, worüber aus sehr eigener Erfahrung – und ich selbst, ich bin auch der erste aus meiner Familie, der Abitur machen durfte. Ohne Sozialdemokratie wäre das auch für mich nicht möglich gewesen!"

Schlechtestes Ergebnis als Kanzlerkandidat der SPD

23 Prozent fährt der populäre Steinmeier am Ende ein, das schlechteste SPD-Ergebnis seit Kriegsende. Und dennoch: Steinmeier wird nicht vom Hof gejagt, bekommt eine zweite Chance, darf seine traumatisierte Partei als Fraktionschef in die Opposition führen. Frisch auf dem Posten gilt es erst einmal, einen neuen Bundespräsidenten für den überraschend zurückgetretenen Horst Köhler zu finden.
"Die Menschen suchen nach Orientierung und wir brauchen einen Kandidaten und einen Bundespräsidenten, der diese Orientierung geben kann. Wir sind fest davon überzeugt: Joachim Gauck kann das!"
Gauck wird – noch – nicht gewählt. Im dritten Anlauf setzt Schwarz-Gelb Christian Wulff durch. Gauck – damals für viele "Kandidat der Herzen" – unterliegt. Steinmeier dürfte es zu schätzen wissen, heute mit komfortabler Mehrheit ins Bellevue gewählt worden zu sein.
Am 23. August 2010 ist es der SPD-Fraktionsvorsitzende, der die Herzen vieler Bürger mit einer traurigen Nachricht anspricht.
"Meine Frau ist in den letzten Monaten schwer erkrankt, und es gibt den ärztlichen Rat, dass ihr nur eine Organtransplantation wirklich helfen kann."
Steinmeier spendet eine Niere. Er spricht darüber, später auch mit Humor:
"Ich bin nicht ganz komplett, aber mir fehlt ja nix!"
Ungewohnt persönlich präsentiert er sich im ZDF-Gespräch:
"Ich versuche es zu vermeiden, im Umfeld dieser Organtransplantation von Liebe zu reden. Weil diejenigen, die immer fragen, ist das nicht ein großartiges Geschenk, dann sage ich immer: Nein, das ist weder heldenhaft noch ein Geschenk an meine Frau, sondern wenn überhaupt, dann ist es ein Geschenk an uns beide, die gemeinsame Zeit miteinander zu haben."
Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender auf dem Weg zur St.-Hedwigs-Kathedrale in Berlin; Aufnahme vom 12. Februar 2017
Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender auf dem Weg zur St.-Hedwigs-Kathedrale in Berlin; Aufnahme vom 12. Februar 2017© dpa
Noch ist die First Lady nur selten aus dem Schatten ihres Mannes getreten. Die 55-jährige ist Verwaltungsrichterin in Berlin und hat durchblicken lassen, dass sie ihren Beruf zumindest zeitweise weiter ausüben will. Denkbar, dass sie sich in der neuen Rolle für die Gleichstellung von Mann und Frau stark macht, so wie sie es in der Vergangenheit hin und wieder getan hat.
"Ich finde es ganz wichtig, diese Gleichstellung zu fördern. Das ist ein ganz wichtiger Bestandteil von sozialdemokratischer Politik, dass man natürlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit durchsetzt, das betrifft auch viele Frauen, die Kinder allein großziehen."
Sollte sich Elke Büdenbender entschließen, nicht ausschließlich die Frau im Bellevue zu sein, dürfte die gemeinsame Zeit mit ihrem Mann weiter sehr knapp sein. Aber das haben sie und die inzwischen 20-jährige Tochter Merit in den vergangenen vier Jahren schon reichlich erfahren dürfen. Für Frank-Walter Steinmeier die vermutlich prägendste Zeit seines Lebens..
"Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 3, Bekanntgabe der Bildung der Bundesregierung."
Am 17. Dezember 2013 beginnt seine zweite Amtszeit als Außenminister. Bundestagspräsident Norbert Lammert hat gerade Sigmar Gabriel als Vizekanzler vereidigt und den Eid vorgesprochen, danach ist Frank Walter Steinmeier an der Reihe:
"Wir tragen den jetzt nicht jedes Mal vor."
