Von der Muse ungeküsst
Unsere staatlichen Schulen sind Getriebene: Das schlechte Abschneiden bei den PISA-Tests und die Fälle misslungener Integration von Migrantenkindern sitzen den Kultusministern im Nacken. Ab 2009 soll es einen nationalen Bildungstest mit landesweit einheitlichen Prüfungsaufgaben geben, gestützt auf Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz.
Verglichen mit dem, was dort verlangt wird, nimmt sich die jüngste Resolution des Deutschen Bühnenvereins heillos utopisch aus – denn sie erhebt die Forderung: "Literatur, Kunst, Musik, Tanz und darstellendes Spiel müssen so selbstverständlich werden und dieselbe Anerkennung erfahren wie naturwissenschaftliche Fächer. Curricula müssen dramatische, musikalische und Musiktheater-Werke vorsehen und Inhalte umfassen, die Schüler in die Lage versetzen, Sprachkompetenz zu erwerben und die Zeichenwelt der Kunst zu verstehen."
Schön wär's. Die Bildungsstandards der KMK kennen für Grund- und Hauptschüler nur das trockene Brot aus Lesen, Schreiben und Rechnen. Realschüler und Gymnasiasten haben sich überdies in ausgewählten Naturwissenschaften und einer Fremdsprache zu beweisen. Einzelne Bundesländer wehren sich gegen die zunehmende funktionalistische Verengung des Bildungsbegriffs, namentlich Baden-Württemberg hat für den schulischen Musikunterricht geradezu bewunderungswürdige Standards formuliert. Ob sie auch umgesetzt werden, steht allerdings dahin, denn "eine umfassende Evaluation gibt es noch nicht", teilt der Fachberater Musik im Regierungspräsidium Stuttgart mit. Aussagen über die Realität des Musikunterrichts, so warnt er mich, seien "sehr spekulativ und meist an individuelle Erfahrungen geknüpft".
Halten wir uns also für einen Moment ans angeblich Spekulative: an Erfahrungen, Beobachtungen, Gespräche im persönlichen Umfeld. Da sind der gravierende Fachlehrermangel und der uninspirierte Unterricht. Da ist die Geigenschülerin, die vor einem Jahr extra an ein Gymnasium wechselte, welches sich seines "musikalischen Zweigs" rühmt, dort jedoch bislang ihr Instrument nicht hervorzuholen brauchte. Da ist die Lehrerin an einer regionalen Musikschule, der die Privatschüler weglaufen, weil ihnen der Druck, der schon von den normalen Hausaufgaben ausgeht, keine Muße mehr zum Musizieren lässt.
Ästhetische Erziehung an den deutschen Staatsschulen? Formell stehen Musik- und Kunstunterricht noch immer auf der Stundentafel. Papier ist ja geduldig. Aber man darf keinen Blick auf die triste Praxis werfen, die rationalistisch und freudlos ist. Allein der Kunstunterricht der Grundschulen: diese Vorliebe für sterile Materialien, für Schere und Klebstoff, für Schablonen und Fotokopien. Kein Rausch der Formen und Farben. Man hält die Schüler am Gängelband, faselt aber unentwegt von "Kreativität". Zur deutschen Schulwirklichkeit gehört, dass weit weniger Fachstunden gegeben werden, als die Lehrpläne für Kunst und Musik vorsehen. Zwei Drittel des Deputats für Musik sind es an den Gymnasien, die diesbezüglich noch am besten dastehen. Auf nur rund vierzig Prozent kommen Real- und Hauptschulen. An den Grundschulen wird nicht einmal ein Fünftel des Musikunterrichts fachlich korrekt erteilt. Noch übler steht es an den Sonderschulen, also gerade dort, wo die Musik auch therapeutische Aufgaben zu erfüllen hätte.
