Von den Barrikaden in die Hitparaden
Unter dem Titel "König von Deutschland" erschien zwei Jahre vor seinem Tod 1996 die Biografie von Rio Reiser. Mit dem gleichnamigen Song schaffte es der ehemalige Ton-Steine-Scherben-Mann 1986 sogar in die Hitparaden. Die Autobiografie liegt nun auch als Hörbuch vor.
Ja, auch er, der König, auch der König wurde einmal geboren.
Musik: "... ja, das alles und noch viel mehr, würd´ ich machen, wenn ich König von Deutschland wär."
Damals allerdings hieß er noch Ralph Christian Möbius.
"An meinen Geburtstag kann ich mich noch ganz genau erinnern. Es war ein kalter, klarer Wintertag gewesen. Im Haus Brückenallee 17 - 1. Stock - herrschte große Aufregung. Tante Lolo hantierte in der Küche herum, nervös eine Zigarette nach der nächsten rauchend. Jetzt brühte sie Bohnenkaffee. Oma Braun schmierte Schmalzstullen fürs Wohnzimmer. Dann ging alles sehr schnell, und ich war da. Zwar 25 Tage zu spät, aber ich war da."
Ralph Christian Möbius, der sich nach dem Bildungsroman Anton Reiser von Karl Phillip Moritz in Rio Reiser verwandelte. Multitalent, Musiker und Stückeschreiber, bekennender Homosexueller und als Sänger von "Ton Steine Scherben" Identifikationsfigur der linken Szene in den Nachwirren der Studentenbewegung – solange das gut ging, mit der Identifikation. Und Rio Reiser – nicht zu überhören - schrieb wunderschöne Balladen.
Carsten Andörfer, Schauspieler und Musiker, mit seiner Version von Rio Reisers "Der Junge am Fluss". Im Hörbuch werden die alten Reiser- bzw. Ton-Steine-Scherben-Songs, die Carsten Andörfer mit seiner Band Flut singt, zu Zäsuren der Autobiografie, die Mitte der 1990er-Jahre erschienen ist. Carsten Andörfer, Musiker und Schauspieler, wurde 1963 in Potsdam geboren. Studentenbewegung, Hausbesetzerszene, K-Gruppen-Zeit, das Kreuzberg der 1970er-Jahre sind ihm also fremd. Seine Beziehung zu den alten Agit-Prop-Songs der Ton Steine Scherben?
Andörfer: "Vor zwei drei Jahren habe ich nur Sachen aus seiner Solokarriere gesungen, weil ich gesagt habe, ich kann diese anderen Texte, also diese berühmten Klassiker 'Macht kaputt, was euch kaputt macht' ... diese Songs kann ich gar nicht singen, ich steh nicht vor diesen Barrikaden, ich habe das nicht gelebt, das wäre anmaßend. Jetzt, in der Beschäftigung mit dem Buch, mit dem Hörbuch war das ja eingebunden in diesen Kontext, da kann ich sagen, okay, das darf ich jetzt auch sagen, das glaubt man mir."
Das ist allerdings der einzige Wermutstropfen an diesem schönen Hörbuch: Während nämlich die Balladen aus Rio Reisers Solokarriere überzeugende Interpretationen der alten Songs bieten, wirken – trotz des Eingebundenseins in die gelesene Autobiographie, von der Carsten Andörfer spricht –, wirken die Politsongs von Ton Steine Scherben wie das erwähnte "Macht kaputt, was euch kaputt macht" fast unfreiwillig komisch in der Verpackung mit dem Streichquartett.
Das Agitatorische – bei Ton Steine Scherben authentisch aus dem Milieu entstanden, aus den bewegten Politzeiten der 1970er- und 80er-Jahren -, wird in der Interpretation von Flut und Carsten Andörfer zur Geste. Theatralisch, kitschig. Der falsche Ton sozusagen. Da hilft alle Einbindung nicht. Als ergänzendes historisches Zitat wäre ein Originalsong der Scherben im Hörbuch überzeugender gewesen. Was hier mal kurz nachgeholt wird. Langes Intro, und dann ...
