Von der Isar an den Bosporus

Von Thomas Senne |
Nicht erst während der Nazi-Zeit fanden zahlreiche jüdische Flüchtlinge in Istanbul einen sicheren Ort vor Verfolgung. Die Ausstellung "Münih ve Istanbul" im Jüdischen Museum München zeigt, dass die Metropole am Bosporus schon seit dem 16. Jahrhundert ein Exilort für jüdische Flüchtlinge war.
Jahrhundertelang war Istanbul ein Exilort für jüdische Flüchtlinge. Um 1600 lebten hier 40.000 Juden - seinerzeit die größte jüdische Gemeinde der Welt.

"Mit den Erlassen des Königs Ferdinand von Spanien kam eine sehr große Gruppe sephardischer Juden – also mehrere Zehntausend – in das Osmanische Reich und fand dort Exil. Was eben dort die Gemeinschaft sehr stark vergrößert hat, weil eben viele für den Handel, für die Wirtschaft interessante Leute zur Stadtgesellschaft hinzugekommen sind, und so bildete sich eben um 1600 eine sehr potente, große jüdische Gemeinschaft."

Die Metropole am Bosporus zeigte sich gegenüber Juden also vergleichsweise tolerant. Dennoch: ein Dorado mit paradiesischen Zuständen war Istanbul für jüdische Emigranten keineswegs, sagt Kuratorin Jutta Fleckenstein vom Jüdischen Museum München.

"Juden waren eben als Nicht-Muslime Schutzbefohlene, das heißt, sie zahlten Sondersteuern. Sie waren Auflagen unterworfen, die sich auf Kleidung beziehen konnten. Man konnte nicht in öffentlichen Ämtern aktiv sein. Es gab allerdings im Osmanischen Reich keinen Antijudaismus, wie eben in christlichen Gesellschaften im ausgehenden Mittelalter."

Auch nach Beginn der Hitler-Diktatur machten sich Hunderte von Juden auf den Weg nach Istanbul und wurden dort willkommen geheißen. Nicht immer ganz uneigennützig. Denn der europäisch orientierte Staatsgründer der modernen Türkei Mustafa Kemal Atatürk war in erster Linie am Knowhow der Emigranten interessiert. Insgesamt 85 deutsche Professoren mit ihren Familien fanden in der Türkei eine neue Bleibe.

"Hochrangige Wissenschaftler werden aus der deutschen Gesellschaft ausgeschlossen, weil sie sogenannt nichtarisch sind oder politisch nicht konform sind. Und zur gleichen Zeit befindet sich ein anderes Land – die Republik Türkei – im Aufbau und sucht genau diese Wissenschaftler. Also man sucht Modernisierung, sucht renommierte Leute, die ein Land voranbringen können."

Vor allem das Schicksal mehrer jüdischer Familien aus München steht im Mittelpunkt der Präsentation, die der Berliner Künstler Via Lewandowsky als eine Art Kalendarium inszeniert hat. Zehn mit weißen Decken versehene Tische sind fein mit persönlichen Accessoires oder Dokumenten der Flüchtlinge dekoriert sowie mit Objekten diverser Festivitäten - einer Hochzeit, eines Kindergeburtstages oder verschiedener türkischer und jüdischer Feiertage. Mit weißem Stoff bespannte Stühle tragen auf den Rückseiten die Namenszüge der Exilanten.

An den Volkstrauertag erinnert im Jüdischen Museum München ein Tisch, den ein stilisierter Bombenkrater ziert: eine Anspielung an den Ersten Weltkrieg, an dem als gute Patrioten auch Juden teilnahmen. Beispielsweise der Münchner Pathologie-Professor Siegfried Oberndorfer. Der beklagte später in seinem türkischen Exil die dortigen Arbeitsbedingungen. Ausstellungsleiterin Jutta Fleckenstein:

"Die Situation war unterschiedlich. Selbst unter den Wissenschaftlern unterscheiden sich die Lebenswege noch. Die Wissenschaftler, die tatsächlich direkt 1933 in die Türkei emigriert sind, hatten sehr häufig gute Arbeitsverträge, für sie war Istanbul ein elitärer Platz. Es gab allerdings auch schwierigere Lebenswege, also Wissenschaftler, die zwar in die Türkei emigrieren konnten, wie zum Beispiel der Orientalist Karl Süssheim, aber dort dann eben an der Universität eher in der Position einer Art Hilfskraft gearbeitet hat."

Ein Tagebuch dieses Orientalisten, versehen mit einer Skizze des Konzentrationslagers Dachau, ist jetzt in einer Vitrine der Ausstellung zu sehen. Ein Mini-Weihnachtsbäumchen schmückt zum 24. Dezember in der Münchner Präsentation den Tisch des Bildhauers Rudolf Belling. Der war zwar selber kein Jude, brach aber zusammen mit seinem Sohn, der mit einer Jüdin verheiratet war, in die Türkei auf. In der Schau ist ein abstrakter Messingkopf von Rudolf Belling neben einer realistischen Boxer-Statuette von ihm zu sehen. Während letzteres Werk von den Nazis in einer Ausstellung als große deutsche Kunst gefeiert wurde, befand sich seine Arbeit aus Messing in der NS-Schau "Entartete Kunst": Absurditäten eines Terrorregimes.

Ab 1938 wurde es für Juden immer schwieriger nach Istanbul zu gelangen. Allmählich erschienen auch dort antisemitische Hetzschriften, die nicht davor zurückschreckten, Titelbilder des "Stürmer" abzukupfern. Bis Kriegsende hatten immerhin über 15.000 jüdische Flüchtlinge aus ganz Europa Istanbul passiert – für viele eine Transitstation, auf dem Weg nach Palästina. Inwieweit sich die Besucher im Jüdischen Museum München allerdings auf die historisch-künstlerische Inszenierung einlassen, bleibt fraglich. Denn in den ausliegenden Mappen herumzublättern und zu lesen, mit Informationen gefüllte Schubladen zu öffnen oder dem Inhalt von Projektionen aufmerksam zu folgen, ist nicht jedermanns Sache und überfordert vielleicht manche. Wer sich aber Zeit dafür nimmt, der entdeckt spannende Details über ein weitgehend vergessenes Kapitel der deutsch-türkisch-jüdischen Geschichte. 0.56

Service:
Die Ausstellung "Orte des Exils 1: "Münih ve Istanbul" ("München nach Istanbul") ist vom 3. Dezember bis zum 8. März im Jüdischen Museum München zu sehen.