Wenn in den unteren Klassen wenigstens reichlich gesungen würde. Aber Singen ist expressiv. Wer singt, gibt etwas von sich preis, und damit haben viele Lehrer Schwierigkeiten. Die Notenschrift lernen? Noch so eine Forderung, die zum Curriculum der Schule gehört, deren Sinnhaftigkeit indes nur dort offenbar wird, wo sich dieser Sinn sinnlich erfahren lässt: beim Musizieren. Doch den Schüler möchten wir sehen, der durch den Musikunterricht einer staatlichen Schule zum Erlernen eines Instruments gebracht würde. Das Musizieren wird an Arbeitsgemeinschaften delegiert, und dort, in der hochgelobten Musik-AG, trifft sich in der Regel nur, wer schon von Haus aus das Privileg geniesst, dass seine Eltern für Förderung und Privatunterricht sorgen. Im regulären Unterricht hingegen nehmen Lehrer gern zu Konserven Zuflucht. Stolz berichtete mir eine Grundschullehrerin, sie habe an Mozarts 250. Geburtstag während des Frühstücks in der 3. Klasse den Kassettenrecorder laufen lassen: die "Zauberflöte" vom Band als Hintergrundmusik zum Pausenbrot. Unter den Kollegen galt sie damit bereits als eminent engagiert. Bei den Eltern der Schüler übrigens auch. Die ebenso simple wie naheliegende Frage, ob die Kinder nicht besser Papagenos Vogelfänger-Lied gesungen hätten, stellte sich gar nicht.
Für die ästhetische Erziehung hatten die Pisa-Tests fatale Folgen. Jetzt zittern schon die Eltern von Zweit- und Drittklässlern, ob ihr Kind später einmal das Abitur schafft. Die Politiker träumen von "kontinuierlichem Bildungsmonitoring", und so jagt ein Schultest den nächsten, frei nach der Devise: Kinder muss man nicht mögen, sondern messen. Lesekompetenz, Schreibkompetenz, Rechenkompetenz. Englisch, Biologie, Physik, Chemie. Verwertbares Wissen. Dagegen lassen sich kaum Einwände erheben. Die Schule ist, was Hartgesottene seit jeher sagen, schließlich nicht zum Spielen da. Oder zum Tanzen, Singen, Bilder malen. Nur bis zum Deutschen Bühnenverein hat sich das noch nicht herumgesprochen. Er hält die musischen Ideale hoch. Wir wollen ihn dafür loben.
Joachim Güntner, Jahrgang 1960, studierte Philosophie und Literaturwissenschaften, bevor er in die freie Publizistik ging. Er war zunächst künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien in Köln und schrieb für die Feuilletons überregionaler Zeitungen, für Zeitschriften und für den Hörfunk. Seit 1997 ist Güntner der für Deutschland zuständige Kulturkorrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung".
Schön wär's. Die Bildungsstandards der KMK kennen für Grund- und Hauptschüler nur das trockene Brot aus Lesen, Schreiben und Rechnen. Realschüler und Gymnasiasten haben sich überdies in ausgewählten Naturwissenschaften und einer Fremdsprache zu beweisen. Einzelne Bundesländer wehren sich gegen die zunehmende funktionalistische Verengung des Bildungsbegriffs, namentlich Baden-Württemberg hat für den schulischen Musikunterricht geradezu bewunderungswürdige Standards formuliert. Ob sie auch umgesetzt werden, steht allerdings dahin, denn "eine umfassende Evaluation gibt es noch nicht", teilt der Fachberater Musik im Regierungspräsidium Stuttgart mit. Aussagen über die Realität des Musikunterrichts, so warnt er mich, seien "sehr spekulativ und meist an individuelle Erfahrungen geknüpft".
Halten wir uns also für einen Moment ans angeblich Spekulative: an Erfahrungen, Beobachtungen, Gespräche im persönlichen Umfeld. Da sind der gravierende Fachlehrermangel und der uninspirierte Unterricht. Da ist die Geigenschülerin, die vor einem Jahr extra an ein Gymnasium wechselte, welches sich seines "musikalischen Zweigs" rühmt, dort jedoch bislang ihr Instrument nicht hervorzuholen brauchte. Da ist die Lehrerin an einer regionalen Musikschule, der die Privatschüler weglaufen, weil ihnen der Druck, der schon von den normalen Hausaufgaben ausgeht, keine Muße mehr zum Musizieren lässt.