Trotzdem bieten die vier CDs des Hörbuchs mit der ruppig, kantig, dann wieder zärtlich, in leichtem Berlinerisch, vorgelesenen Autobiografie mit den Reiser-Songs zusammen eine spannende Zeitreise. Und das Porträt eines eindrucksvollen Künstlers, egal, ob dieser Rio Reiser als Solokünstler oder als Frontmann einer Agitprop-Szeneband auftrat.
"Am ersten Mai verfrachteten Ton Steine Scherben ihre Verstärker auf einen Lkw und beschallten den Demonstrationszug mit ihren Kampfliedern. Danach ging es auf den Mariannen-Platz. Dort hatten Jugendzentrum, Basisgruppe und Stadtteilgruppe Freunde, Sympathisanten und Familien und Angehörige ein Fest angekündigt. Schon nach zwei Stunden gab´s Nachschubprobleme bei Bier, Teepunsch und Grillwürstchen. Auch auf dem Hanfsektor entstanden Engpässe. Damit hatten wir nebenbei das Stadtteilfest erfunden, das nachher von allen Parteien erfunden wurde."
Immer noch spannend zu hören, wie Rio Reiser die Veränderungen der linken Politszene Ende der 1970er-Jahre beschreibt. Für diese – um es freundlich zu formulieren – ´historische Ausdifferenzierung´ hat Zeitzeuge Rio Reiser, Erfahrungs- und Leidensträger also, wenig freundliche Worte:
"Anfang 1974 drehte sich der Wind. Auf der einen Seite sammelten sich Pharisäer und Schriftgelehrte hinter immer neuen Buchstaben-Kürzeln und –Kombinationen. Eine junge Garde Metaphysiker, die sich in dem Glauben wiegten, Histomat und Diamat, historischer Materialismus und dialektischer Materialismus, seien Lehren, einmal erkannt, die dazu berechtigten, jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur der marxistisch-leninistischen Weltanschauung in den Kram passte. Diese Ansammlung machtgeiler, geschichtsloser Blödmänner schaffte es und schafft es bis heute, Ablasszettel zu verkaufen, obwohl sie doch bloß alle in die Wolle gefärbte Protestanten sind, die Recht haben und auf Deibel komm raus bekommen wollten. Woher kam die Unverschämtheit der Spitzen der Revolution, was unterscheidet diese Type heute von allen den Hohlköpfen der anderen Parteien? Nichts!"
Und die Band Ton Steine Scherben, als Teil der Szene auch immer Projektionsfläche für Revolutionsfantasien, geriet unter Druck, unter "Projektionsdruck".
"Wir kamen uns vor wie eine Musikbox. Die lebende Band der Scherben, die im kleinsten Ort noch eine Revolution anzettelte. Das machte uns kaputt. Wir sahen, wie unser Publikum sich in Zuschauer verwandelte, die zugucken wollten, wie wir ihre miefige Kleinstadt auf Trab bringen. Das hatten wir jedoch nicht zu bieten."
Das Kollektiv Ton Steine Scherben löste sich auf, verkroch sich auf einem nordfriesischen Bauernhof zusammen mit einem Berg von einer halben Million D-Mark Schulden. Die Solokarriere von Rio Reiser und der Hit "König von Deutschland", das war dann vor allem auch eine Geldbeschaffungsmaßnahme. Aber eine sehr erfolgreiche –von der linken Szene allerdings verdammt. (Das ist Geschichte) Die Verdammnis ist historisch bei den Akten. Anderes dagegen, bestimmtes Liedgut, auch das führt Carsten Andörfer in diesem Hörbuch überzeugend vor, das hat Bestand.