"Wollen Sie nicht nochmal vortragen? Herr Bundespräsident, ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe."
Steinmeier II, so werden die zurückliegenden Jahre im Rückblick oft genannt. Nach der Vereidigung geht es ins Auswärtige Amt, und Guido Westerwelle muss das Büro, dass er 2009 von Steinmeier übernommen hatte, nun wieder an ihn übergeben. Steinmeier erinnert sich:
"Unser Blick fiel auf die vielen zeitgenössischen Kunstwerke, die er privat gesammelt hatte und auf die er zu Recht stolz war. Und da sagte er, meinen Kunstkram, den nehme ich mit, dann passt auch ihre Willy-Brandt-Statue wieder hin."
Zwei Jahre später muss sich Steinmeier als Außenminister für immer von Guido Westerwelle verabschieden. Die letzte Trauerfeier im Auswärtigen Amt liegt, nach dem Tod von Willy Brandt, lange zurück. Steinmeier, Jahrgang 56, über seinen Amtsvorgänger, Jahrgang 61:
"Viel zu früh ist er gestorben, das ist traurig, das ist ungerecht, das ist für viele von uns immer noch unbegreiflich. Doch wir, die wir weiterleben, werden sein allzu kurzes Leben in ehrendem Angedenken behalten. Danke, lieber Guido Westerwelle, sage ich im Namen aller Angehörigen dieses Auswärtigen Amtes und farewell."

Frank Walter Steinmeier kann ohne jeden Zweifel staatstragend wirken

Die passende Tonlage finden, das richtige Wort zu richtigen Zeit, Empathie zeigen, Trost spenden, diese Qualitäten gehören zu den unverzichtbaren Anforderungen an den ersten Mann im Staat. Die Richtlinien der inneren und äußeren Politik bestimmen andere, der Bundespräsident wirkt vor allem durch seine Haltung und seine Rede. Joachim Gauck kamen seine menschliche Seite, seine häufig pastoral wirkende Ansprache zu gute. Frank Walter Steinmeier kann ohne jeden Zweifel staatstragend wirken. Seit Jahren wird gefrotzelt, er sei als Diplomat auf die Welt gekommen. Aber er hat in den vergangenen Amtsjahren auch andere Qualitäten gezeigt, die wichtig sind. Sie sind nicht immer öffentlich geworden. Steinmeier kann zuhören. Im Gespräch mit Migranten in Niger etwa stellt er ausschließlich kurze Fragen, über eine Stunde hört er den von Gewalt und Ausbeutung geprägten Erfahrungen der Flüchtlinge zu. Kein Kommentar, keine Antworten, kein Ratschlag. Steinmeier hört zu und sammelt Eindrücke, nicht mehr und nicht weniger. Gelassen wirkt er danach allenfalls nach außen. Sein häufig fast stoischer Gleichmut verlässt ihn öffentlich nur selten. Dass er auch anders kann, zeigt sich im Europawahlkampf 2014. Auf dem Alexanderplatz in Berlin wird er von Buh-Rufen und Trillerpfeifen begleitet. Einige im Publikum skandieren: "Kriegstreiber". Steinmeier platzt der Kragen.
"Ihr solltet euch überlegen, wer hier die Kriegstreiber sind. Wer eine ganze Gesellschaft als Faschisten bezeichnet, der treibt den Krieg, der treibt den Konflikt. Ihr habt kein Recht…"
Und selbst in diesem Moment, in dem Emotionen zählen, in dem Wut ausbricht, geht es ihm um den Begriff Differenzierung:
"Weil wir den Frieden wollen, dürfen wir es euch nicht zu einfach machen. Die Welt besteht nicht auf der einen Seite aus Friedensengeln und auf der anderen Seite aus Bösewichten. Die Welt ist leider komplizierter. Und Gott sei Dank gibt es einige Menschen, die sich dieser Kompliziertheit widmen und Wege aus der Krise in der Ukraine suchen, meine Damen und Herren."
