Von Burkhard Müller-Ullrich

Die "Taz" und die "Süddeutsche Zeitung" loben die Leistung von Georg Büchner anlässlich dessen 200. Geburtstags. Die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau" beschäftigen sich mit der Völkerschlacht von Leipzig. Und der "Tagesspiegel" feiert die Einweihung der Berliner Philharmonie vor 50 Jahren.
Der 200. Geburtstag Georg Büchners wurde diese Woche von allen Zeitungen gefeiert, und - um gleich Jürgen Bergers Artikel in der TAGESZEITUNG zu zitieren:

"Man kann sich schon fragen, warum um alles in der Welt ein nach heutigem Verständnis noch 'naseweiser' Medizinstudent über ein derart ausgebildetes Rezeptions- und Fantasiesensorium verfügen konnte, dass er in seine Texte alles packte, angefangen vom Revolutionsdiskurs über die Naturberauschung bis hin zu psychoemotionalen Abgründen und immer wieder auch Szenarien des Begehrens."

Natürlich kann kein Feuilletonist diese Frage beantworten. Und selbst Autoren, die sonst den Gebrauch des Wortes "Genie" eher meiden, machen bei Büchner, dem Ultrafrühreifen und mit 23 Gestorbenen, eine Ausnahme. Lothar Müller schrieb in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG:

"Muss man, um Büchners literarischem Genie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, das Misstrauen gegen alle Ordnungsmächte und die revolutionären Energien, die bei ihm auf Schritt und Tritt spürbar sind, bagatellisieren und den 'Hessischen Landboten' vom Restwerk abspalten? Ertragreicher ist es, das Sprachereignis, dem jeder Büchner-Leser staunend begegnet, insgesamt als revolutionär aufzufassen, auch dort, wo es den Fatalismus, die Desillusionierung, den Selbstverlust in sich aufnimmt."

Tja, revolutionär ist eben revolutionär – ob auf sprachlichem Gebiet oder mit Blut und Eisen. Wie schön, dass es Begriffe gibt, die alles decken.

Als Büchner in dem hessischen Dorf Goddelau zu Welt kam, tobte vor den Toren von Leipzig drei Tage lang der Kampf der verbündeten russischen, preußischen, österreichischen und schwedischen Truppen gegen Napoleons Grande Armee. Also noch ein 200-jähriges Jubiläum, das die Feuilletons beschäftigte, und zwar schon wegen des meist falsch verstandenen Begriffs Völkerschlacht, denn der bedeutete gerade nicht Völker im Sinne von Nationen, sondern bloß Heervölker. Trotzdem bildete der Ausdruck Völkerschlacht die Grundlage des wirkmächtigen Mythos vom nationalen Befreiungskampf der europäischen Völker. Viele rümpfen über solchen Mythenbildungen die Nase, Herfried Münkler tut das nicht. Im Interview mit der FRANKFURTER RUNDSCHAU und der BERLINER ZEITUNG erklärte er:

"Wo es keinen Mythos mehr gibt, gibt es nur noch Bürokratie und Geschäft. Die fehlende mythische Integration führt dazu, dass die Cent im Portemonnaie gezählt werden. Von hier aus fällt ein anderes Licht auf die alten politischen Mythen. Sie waren nicht nur Mittel zur Befestigung des jeweiligen Status quo, sie konnten ihn auch infrage stellen. Große Reformprojekte bedürfen einer motivierenden Erzählung. Man wird sie nicht schaffen, wenn man nur auf Sicht fährt."

Münkler sagt dies mit Hinblick auf Europa, dem eine große, sinnstiftende Erzählung fehlt, welche zum Beispiel begründen würde, warum der Norden dem Süden helfen soll. Doch ob geschichtliches Gedenken wirklich sinnstiftend ist, kann auch bezweifelt werden. Alan Posener machte sich in der WELT über den exzessiven Erinnerungsjournalismus unserer Tage lustig:

"Hat man nicht eben erst des Mauerfalls vor 20 Jahren gedacht? Nächstes Jahr sind es 25. Dieses Jahr war Völkerschlacht, nächstes Jahr kommt Waterloo dran. Eben erst war JFK in Berlin; nächsten Monat wird er in Dallas erschossen. Und von 1914 haben wir noch gar nicht gesprochen. Benjamins Engel sieht in der Vergangenheit die Ruinen sich auftürmen. Drehte er sich um, würde er erschrocken feststellen: Die Zukunft müllt sich mit Geschichte zu."

Darf man jetzt trotzdem noch erwähnen, dass in dieser Woche noch ein weiteres Kulturjubiläum gefeiert wurde, und zwar die Einweihung der von dem Architekten Hans Scharoun geschaffenen Berliner Philharmonie vor 50 Jahren? Sie sei ...

"... das wirklich einzige Bauwerk in Berlin auf Weltniveau ..."

... befand die TAZ und der TAGESSPIEGEL erklärte:

"Mit diesem Gebäude wirkte Scharoun stilbildend. In der Kölner Philharmonie oder dem Leipziger Gewandhaus, in der Tokioter Suntory Hall, dem Musikkitalo Helsinki oder der Disney Hall in Los Angeles wurde die Form aufgegriffen."

Denn – so die BERLINER ZEITUNG:

"Mit den an Weinberge erinnernden Publikumsterrassen vermählte Scharoun Landschaft und Innenarchitektur wie keiner vor ihm."

Der Architekt Stephan Braunfels, der unter anderem die Pinakothek der Moderne in München entwarf, zeigte sich in einem Artikel für die WELT ebenfalls als Berliner Philharmonie-Fan und setzte eine hübsche Geld-Pointe:

"Die Philharmonie Scharouns hat vor 50 Jahren gerade mal (umgerechnet) 9,5 Millionen Euro gekostet - ein Prozent der erwarteten Baukosten der Elbphilharmonie. Auch unter Einbeziehung der Inflation seit 1963 war der Bau Scharouns der wohl mit weitem Abstand billigste Konzertsaal der Welt - der preiswerteste sowieso."

Baukosten an anderer Stelle waren ebenfalls ein Großthema der Woche, und zwar Baukosten in Höhe von drei Prozent der Elbphilharmonie. Der Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst hat an seinem Sitz Neu- und Umbauten für mehr als 30 Millionen Euro vornehmen lassen und wurde dafür von vielen Medien der Prunksucht geziehen.

"Der Zorn trifft nun auch die Architektur. Zu Unrecht, denn das Ensemble des Architekten Michael Frielinghaus ist von hoher Qualität ..."

... schrieb der Architekturkritiker Dieter Bartetzko in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, der einzige Journalist, der das Objekt des angeblichen Skandals überhaupt besichtigte, statt bloß die Skandalisierung zu betreiben. Herauskam eine einzige Hymne auf den Bau des neuen Diözesanzentrums.

Die "Alte Vikarie" ...

"... eines der wertvollsten Fachwerkhäuser der Limburger Altstadt, ..."

... das über kurz oder lang eingestürzt wäre, wurde durch die Sanierung ...

"... in letzter Sekunde ..."

... gerettet:

"Ein Musterfall nachhaltiger Denkmalspflege."

Doch Bartetzkos Einwurf änderte kein bißchen daran, dass viele Journalisten in Limburg eine gute Gelegenheit fanden, mal wieder ihren Haß auf die katholische Kirche zu artikulieren.