Den Anfang beim Bücherfrühling 2016 auf der Leipziger Buchmesse machte Michael Köhlmeier mit seinem schmalen Buch "Das Mädchen mit dem Fingerhut" (Hanser Verlag). Er sagte über sein Werk: "Ich wollte auf das Eigentliche verzichten, die Sprache, denn das Mädchen versteht ja niemanden." Es ist ein Flüchtlingskind in der großen Stadt – inspiriert wurde Köhlmeier, als er in Wien genau so ein heruirrendes Mädchen beobachtete. Er wolle keinen Unterschied machen zwischen finden und erfinden, sagte Köhlmeier. Nie habe er ein Buch so planlos begonnen: "Ich hatte nur einen Plan, ich wollte das Mädchen über den Winter bringen." Der Fingerhut ist übrigens ein Geschenk eines Jungen an das Mädchen, um seinen verletzten Daumen zu schützen.
Bücherfrühling 2016
Beim Bücherfrühling 2016 von Deutschlandradio Kultur auf der Leipziger Buchmesse gab es neun Bücher, vier Autorinnen und fünf Autoren zu erleben. Von Lyrik über dicke Romane bis zu autobiografischen Berichten war alles dabei.
Der Russe Evgenij Vodolazkin hatte viel weiter reichende Ambitionen, als er seinen 700 Seiten umfassenden Roman "Laurus" schrieb: Die Zeit zu vernichten. Sein Held trägt vier verschiedene Namen, das Buch springt zwischen den Epochen – auch die verwendete Sprache sei eine Mischung aus allen Zeiten, sagte Vodolazkin im Gespräch. Das führt auch zu komischen Effekten, etwa wenn mittelalterliche Pilger "Planungssicherheit" fordern. Andere Figuren können in die Zukunft schauen und kennen sich beispielsweise in der Sowjetunion aus. "Als Russe sollte ich einige Witze einführen", sagte Vodolazkin in Bezug auf den schwarzen Humor seines Romans (Doerlemann Verlag).
Kerstin Hensel kam dem Publikum mit Gedichten und präzisen Gedanken zur Dichtung. Lyrik sei die subjektivste Form der Literatur, sagte die Schriftstellerin. Manche Leser erwarteten Experimente, andere Erbauung; damit könne sie nicht dienen. Stattdessen überraschende Sätze wie: "Selbst die Müllabfuhr wird religiös." Gedichte seien immer eine Nische gewesen, kein Massenartikel, und so solle es auch bleiben. Hensel unterrichtet Schauspielstudenten und muss denen erst mal die Abneigung gegen Gedichte nehmen, die sie von der Schule mitbringen. Am Ende muss sich beim Gedicht der Leser sowieso einen eigenen Reim darauf machen, sagte Hensel. "Schleuderfigur" heißt ihr neuer Lyrikband im Luchterhand Verlag.
Dann war der einstige Wunderknabe an der Reihe. Benedict Wells stellte den Roman "Vom Ende der Einsamkeit" (Diogenes) vor. Was seinen Erfolg mit dem Vorgänger "Fast genial" angeht, so fühle er sich in einem surrealen Tagtraum und habe eine Art Glücksangst. Sein neues Buch erzählt eine Katastrophe – Kinder verlieren ihre Eltern – und dabei habe er sich nicht in Ironie flüchten wollen, sagte Wells. Er schreibt tolle Sätze wie diesen: "Es war, als müsste ich für jedes Wort einen Spaten in einen gefrorenen Acker rammen." Sein großer Inpirator sei John Irving und dessen überbordende Erzähllust gewesen.
Antje Ravic Strubel hatte einen "Episodenroman" in Gepäck. Er heißt "In den Wäldern des menschlichen Herzens" (S. Fischer) und beschreibt Begegnungen, die Grenzen und Identitäten auflösen. Strubel sagte, sie liebe die Leerstellen beim Schreiben, denn das setze die Fantasie in Gang: "Sehnsucht braucht die Andeutung." Sie erzähle von Körpern, von sexuellen Erlebnissen, ohne schamhaft wegzublenden. Es gehe in dem Buch um die Hinterfragung der Bilder von Weiblickeit und Männlichkeit. Als Gegenmodell nannte sie die "Machotexte" etwa von Ernest Hemingway.
Der in Rumänien geborene, als Kind in die Schweiz gekommene Autor Catalin Dorian Florescu hatte den griffigsten Romantitel: "Der Mann, der das Glück bringt" (C.H. Beck Verlag). Es geht um die Emigration von Europa nach Amerika um 1900, das Leben der Neuankömmlinge in New York; ein Teil des Buches spielt aber auch im Donau-Delta. Dafür hat Florescu drei Jahre recherchiert: "Ich bin wie ein Schwamm, der alle Informationen aufsaugt." Er komme aus einem Land der Mündlichkeit, deswegen vielleicht die Lust an Geschichten. Dem amerikanischen Traum, dass man an jeder Straßenecke sein Glück finden könne, begegne er als "schwerblütiger Europäer" mit Skepsis.
Den gepfefferten Stoff von Karen Duves Roman "Macht" (Galiani Verlag) haben die Kritiker zum Teil abgelehnt, aber die Autorin nahm es sportlich und sprach nur von "pampigen" Reaktionen. Deutschland im Jahr 2031: der Staatsfeminismus regiert, die Welt geht klimatisch den Bach runter, Flüchtlinge werden an der Grenze erschossen, und alle Deutschen müssen Fahrradhelme tragen. Ein Mann hält seine Frau im Keller gefangen, weil eh schon alles egal ist. "Dieser Typ war ein Jahr mein Lebensabschnittsgefährte", sagte Karen Duve. Das Prinzip der Science-Fiction erlaube gewisse Freiheiten, zum Beispiel ihre "Stammtischseite" rauszulassen.
Der Bosnier Dzevad Karahasan klang weitaus poetischer und geheimnisvoller, als er aus seinem umfangreichen, bei Suhrkamp erschienenen Roman "Der Trost des Nachthimmels" las. Das Buch spielt im 12. Jahrhundert in Isfahan, der Hauptstadt des Seldschuken-Reiches, und weist Paralellen zur Gegenwart, denn es geht um Machtkämpfe, religiösen Fundamentalismus und die Zerstörung kultureller Vielfalt. Er wolle kulturelle Mikromodelle zeigen, in denen sich große Geschichte spiegelt, sagte Karahasan: "Der Geschichte können wir leider nicht entfliehen." Seine Leser hält er für "Mitschreiber", nicht für Konsumenten.
Den Schlusspunkt des "Bücherfrühlings" setzte die in Berlin lebende Amerikanerin Deborah Feldman mit dem Bericht "Unorthodox" (Secession Verlag) über ihr Aufwachsen in einer fundamentalistischen jüdischen Sekte. Es geht um Indoktrinierung und Zwangsverheiratung von jungen Frauen, was Feldman selbst erlebt hat, und die Schwierigkeit, sich von dem Zwang der "inneren Stimme" zu lösen, die in der religiösen Gemeinschaft regelrecht gezüchtet wurde. Selbst die Möbel sollten sie nicht nackt sehen, dachte Deborah Feldman als Mädchen. "Alle extremen Gesellschaften wollen Kontrolle über die Frauen", sagte die Autorin – die für eine heitere Pointe sorgte, als sie von den Hipstern erzählte, die im New Yorker Stadtteil Williamsburg Fahrrad fuhren, um die Ultraorthodoxen zu ärgern.