Im öffentlichen Ansehen hat ihm dieser Ausbruch keinesfalls geschadet. Im Gegenteil. Steinmeier ist seit langem der beliebteste Politiker im Land, weit vor einer Angela Merkel, weit auch vor einem Joachim Gauck. Politisch ist Steinmeier II ein Parforce-Ritt durch die Krisen der Welt. Nicht alle sind begeistert, dass Steinmeier erneut in dieses Amt kommt. Jörg Lau schreibt als Korrespondent der ZEIT kurz nach der Bundestagswahl und vor der Regierungsbildung: "Er ist einer der besten Politiker Deutschlands. Er kann Fraktionschef, Arbeits- oder Finanzminister sein. Außenminister besser nicht." Lau begründet das mit der Grundhaltung Steinmeiers: dem unbedingten Plädoyer für Dialog. Er schaut zurück auf Steinmeier I:
"Da finde ich in den beiden wichtigsten Themen, die er bearbeitet hat in seiner ersten Amtszeit, Russland und Syrien, zwei Länder, die uns natürlich auch jetzt wieder beschäftigen, da ist er gescheitert, dass sich in beiden Fällen Fehleinschätzungen darüber dann festgesetzt haben, was diese Regime sind, was ihre Ziele sind und in wie weit sie überhaupt in der Lage wären, sich konstruktiv zu verhalten."
Steinmeier selbst kommt in seiner zweiten Antrittsrede im Dezember 2013 auf seine Russland-Politik zu sprechen.
"Wir haben vor Jahren den Weg bereitet für eine Modernisierungspartnerschaft, ja, aber glauben sie nicht, dass ich das Idealistische verfolge. Ich hab das natürlich auch eher mit Nüchternheit und ohne Verklärung zu verfolgen versucht, und ich sehe, dass das, was notwendig gewesen wäre, Investitionen von beiden Seiten, in diese Partnerschaft jedenfalls nicht in der notwendigen Art und Weise stattgefunden hat."
Jörg Lau von der ZEIT, bleibt dabei:
"Er hat viel zu lange, als Putin schon lange eine ganz andere Politik verfolgt hat, als Gegner des Westens, daran festgehalten, dass diese Partnerschaft schon irgendwie klappen werde, wenn man einfach das Angebot verbessert. Und in dem Sinne, würde ich klar sagen, war es naiv und war es höchste Zeit, dass er sich selber korrigiert hat."
Frank-Walter Steinmeier, SPD,  Ende November 2016 als Bundesaußenminister in Mink
Frank-Walter Steinmeier, SPD, Ende November 2016 als Bundesaußenminister in Mink© picture alliance / dpa / Sebastian Gollnow
Die Eskalation auf dem Maidan in Kiew, die russische Annexion der Krim und der nachfolgende Krieg um die Ostukraine verändern die Koordinaten für Steinmeier II grundlegend. Er selbst spricht nun von totgeglaubten Geistern des Kalten Kriegs, die auferstanden seien. Steinmeier verhandelt in Kiew, als wenige Meter entfernt tödliche Schüsse auf dem Maidan fallen. Diese Stunden gehören wohl zu den dramatischsten in seinem bisherigen politischen Leben. In seinem Buch Flugschreiber erinnert er sich daran so:
"Meine Mitarbeiter hatten keinen Zugang zum Sitzungsraum, nur ein kleinster Kreis von Verhandelnden wurde hineingelassen. Die meisten meiner Mitreisenden mussten in einer zugigen eiskalten Vorhalle warten. Ich hielt SMS Kontakt mit ihnen, und von ihrer Stellung aus versuchten sie, jeden Anhaltspunkt für mögliche Lösungen festzuhalten und auszuformulieren. Die Vorhalle war eine Art Rückzugsraum für die draußen kämpfenden Soldaten und Polizisten. Männer mit Schmauchspuren im Gesicht und Gewehren im Anschlag gingen ein und aus, völlig entkräftet sahen sie unter ihren Helmen aus."