Ästhetische Erziehung an den deutschen Staatsschulen? Formell stehen Musik- und Kunstunterricht noch immer auf der Stundentafel. Papier ist ja geduldig. Aber man darf keinen Blick auf die triste Praxis werfen, die rationalistisch und freudlos ist. Allein der Kunstunterricht der Grundschulen: diese Vorliebe für sterile Materialien, für Schere und Klebstoff, für Schablonen und Fotokopien. Kein Rausch der Formen und Farben. Man hält die Schüler am Gängelband, faselt aber unentwegt von "Kreativität". Zur deutschen Schulwirklichkeit gehört, dass weit weniger Fachstunden gegeben werden, als die Lehrpläne für Kunst und Musik vorsehen. Zwei Drittel des Deputats für Musik sind es an den Gymnasien, die diesbezüglich noch am besten dastehen. Auf nur rund vierzig Prozent kommen Real- und Hauptschulen. An den Grundschulen wird nicht einmal ein Fünftel des Musikunterrichts fachlich korrekt erteilt. Noch übler steht es an den Sonderschulen, also gerade dort, wo die Musik auch therapeutische Aufgaben zu erfüllen hätte.
Wenn in den unteren Klassen wenigstens reichlich gesungen würde. Aber Singen ist expressiv. Wer singt, gibt etwas von sich preis, und damit haben viele Lehrer Schwierigkeiten. Die Notenschrift lernen? Noch so eine Forderung, die zum Curriculum der Schule gehört, deren Sinnhaftigkeit indes nur dort offenbar wird, wo sich dieser Sinn sinnlich erfahren lässt: beim Musizieren. Doch den Schüler möchten wir sehen, der durch den Musikunterricht einer staatlichen Schule zum Erlernen eines Instruments gebracht würde. Das Musizieren wird an Arbeitsgemeinschaften delegiert, und dort, in der hochgelobten Musik-AG, trifft sich in der Regel nur, wer schon von Haus aus das Privileg geniesst, dass seine Eltern für Förderung und Privatunterricht sorgen. Im regulären Unterricht hingegen nehmen Lehrer gern zu Konserven Zuflucht. Stolz berichtete mir eine Grundschullehrerin, sie habe an Mozarts 250. Geburtstag während des Frühstücks in der 3. Klasse den Kassettenrecorder laufen lassen: die "Zauberflöte" vom Band als Hintergrundmusik zum Pausenbrot. Unter den Kollegen galt sie damit bereits als eminent engagiert. Bei den Eltern der Schüler übrigens auch. Die ebenso simple wie naheliegende Frage, ob die Kinder nicht besser Papagenos Vogelfänger-Lied gesungen hätten, stellte sich gar nicht.
Für die ästhetische Erziehung hatten die Pisa-Tests fatale Folgen. Jetzt zittern schon die Eltern von Zweit- und Drittklässlern, ob ihr Kind später einmal das Abitur schafft. Die Politiker träumen von "kontinuierlichem Bildungsmonitoring", und so jagt ein Schultest den nächsten, frei nach der Devise: Kinder muss man nicht mögen, sondern messen. Lesekompetenz, Schreibkompetenz, Rechenkompetenz. Englisch, Biologie, Physik, Chemie. Verwertbares Wissen. Dagegen lassen sich kaum Einwände erheben. Die Schule ist, was Hartgesottene seit jeher sagen, schließlich nicht zum Spielen da. Oder zum Tanzen, Singen, Bilder malen. Nur bis zum Deutschen Bühnenverein hat sich das noch nicht herumgesprochen. Er hält die musischen Ideale hoch. Wir wollen ihn dafür loben.
Joachim Güntner, Jahrgang 1960, studierte Philosophie und Literaturwissenschaften, bevor er in die freie Publizistik ging. Er war zunächst künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien in Köln und schrieb für die Feuilletons überregionaler Zeitungen, für Zeitschriften und für den Hörfunk. Seit 1997 ist Güntner der für Deutschland zuständige Kulturkorrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung".