Von der Flaniermeile zum Spekulationsobjekt

Auf der Kastanienallee wächst keine Kastanie mehr

Touristen und Einheimische pilgern im Sommer in den Prater, einem Biergarten in der Kastanienallee im Prenzlauer Berg
Touristen und Einheimische pilgern im Sommer in den Prater, einem Biergarten in der Kastanienallee im Prenzlauer Berg © picture alliance / dpa / Manfred Krause
Von Katja Bigalke |
Die Berliner Kastanienallee war bereits Ende der 1920er Jahre eine Flaniermeile mit Gewerbe, Bars, Varietétheater und Biergarten. Eine Straße für die kleinen Leute. Nach der Wende kamen die Touristen. Und dann die Immobilienentwickler.
Alleen - das klingt irgendwie herrschaftlich, zumindest wenn man an Alleen in Großstädten denkt. Man stellt sich von großen alten Bäumen gesäumte Boulevards vor, flankiert von gediegenen Altbauten oder Prachtstraßen wie die Champs-Élysées oder wenigstens Unter den Linden. Es geht aber auch ein paar Nummern kleiner. Die Berliner Kastanienallee zum Beispiel ist eher bescheiden sowohl was die Größe der Bäume angeht als auch was die Altbausubstanz betrifft. Trotzdem ist sie berühmt - eine Weile nannte man sie wegen der Dichte an gut aussehenden Menschen und Cafés gern "Casting-Allee" oder "Latte-Macchiato-Strich". Und bei den Immobilienpreisen liegt sie mittlerweile durchaus im oberen Segment der Stadt. Katja Bigalke über eine erstaunliche Entwicklung.
Von Berlin-Mitte aus betrachtet beginnt die Kastanienalle mit dem Laden "Kauf dich glücklich am Park". Einem Laden für alles: Eis, Waffeln, Keramik, und Kleidung aus Berlin, Paris und Kopenhagen. Und sie endet mehr oder weniger mit dem Prater – dem ältesten Biergarten Berlins, in dem seit mehr als 170 Jahren im Sommer der Durst vom Zapfhahn gelöscht wird. Dazwischen liegt ein knapper Kilometer und ..
"… mittlerweile 70-80 Gewerbe …"
… sagt Sebastian Mücke, der selbst zwei Läden in der Kastanienallee betreibt.
"Wir haben hier alles Dinge, die jeder haben will, aber keiner braucht: Künstliche Kakteen. Etageren mit Dornen, eigene Schnäpse aus Berlin - alles was wir schönes finden in der Welt."

Bücher, Tattoos, Sushi, Künstlerzubehör

Und was das sonstige Angebot der Straße aufs Beste ergänzt. Feinrippunterwäsche, Outdoor-Klamotten, Bücher, Sprachkurse, Tattoos, Falafel, Sushi, Künstlerzubehör und Platten gibt es ja schon in dieser von Kastanien gesäumten Durchgangsstraße, die alle paar Minuten von einer Tram durchkreuzt wird.
"Das ist eine der wenigen Allen, wo man um sechs noch ein gepflegtes Bier bekommt."
Und die auch deswegen so beliebt ist. Auch bei Touristen. Sebastian Mücke, der Anfang der 1990er Jahre aus New York in der Kastanienallee landete, erinnert sich noch an ganz andere Zeiten:
"Die Straße war in einem Zustand, dass man eher herumstolperte, es gab keine Geschäfte, es war relativ leer."
Die Allee mit den breiten Bürgersteigen war zu DDR Zeiten ziemlich heruntergekommen.
"…weil wir im Schatten der Mauer sind. Der Wedding nebenan gehört schon zu Westberlin, da hat die Straße an Bedeutung verloren, das war verkehrsmäßig nicht so gut angeschlossen."
Peter Schwirkmann vom Berliner Stadtmuseum hat in den Archiven noch ein paar alte Postkarten von der Kastanienallee vor dem ersten Weltkrieg gefunden.
"Was wir feststellen können, es gab schon eine Straßenbahn, und der Großteil der Bebauung ist noch heute wie im Kaiserreich. 1865 begann hier die Wohnbebauung. Wir haben hier den Typ des Berliner Mietshauses, die wohnten in verschiedenen Klassen hintereinander und die einfachen Wohnungen lagen hinten."

Der Prenzlauer Berg war mal Arbeiterviertel

Die Kastanienallee, mitten im damaligen Arbeiterviertel Prenzlauer Berg, war Ende der 1920er Jahre schon eine Flaniermeile mit viel Gewerbe, Bars, einem Varietétheater und dem schon erwähnten Biergarten. Kein Boulevard mit Prunkarchitektur. Eine Straße für die kleinen Leute. Eher schlicht.
"Mit der Stuckfassade - wie der Berliner Maurermeister sagte: Der Rohbau steht, was soll denn nun für ´nen Stil dran?"
Das musste ja damals auch alles sehr schnell gehen, erklärt Schwirkmann. Die Kastanienalle wurde schließlich erst im Zuge der Industrialisierung, Mitte des 19. Jahrhunderts, bebaut. Die Bäume verdankt sie ihrer vorstädtischen Vergangenheit als Landstraße quer durch Felder und Wiesen.
"Die Straße ist zu Beginn des 19 Jahrhunderts angelegt worden, von einem Herrn Griebenow. Der sich als Terrainentwickler versucht hat und die Straße bepflanzen ließ, damit er die Grundstücke besser verwerten konnte, in der Erwartung, dass das hier Bauland würde. Das ist hier erst Stadt geworden. Die Straßenbezeichnung gab es schon vorher."
Den Aufstieg der Kastanienallee zur städtischen Flaniermeile sollte Herr Griebenow allerdings nicht mehr erleben. Zwar starb der Immobilienentwickler, der vor den Toren Berlins nach Pariser Vorbild ein ganzes Netz an Alleen anlegen ließ, als Millionär. Mit der Kastanienallee war er seiner Zeit allerdings etwas voraus. Es würde ihn wohl freuen, dass in seiner doch recht unspektakulären Straße mittlerweile Quadratmeterpreise aufgerufen werden, die es mit den Villenvierteln der Stadt locker aufnehmen können. Immerhin war er ein Rädchen im Getriebe:
"Immobilienspekulationen sind, was eine Stadt ausmacht, bei der Entwicklung und dann natürlich auch im Bestand. Da gibt es immer Gegenden, die erleben eine Abstieg und andere einen Aufstieg - man muss halt zusehen, dass man zur richtigen Zeit da ist."

Carola Grimm kam gerade noch rechtzeitig

Carola Grimm war zur richtigen Zeit da, als sie 1992 mit ein paar Gleichgesinnten die Kastanienalle 77 besetzte.
"Das Haus stand da schon acht Jahre leer. Es gab im Vorderhaus noch Fenster, das Hinterhaus war offen, keine Fenster, provisorische Türen und wenige Wochen vor der Besetzung waren auch die Kachelöfen demontiert worden und Kamine eingeschlagen."
Mit viel Elan, Durchhaltevermögen und Unterstützung durch eine gemeinnützige Stiftung schaffte es die Gemeinschaft damals, das Haus per Erbpachtvertrag für sich zu erwerben. Ein kleines Schmuckstück. Das kleine dreistöckige Gebäude mit dem gusseisernen Ziergiebel ist das älteste Wohnhaus im Prenzlauer Berg. Drei lauschige Höfe gehen nach hinten.
In einem hat Carola Grimm ihre Keramikwerkstatt. Und trotzdem fühlt sich die ehemalige Hausbesetzerin manchmal etwas fehl am Platz, wenn sie auf der kleinen Bank vor dem Haus sitzt, die, weil sie nicht zu einem Café gehört, das für den Stellplatz Pacht bezahlt, an die Hauswand geschraubt werden musste.
"Zuerst kamen in den Erdgeschossen kleine Läden, dann kamen die Modedesigner, dann wurde das langsam immer etablierter, die Gastronomie hat geboomt, die Kommerzialisierung griff um sich. Und wir merken, dass das tatsächlich der einzige Grund ist, weshalb wir noch da sind, diese Konstruktion unseres Wohnprojekt ist, basierend auf einem Erbpachtvertrag. Wir sind ein Stück Dinosaurier. Wir müssen neue Ideen haben, andere Modelle, wie wir uns vertreten fühlen können, oder wie wir uns zeigen können."

Die guten alten Zeiten sind lange vorbei

Die Zeiten, in denen es in der Kastanienallee noch Volksküchen gab und die Nachbarn auf der Straße gefrühstückt haben, in denen die Dächer der Häuser frei zugänglich waren und alle naslang eine neue improvisierte Galerie, ein neuer Wochentagsclub aufgemacht hat, sind lange vorbei. Alternative Wohnprojekte wie die ehemaligen besetzten Häuser der Straße, werden von Immobilienmaklern nur noch benutzt, um die Authentizität und das andere Lebensgefühl dieser Wohngegend zu vermarkten.
"Die kamen, um ihren Werbeflyer zu machen hierher, um Fotos zu machen, die wollten mit dem Kiezgefühl Werbung machen, das sie direkt kaputt machen. Es sind nur noch die da, die schon etabliert waren oder auf dem Weg dahin, aber die, die weg sind, die sind richtig weg und die haben auch keine Chance wieder zu kommen. Das kann nicht die Lösung sein. Das macht eine Stadt auf Dauer kaputt."
Die Freiräume der Kastanienallee sind Investitionsprojekten gewichen. Genau wie die letzte ursprünglich Kastanie der Allee. Als Carola Grimm damals in die Straße zog, war es der einzige Baum, der noch da war:
"Es gab keine Bäume, alle Kastanien waren tot abgesägt. Wir hatten damals eine Kastanie gepflanzt, die wir geschenkt bekommen hatten - ein schönes Bäumchen. Wie alles, was wir hatten, war das aber nicht erlaubt, weil die Früchte trug. Nicht wie die Hybriden hier - die tragen keine Kastanien, die blühen nur."
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