Von der "Angststörung" zur neuen Tugend
Parallel zu seinen amüsanten Anekdoten geht Florian Werner philologisch und kulturhistorisch der Frage nach, was "Schüchternheit" sei. Seine charmante Erkundung wirft einen neuen Blick auf negative Begriffe wie Verlegenheit, Scham und Scheu.
Wahre Helden, erklärte James-Bond-Darsteller Daniel Craig Anfang dieses Jahres in einem Interview, seien schüchtern – und unlängst fragte der Spiegel in einer Titelgeschichte nach den "Stärken der Introvertierten". Ob als Makel oder besondere Qualität: Schüchternheit boomt. Und das in einer Gesellschaft, deren Mitglieder in den letzten Jahrzehnten keine Chance zu Tabubruch, Selbstdarstellung und Enthemmung auslassen. Florian Werner, ein promovierter Literaturwissenschaftler und erfolgreicher Autor, der mit Lesungen seiner Sachbücher ganze Theater zu füllen vermag, hat sich des Phänomens nun angenommen: "Schüchtern – Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft" heißt sein neues Buch, eine persönliche, charmant-witzige, gelehrte und dabei doch recht lockere Erkundung des Begriffs und seiner Erscheinungsformen: Richard David Precht und Bastian Sick lassen grüßen.
Werner, ein bekennender Schüchterner, plaudert zuerst aus dem Nähkästchen: dass er als zweiter von eineiigen Zwillingen das Licht der Welt erblickte, gilt ihm als erster Beleg seiner Schüchternheit. Da sein Vater sich nicht gegen freche Kellner durchsetzen kann, erscheint ihm später eine genetische Determination plausibel. Zum Musizieren wählt er sich die Bratsche, "Inbegriff der Schüchternheit, die Demut mit vier Saiten". Als Handballschiedsrichter wird er entlassen, da er sich nie traut, ein Foul zu pfeifen. Seine Ehefrau lernt er nur kennen, weil sie ihn anspricht, Jahre später vor dem Traualtar dann wartet sie geduldig, bis er "nach langer, peinlicher Stille endlich das Jawort hervorstammelte".
Parallel zu den amüsanten, mitunter koketten Anekdoten aus dem eigenen Leben geht der Autor philologisch und kulturhistorisch der Frage nach, was "Schüchternheit" denn nun sei: eine Charakterdisposition und anthropologische Konstante oder situativ, eine von wechselnden sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen abhängige Schamvermeidungsangst? Er beschreibt die Sozialphobie, die in ihrer pathologisierten Form neben Depression und Alkoholismus die dritthäufigste Form psychischer Erkrankung in den westlichen Gesellschaften darstellt. Und verweist darauf, dass es längst eine lukrative "Schüchternheitsindustrie" gibt. Wer früher als introvertiert oder empfindsam galt, ist seit den 1980er-Jahren zunehmend ein Fall für Ärzte und Pharmakologen: Schüchternheit gilt als "Angststörung", deren Behebung der Pharmaindustrie allein in Deutschland einen jährlichen Umsatz von über zweieinhalb Milliarden Euro beschert.
Florian Werner versucht, diesem Trend entgegenzuwirken. Er will seinen Lesern einen neuen Blick auf negativ konnotierten Begriffe wie Verlegenheit, Scham und Scheu ermöglichen – und legt Wert auf ihre Verwandtschaft mit Ehrfurcht, Mäßigung und Anstand. Schüchternheit, so sein Fazit, dient dem Zivilisationsprozess und dem Überleben. In Nigeria zum Beispiel gelte der zweitgeborene Zwilling als der Größere und Klügere – denn er schickt den Kleineren zuerst raus in die Welt, um nachzusehen, was einen dort erwartet.
Besprochen von Carsten Hueck
Florian Werner: Schüchtern. Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft
Nagel & Kimche Verlag, Zürich und München 2012
174 Seiten, 17,90 Euro
Werner, ein bekennender Schüchterner, plaudert zuerst aus dem Nähkästchen: dass er als zweiter von eineiigen Zwillingen das Licht der Welt erblickte, gilt ihm als erster Beleg seiner Schüchternheit. Da sein Vater sich nicht gegen freche Kellner durchsetzen kann, erscheint ihm später eine genetische Determination plausibel. Zum Musizieren wählt er sich die Bratsche, "Inbegriff der Schüchternheit, die Demut mit vier Saiten". Als Handballschiedsrichter wird er entlassen, da er sich nie traut, ein Foul zu pfeifen. Seine Ehefrau lernt er nur kennen, weil sie ihn anspricht, Jahre später vor dem Traualtar dann wartet sie geduldig, bis er "nach langer, peinlicher Stille endlich das Jawort hervorstammelte".
Parallel zu den amüsanten, mitunter koketten Anekdoten aus dem eigenen Leben geht der Autor philologisch und kulturhistorisch der Frage nach, was "Schüchternheit" denn nun sei: eine Charakterdisposition und anthropologische Konstante oder situativ, eine von wechselnden sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen abhängige Schamvermeidungsangst? Er beschreibt die Sozialphobie, die in ihrer pathologisierten Form neben Depression und Alkoholismus die dritthäufigste Form psychischer Erkrankung in den westlichen Gesellschaften darstellt. Und verweist darauf, dass es längst eine lukrative "Schüchternheitsindustrie" gibt. Wer früher als introvertiert oder empfindsam galt, ist seit den 1980er-Jahren zunehmend ein Fall für Ärzte und Pharmakologen: Schüchternheit gilt als "Angststörung", deren Behebung der Pharmaindustrie allein in Deutschland einen jährlichen Umsatz von über zweieinhalb Milliarden Euro beschert.
Florian Werner versucht, diesem Trend entgegenzuwirken. Er will seinen Lesern einen neuen Blick auf negativ konnotierten Begriffe wie Verlegenheit, Scham und Scheu ermöglichen – und legt Wert auf ihre Verwandtschaft mit Ehrfurcht, Mäßigung und Anstand. Schüchternheit, so sein Fazit, dient dem Zivilisationsprozess und dem Überleben. In Nigeria zum Beispiel gelte der zweitgeborene Zwilling als der Größere und Klügere – denn er schickt den Kleineren zuerst raus in die Welt, um nachzusehen, was einen dort erwartet.
Besprochen von Carsten Hueck
Florian Werner: Schüchtern. Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft
Nagel & Kimche Verlag, Zürich und München 2012
174 Seiten, 17,90 Euro