Rezensiert von Hartwig Tegeler
Rio Reiser: König von Deutschland
Lesung der Autobiografie durch Carsten Andörfer mit Rio-Reiser-Musik, gespielt von der Gruppe Flut
Möbius Rekords, vier CDs
Musik: "... ja, das alles und noch viel mehr, würd´ ich machen, wenn ich König von Deutschland wär."
Damals allerdings hieß er noch Ralph Christian Möbius.
"An meinen Geburtstag kann ich mich noch ganz genau erinnern. Es war ein kalter, klarer Wintertag gewesen. Im Haus Brückenallee 17 - 1. Stock - herrschte große Aufregung. Tante Lolo hantierte in der Küche herum, nervös eine Zigarette nach der nächsten rauchend. Jetzt brühte sie Bohnenkaffee. Oma Braun schmierte Schmalzstullen fürs Wohnzimmer. Dann ging alles sehr schnell, und ich war da. Zwar 25 Tage zu spät, aber ich war da."
Ralph Christian Möbius, der sich nach dem Bildungsroman Anton Reiser von Karl Phillip Moritz in Rio Reiser verwandelte. Multitalent, Musiker und Stückeschreiber, bekennender Homosexueller und als Sänger von "Ton Steine Scherben" Identifikationsfigur der linken Szene in den Nachwirren der Studentenbewegung – solange das gut ging, mit der Identifikation. Und Rio Reiser – nicht zu überhören - schrieb wunderschöne Balladen.
Carsten Andörfer, Schauspieler und Musiker, mit seiner Version von Rio Reisers "Der Junge am Fluss". Im Hörbuch werden die alten Reiser- bzw. Ton-Steine-Scherben-Songs, die Carsten Andörfer mit seiner Band Flut singt, zu Zäsuren der Autobiografie, die Mitte der 1990er-Jahre erschienen ist. Carsten Andörfer, Musiker und Schauspieler, wurde 1963 in Potsdam geboren. Studentenbewegung, Hausbesetzerszene, K-Gruppen-Zeit, das Kreuzberg der 1970er-Jahre sind ihm also fremd. Seine Beziehung zu den alten Agit-Prop-Songs der Ton Steine Scherben?
Andörfer: "Vor zwei drei Jahren habe ich nur Sachen aus seiner Solokarriere gesungen, weil ich gesagt habe, ich kann diese anderen Texte, also diese berühmten Klassiker 'Macht kaputt, was euch kaputt macht' ... diese Songs kann ich gar nicht singen, ich steh nicht vor diesen Barrikaden, ich habe das nicht gelebt, das wäre anmaßend. Jetzt, in der Beschäftigung mit dem Buch, mit dem Hörbuch war das ja eingebunden in diesen Kontext, da kann ich sagen, okay, das darf ich jetzt auch sagen, das glaubt man mir."
Das ist allerdings der einzige Wermutstropfen an diesem schönen Hörbuch: Während nämlich die Balladen aus Rio Reisers Solokarriere überzeugende Interpretationen der alten Songs bieten, wirken – trotz des Eingebundenseins in die gelesene Autobiographie, von der Carsten Andörfer spricht –, wirken die Politsongs von Ton Steine Scherben wie das erwähnte "Macht kaputt, was euch kaputt macht" fast unfreiwillig komisch in der Verpackung mit dem Streichquartett.
Das Agitatorische – bei Ton Steine Scherben authentisch aus dem Milieu entstanden, aus den bewegten Politzeiten der 1970er- und 80er-Jahren -, wird in der Interpretation von Flut und Carsten Andörfer zur Geste. Theatralisch, kitschig. Der falsche Ton sozusagen. Da hilft alle Einbindung nicht. Als ergänzendes historisches Zitat wäre ein Originalsong der Scherben im Hörbuch überzeugender gewesen. Was hier mal kurz nachgeholt wird. Langes Intro, und dann ...
