Von Burkhard Müller-Ullrich

Die Feuilletons würdigten den verstorbenen Schauspieler Walter Schmidinger – die "Zeit" bescheinigte ihm posthum eine "Mimik wie eine Geisterbahn". "Süddeutsche", "FAZ" und "Welt" verrissen einhellig die Gala zur Fernsehpreisverleihung. Und in der "TAZ" wurde debattiert, ob man dunkelhäutige Menschen nicht doch lieber als "schwarz" denn als "farbig" bezeichnen sollte.
Es ist nicht wahr, dass die Nachwelt dem Mimen keine Kränze flicht, jedenfalls tut sie es kurze Zeit, in Form von Feuilleton-Nachrufen. Als Otto Sander vor einer Woche zu Grabe getragen und seine Kunst nochmal in zahllosen Artikeln ausgebreitet wurde, war auch Walter Schmidinger schon tot, und die neue Woche begann mit Nachrufen auf ihn.

"Er war der näselnde Koloss, die Schöngeist-Mimose des westdeutschen Nachkriegstheaters. Ein Akteur, der aus nichts als Zwischentönen zu bestehen schien",

stand in der WELT, und der TAGESSPIEGEL schrieb:

"Auch Walter Schmidinger war, wie Otto Sander zumal, einer von denen, die das Wort vorausschicken, die Sprache formen - was ist ein Dichter, was ist Dramatik, wenn nicht ein Schauspieler sie immer aufs Neue erschafft?"

Prägnanter und sprachlich weitaus eleganter charakterisierte ihn Michael Skasa in der ZEIT:

"Dieser wundersame Theatermensch litt, was jeder wusste, unter manischen Depressionen, brach zusammen, fuhr aus der Haut, zitterte hocherregt und tief verletzt, ein aufgestörter Geist, rollengierig und zerrissen von Ängsten - und so war es stets ein Drahtseilakt, wenn er auftrat, vibrierend bis in die Stimmbänder hinein, mit schleudernden Schlaksbewegungen und einer Mimik wie eine Geisterbahn."

Den kürzesten und schönsten Abschiedssatz formulierte Gerhard Stadelmeier in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN über Schmidinger:

"Auch von eher mittelmäßigen oder flauen Inszenierungen bleibt er: eine Erinnerung."

Ganz schnell aus der Erinnerung löschen möchten alle, die dabeigewesen sind oder die Übertragung angesehen haben, die Vergabe des Deutschen Fernsehpreises, jener einst von Marcel Reich-Ranicki durch polternde Verweigerung kurzzeitig nobilitierten Oberpeinlichkeitsveranstaltung, die sich nach einhelligem Zeugnis aller Berichterstatter dieses Jahr an Oberpeinlichkeit noch übertraf.

"Niemals in der an Tiefpunkten durchaus nicht armen Geschichte des Viersenderpreises wurde eine Gala derart lieblos heruntergerattert. Niemals vorher gab es solch eine uninspirierte Dramaturgie, und niemals vorher gab es einen wie Oliver Pocher. Der stand offiziell als Moderator im Programm, sah aber offenbar seine Auftritte an der Seite einer dicken Komikerin als konsequente Fortsetzung seiner vorangegangenen Tätigkeit bei Promi Big Brother",

schrieb Hans Hoff in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, und Michael Hanfeld sekundierte in der FAZ:

"Da reden die Laudatoren von Hingabe, Kreativität und Besessenheit, doch es läuft ab wie eine Lesestunde im Katasteramt."

Die Zeitungskritiker können natürlich höhnen, wie sie wollen, die grundlegende Frage lautet doch: Warum ist das deutsche Fernsehen so debil? Gewiß, verantwortlich sind dessen Macher, aber Iris Alanyali gab in der WELT noch einen wertvollen Hinweis:

"Es wird bei den Klagen über 'die' öffentlich-rechtlichen Fernsehmacher, die sich angeblich nichts trauen, und 'die' Privaten, die sich angeblich zu viel trauen, gern vergessen, das Publikum zu beschimpfen. Es gibt einfach zu viele Leute, die sich jeden Mist ansehen."

Und es gibt, sogar in kulturaffinen Kreisen – zu viele Leute, die jeden Mist nachplappern und nachmachen. Zum Beispiel: die der Political Correctness geschuldeten Verbalverrenkungen, die dazu führen, daß man keine Hautfarben mehr nennen darf und nicht sagen, wie Leute aussehen. Gegen diese begriffliche Heuchelei schrieb Arno Frank in der TAGESZEITUNG an:

"Wer glaubt, durch die beflissene Behandlung symptomatischer Sprache ließe sich die Krankheit des Rassismus beheben, erliegt infantiler Sprachmagie. Was ich nicht nenne, ist auch nicht da."

Der Autor zeigte auch die Lächerlichkeit der sich immer weiter überbietenden Verbotspolitik. Von "Schwarzen" darf man schon seit langem nicht mehr sprechen, es muß "Farbige" heißen. Aber "farbig" im Sinne von "gefärbt" implizit ja eine weiße Norm, von der sozusagen abgewichen wird. Also verlangen die Korrektesten der Korrekten, daß man doch "Schwarze" sagt. Dazu Arno Frank:

"Wenn sprachgesetzliche Novellen sich alle fünf Minuten selbst aktualisieren, sind irgendwann nur noch die ehrenamtlichen Führungsoffiziere der Sprachpolizei auf dem neuesten Stand. Welches Wort ist gerade in Quarantäne? Welches hat Freigang? Das ist Herrschaftswissen, und entsprechend schnöselig klingen die Zurechtweisungen."

Dass ein solcher Artikel in der TAZ erscheinen konnte, zeigt, was für ein Wunderblatt sie manchmal ist. Denn schnöselige Zurechtweisungen der beschriebenen Art haben gerade hier ihre Heimat.

"Die Welt ist groß und Rettung lauert überall", heißt ein Roman des vielreisenden Schriftstellers Ilja Trojanow. Ein Vorfall auf einem brasilianischen Flughafen schien jedoch das Gegenteil zu beweisen: Die Welt ist winzig, denn das gesamte deutsche Feuilleton echauffierte sich binnen weniger Stunden, und nicht Rettung, sondern der böse amerikanische Geheimdienst scheint überall zu lauern. Trojanow wollte von Salvador de Bahia in die USA fliegen, doch am Check-in-Schalter wurde ihm die Einreise verwehrt. Umgehend schickte er einen Text an die FAZ, die ihn noch umgehender druckte:

"Einer der wichtigsten und bedrohlichsten Aspekte des NSA-Skandals ist die geheimnistuerische Essenz des Systems. Transparenz ist offensichtlich der größte Feind jener, die vorgeblich die Freiheit verteidigen. Schon vergangenes Jahr hatte das amerikanische Konsulat in München meinen Antrag auf ein Arbeitsvisum zum Zwecke einer Gastprofessur an der Washington University in St. Louis zuerst negativ beschieden."

Offenbar wollte Trojanow diesmal mit dem sogenannten ESTA-Verfahren, also ohne Visum einreisen. Das geht aber nur, wenn einem nicht früher mal ein Visum verweigert wurde. Dann muss man wieder ein Visum beantragen – und das hatte er nicht getan, weil er, wie er schrieb, am Schalter mit seinem ESTA-Papier gewedelt hat. Ein einfacher Fall aus der Verwaltungspraxis, der unter engagierten Feuilletonisten für ein bisschen viel Freiheitsgedöns sorgte.