Wie Covid-19 unsere Sprache verändert
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In einer Videodialog-Reihe der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung diskutieren Schriftstellerinnen und Wissenschaftler über den durch Corona veränderten Wortschatz. Frei assoziierend fördern sie Erhellendes zu Tage.
"Das sind ja relativ lässliche Sünder. Das sind vergleichsweise harmlose Sünden, die aber, glaube ich, mit einer Lust an der Provokation zu tun haben."
Über das Wort "Coronasünder" diskutiert die Autorin Felicitas Hoppe mit dem Mittelalterhistoriker Valentin Groebner zum Auftakt der virtuellen Videodialog-Reihe "Coronas Wörter". "Coronasünder" ist für Hoppe ein Wort mit Augenzwinkern. Schließlich rede man ja nicht vom "Coronaverbrecher". Jede Sünde, so Groebner, müsse von der Erbsünde her gedacht werden:
"Der einzige Zeuge bei der Geschichte mit Adam und Eva und dem Apfel ist die Schlange. Das heißt, beim Sünder ist wie beim Verkehrssünder der Polizist, nämlich der Coronapolizist, immer schon mitgedacht. Zack, ist er im Bild. In dieser Doppelung von Schlange und Erzengel. Das ist ja etwas, was der Staat sehr gern ist: einerseits verlockende Schlange und andererseits strafender Erzengel."
Ganz neu im Duden: systemrelevant
"Coronapolizist", "Coronasünder", "Coronaparty" – neue Wörter halten durch die Pandemie Einzug in die deutsche Sprache. Das Adjektiv "systemrelevant", seit Corona plötzlich in aller Munde, stand 2019 noch gar nicht im Duden.
Nun plaudern der Schriftsteller Ingo Schulze und der Sprachwissenschaftler Jürgen Schiewe über dieses Wort. Schiewe wundert sich darüber, wer sich alles für "systemrelevant" hält:
"Was ist heutzutage nicht mehr systemrelevant? Ich habe vorhin nachgelesen: Sogar die Jäger sind der Meinung, dass die Jagd systemrelevant sei, weil damit die Bevölkerung mit Wildfleisch versorgt wird. Also da, finde ich, existiert eine totale Verwässerung des Begriffs."
Das Nachdenken über "Systemrelevanz" hat Ingo Schulze zufolge dazu geführt, dass oft vergessene Menschen plötzlich sichtbar sind:
"Die, die schwere Arbeit machen, die Drecksarbeit machen und die nicht einfach ins Homeoffice gehen können und dadurch natürlich auch sehr viel gefährlicher leben, also öffentlichen Nahverkehr nutzen müssen, weil sie in den Fabriken stehen, wie in den Schlachthöfen."
Fachbegriffe werden allgemeinsprachlich
Die Diskussionspaare durften sich jeweils ein Wort aus dem Covid-19-Pandemie-Glossar des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache aussuchen. Fachbegriffe wie "Triage" sind durch Corona allgemeinsprachlich geworden. Andere Wörter haben einen Bedeutungswandel erfahren. In weiteren Fällen ist eine schon existierende, eher seltene Bedeutung populär geworden, wie beim Wort "Gesichtsmaske".
Über das machen sich der Rechtshistoriker Michael Stolleis und die Autorin Ursula Krechel in der dritten Folge Gedanken. Ursula Krechel: "Na ja, wenn man mich Weihnachten noch gefragt hätte: 'Was ist eine Gesichtsmaske?', dann wäre ich ins kosmetische Feld gegangen. Dann wäre ich erst mal zur Reinigungsmaske, zur Kräutermaske, zur Feuchtigkeitsmaske gegangen."
Anstatt zum hygienischen Mund-Nasen-Schutz.
Die Maske im Wandel der Zeit
Schon früher, so Michael Stolleis, gab es einen, wenn auch anders gearteten Maskenzwang: "Wenn man bedenkt, dass bei den großen Hofbällen Maskenbälle gemacht wurden, bei denen der Souverän, der Fürst, strengstens angeordnet hat: 'Niemand darf seine Maske absetzen!' Bis ein bestimmtes Zeichen gegeben wird. Und dann fallen die Masken."
Die ersten Folgen von "Coronas Wörter", der Reihe der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, sind sehr gelungen. Das Projekt regt uns dazu an, ausgehend von dem Sprachwandel, den die Pandemie verursacht hat, nicht nur über Sprache, sondern auch über uns selbst nachzudenken.
Ein Gedanke stößt den nächsten an. So auch, als der Historiker Stolleis zu Beginn einen Mund-Nasen-Schutz trägt, ihn mit den Worten "ich nehme die Maske ab" entfernt und Ursula Krechel den Ball aufnimmt: "'Masken ab' – da fällt mir sofort ein: Büchner, Dantons Tod: 'Reißt ihnen die Masken ab! Da werden gleich die Gesichter mitgehen!' Unsere Gesichter gehen nicht mit."
Ingo Schulze sitzt im Grünen
Alle Akademie-Mitglieder, die die Video-Paare bilden, kennen sich gut oder sind miteinander befreundet. Daher das offene und heitere Gesprächsklima.
Als der Sprachwissenschaftler Jürgen Schiewe, zugeschaltet aus seinem Arbeitszimmer, sich über die angebliche Systemrelevanz von Jägern lustig macht, reagiert der Autor Ingo Schulze, der unter einem Sonnenschirm vor einem Waldstück sitzt, für Schiewe überraschend:
"Na, du siehst: Ich sitze hier im Grünen. Und natürlich: Wer im Grünen sitzt, sieht das mit den Jägern ganz anders, weil: Hier muss geschossen werden, sonst fressen die uns hier alles kaputt."