Das Ringen um eine politische Lösung für den Osten der Ukraine zieht sich wie eine rote Schnur durch die zurückliegenden Amtsjahre:
"Ja, guten Morgen, in wenigen Minuten fliegen wir nach Minsk, um uns ein weiteres Mal mit den Außenministern der Ukraine, Russlands und Frankreichs zu treffen. Natürlich geht es um die Lage in der Ostukraine…"
So oder ähnlich beginnen Dutzende von Reisen nach Minsk, nach Kiew, nach Moskau oder nach Paris. Die Umstände sind fast immer gleich. Rund um Donezk und Lugansk droht die Eskalation, eine Waffenruhe wird gesucht oder ist brüchig, Fortschritte kommen im Schneckentempo daher, die Rückschläge dagegen kommen schnell, unvermittelt und deutlich. Der politische Ansatz, für den Steinmeier quasi idealtypisch auch in dieser Frage steht lautet: Dranbleiben! Dialog suchen, reden, reden, reden und den Gesprächsfaden bloß nicht abreißen lassen. Denjenigen, die diesen Ansatz als substanzlos, vergeblich oder gar kontraproduktiv kritisieren, hält er Ende 2016 bei einer Veranstaltung der Körber Stiftung entgegen:
"Ich glaube, wir müssen immer wieder richtig einschätzen und wissen, dass das Minsker Abkommen nicht die Lösung des Konfliktes war, aber das dieses Minsker Abkommen immerhin ein containment des Konflikts mit sich gebracht hat und den Konflikt nicht zu einem Flächenbrand über die ganze Ostukraine hat werden lassen und damit auch verhindert hat, dass es einen Großkonflikt zwischen Ost und West, mitten in Europa, weit über die Ukraine hinaus gab."

Beispiele einer notwendigen Sisyphos-Arbeit

Das endlose Bemühen um eine politische Lösung für die Ukraine und für Syrien, aus Sicht Steinmeiers sind es Beispiele einer notwendigen Sisyphos-Arbeit. Häufig zitiert er das Abkommen mit dem Iran und den Friedensvertrag in Kolumbien als Beweis dafür, dass sich diese Haltung lohnt. Ständiger Dialog auch mit schwierigen Partnern. Kritiker verweisen bei diesem Markenzeichen Steinmeiers auf den Preis, der oftmals dafür zu zahlen ist: Auf den Zwang allzu großer diplomatischer Geschmeidigkeit. Wenn er will, kann er Sätze drechseln, die keinem wehtun, die aber gleichzeitig verstellen, was er wirklich sagen will. Hans-Christian Ströbele von den Grünen hat Frank Walter Steinmeier über Jahrzehnte beobachtet. Mit 77 Jahren tritt er bei den Bundestagswahlen nicht noch einmal an. Seine Erwartung an den neuen Bundespräsidenten:
"Ich glaube, er müsste authentisch werden, auch in seinem Reden. Da sollte er möglichst das sagen, was er wirklich meint und zwar so, dass sich das nicht hinter allgemeinen Formeln, die alle benutzen, versteckt. Das nehme ich der Politik insgesamt übel, dass doch sehr viele ihre Sprache und ihre Ausdrucksweise nicht mehr daran orientieren, wie sage ich Klarheit und Wahrheit, sondern wie kann ich es so unterbringen, das ich nirgendwo anecke."
An Gelegenheiten für klare Sprache wird es nicht mangeln. "Die Welt ist aus den Fugen", dieser Satz von Steinmeier gilt auch nach der heutigen Wahl. In seiner letzten Rede im Bundestag hat er erkennen lassen, worauf es ihm besonders ankommt: Die Verteidigung der gefährdeten pluralistischen Demokratie und ein besonderes Augenmerk auf die junge Generation, die Grundwerte wie Toleranz und politische Teilhabe auf Dauer mit Leben füllen muss, wenn diese Werte Bestand haben sollen. Als Steinmeier 2015 vor Studenten der FU Berlin spricht, klingt das schon deutlich an, mehr deutsche Verantwortung in der Welt, das ist das Thema:
"Viele da draußen in der Welt erwarten das von uns, sie trauen uns Deutschen zu, gute Nachbarn zu sein, und sie hoffen darauf, dass wir uns, und demnächst sie sich, engagieren für dieses Netz aus Nachbarschaften, in dem wir leben und hoffentlich friedlich weiterleben werden."
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