Von der Gesellschaft nicht mehr gebraucht

Der Begriff der Klassengesellschaft hat schon seit Jahrzehnten ausgedient. Die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" ist dennoch nicht entstanden. Immer mehr Menschen gehören gar nicht mehr dazu, denn sie werden nicht mehr gebraucht, meint der Soziologe Heinz Bude in seinem Buch "Die Ausgeschlossenen".
Es ist 50 Jahre her, da sprach der Soziologe Helmut Schelsky davon, wir lebten in einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft". Die Klassenbegriffe des 19. Jahrhunderts, sollte das heißen, sind unbrauchbar geworden. Die Konsumorientierung habe sich genauso wie das bürgerliche Streben nach Sicherheit in allen Schichten durchgesetzt, die Schichtzugehörigkeit selber sage weniger über eine Person als ihr Beruf, und viele Personen könnten nicht einmal mehr sagen, welcher Schicht sie eigentlich angehören. Bilden die Angestellten und die Beamten jeweils eine Schicht? Sind die leitenden Angestellten und die kleinen Beamten im Unterschied zu Richtern oder Regierungspräsidenten eine eigene? Und die Arbeiter im Unterschied zu den Handwerkern? Gehören Krankenschwestern zur Arbeiterschaft? Die Leser oder Hörer können an dieser Stelle ja einmal die Probe auf Schelskys These machen und versuchen anzugeben, welcher Schicht sie sich zugehörig fühlen.

Das Buch des in Kassel lehrenden Soziologen Heinz Bude zeigt, dass man die Unbrauchbarkeit alter Klassen- und Schichtbegriffe bejahen kann, ohne den Begriff der Mittelstandsgesellschaft dadurch schon für plausibel halten zu müssen. Nicht oben und unten sei heute die wichtigste Unterscheidung, sondern drinnen und draußen. Arbeitslosen oder Migranten ohne Hauptschulabschluss fehlt nicht in erster Linie Einkommen, sie sind nicht in erster Linie arm im ökonomischen Sinn. Und sie sind auch nicht unten in dem Sinne, dass sie Ausbeutung oder die Befehle anderer Leute erdulden müssen. Im Gegenteil: Sie werden nicht einmal ausgebeutet, denn, so Bude, sie werden nicht zu irgendetwas gebraucht. Sie sind ohne Aussicht.

Diese Schicht, die keine ist, weil ihre Mitglieder völlig heterogen sind, wächst. Dafür sorgt die industrielle Entwicklung, die ständig Personal als entbehrlich zurücklässt. Dafür sorgt, dass die Kinder von Ausgeschlossenen von vornherein in einem Milieu der Resignation aufwachsen, was ihr eigenes Herauskommen aus diesem Milieu ganz unwahrscheinlich macht. Und dafür sorgt auch, dass sich die Dimensionen des Ausschlusses aus der normalen, beschäftigten, mit Chancen ausgestatteten Zone der Gesellschaft gegenseitig verstärken. Wer dauerhaft ohne Arbeit ist, dessen Familienglück ist stärker bedroht – und umgekehrt. Wer sich in Gelegenheitsjobs aufreibt, dessen Gesundheitschancen sind geringer. Wer bildungsarm aufwächst, hat ein höheres Risiko, kriminell zu werden.

Heinz Bude diskutiert diese Sachverhalte in einer Serie von Essays, die sich selbst im Vorwort als ein Beispiel für "öffentliche Soziologie" empfehlen. Er kommt ohne Fußnoten und die Komplikationen einer genauen Analyse aus. Der Leser erhält eine Reihe derjenigen Zahlen, die auch in den Zeitungen und im Fernsehen seit längerem diskutiert werden: zur Zunahme des Einkommensabstands zwischen den Reichsten und den Ärmsten; zu den Bildungserfolgen der verschiedenen Milieus; zur vielberedeten Angst der Mittelschichten vor dem sozialen Abstieg. Und der Leser erhält Beschreibungen von Zonen, in denen die Ausgeschlossenen leben: Landstrichen im Osten, aus denen die Hoffnungsfrohen abgewandert sind; Vierteln und Gegenden, in denen man sich aus Ohnmacht ethnisch definiert, vor allem aber: als eigentlich nicht zugehörig zur umgebenden Gesellschaft. Bude handelt über alleinerziehende Mütter und über "verwilderte Jungmänner" sowohl der rechtsradikalen wie der islamistischen Prägung.

Vereinzelt polemisiert das Buch auch, am frischesten gegen die Welt der PISA-Phantasien, in der man sich vorstellen kann, dass durch andere Schulen und mehr Förderung der soziale Ausschluss von Bildungsunwilligen abgeschafft werden kann. Die besten Passagen des Buches sind jene, in denen die Sphäre der Ausgeschlossenen ohne sozialpolitische Sentimentalität gezeichnet wird: als eine Welt, in der jemand nicht danach beurteilt wird, was er zu leisten vermag, sondern danach, ob er Schwierigkeiten macht. Es ist eine Welt, in der Körpermerkmale wichtig werden, in der Härte zählt, Geschlechterstereotypen blühen, das Leben als Glücksspiel erfahren wird und nicht Erbauung, sondern Erregung gesucht wird. Auch das gehört zu Budes Urteil über die Ausgeschlossenen: dass viele von ihnen gar nicht danach streben, in die Mittelschicht hineinzukommen. Rat, wie das zu verändern sei, weiß das Buch nicht und es tut auch ehrlicherweise nicht so, als sei es leicht zu ändern.

Rezensiert von Jürgen Kaube

Heinz Bude: Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft
Hanser Verlag, München 2008
141 Seiten, 14,90 Euro