Trotzdem bieten die vier CDs des Hörbuchs mit der ruppig, kantig, dann wieder zärtlich, in leichtem Berlinerisch, vorgelesenen Autobiografie mit den Reiser-Songs zusammen eine spannende Zeitreise. Und das Porträt eines eindrucksvollen Künstlers, egal, ob dieser Rio Reiser als Solokünstler oder als Frontmann einer Agitprop-Szeneband auftrat.
"Am ersten Mai verfrachteten Ton Steine Scherben ihre Verstärker auf einen Lkw und beschallten den Demonstrationszug mit ihren Kampfliedern. Danach ging es auf den Mariannen-Platz. Dort hatten Jugendzentrum, Basisgruppe und Stadtteilgruppe Freunde, Sympathisanten und Familien und Angehörige ein Fest angekündigt. Schon nach zwei Stunden gab´s Nachschubprobleme bei Bier, Teepunsch und Grillwürstchen. Auch auf dem Hanfsektor entstanden Engpässe. Damit hatten wir nebenbei das Stadtteilfest erfunden, das nachher von allen Parteien erfunden wurde."
Immer noch spannend zu hören, wie Rio Reiser die Veränderungen der linken Politszene Ende der 1970er-Jahre beschreibt. Für diese – um es freundlich zu formulieren – ´historische Ausdifferenzierung´ hat Zeitzeuge Rio Reiser, Erfahrungs- und Leidensträger also, wenig freundliche Worte:
"Anfang 1974 drehte sich der Wind. Auf der einen Seite sammelten sich Pharisäer und Schriftgelehrte hinter immer neuen Buchstaben-Kürzeln und –Kombinationen. Eine junge Garde Metaphysiker, die sich in dem Glauben wiegten, Histomat und Diamat, historischer Materialismus und dialektischer Materialismus, seien Lehren, einmal erkannt, die dazu berechtigten, jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur der marxistisch-leninistischen Weltanschauung in den Kram passte. Diese Ansammlung machtgeiler, geschichtsloser Blödmänner schaffte es und schafft es bis heute, Ablasszettel zu verkaufen, obwohl sie doch bloß alle in die Wolle gefärbte Protestanten sind, die Recht haben und auf Deibel komm raus bekommen wollten. Woher kam die Unverschämtheit der Spitzen der Revolution, was unterscheidet diese Type heute von allen den Hohlköpfen der anderen Parteien? Nichts!"
Und die Band Ton Steine Scherben, als Teil der Szene auch immer Projektionsfläche für Revolutionsfantasien, geriet unter Druck, unter "Projektionsdruck".
"Wir kamen uns vor wie eine Musikbox. Die lebende Band der Scherben, die im kleinsten Ort noch eine Revolution anzettelte. Das machte uns kaputt. Wir sahen, wie unser Publikum sich in Zuschauer verwandelte, die zugucken wollten, wie wir ihre miefige Kleinstadt auf Trab bringen. Das hatten wir jedoch nicht zu bieten."
Das Kollektiv Ton Steine Scherben löste sich auf, verkroch sich auf einem nordfriesischen Bauernhof zusammen mit einem Berg von einer halben Million D-Mark Schulden. Die Solokarriere von Rio Reiser und der Hit "König von Deutschland", das war dann vor allem auch eine Geldbeschaffungsmaßnahme. Aber eine sehr erfolgreiche –von der linken Szene allerdings verdammt. (Das ist Geschichte) Die Verdammnis ist historisch bei den Akten. Anderes dagegen, bestimmtes Liedgut, auch das führt Carsten Andörfer in diesem Hörbuch überzeugend vor, das hat Bestand.
Rezensiert von Hartwig Tegeler
Rio Reiser: König von Deutschland
Lesung der Autobiografie durch Carsten Andörfer mit Rio-Reiser-Musik, gespielt von der Gruppe Flut
Möbius Rekords, vier CDs