Von der "Rotfabrik" zum Chemieriesen

Von Irene Meichsner |
Ob synthetische Farben, Medikamente oder Kunststoffe: Bei den Farbwerken Hoechst wurden oft die Zeichen der Zeit erkannt. Am 31. Januar 1863 gründeten ein Chemiker und zwei Kaufleute die Firma Meister, Lucius & Co, die zu einem der weltweit größten Chemiekonzerne avancierte.
Dass aus dieser kleinen Firma einmal einer der größten Chemie- und Pharmakonzerne werden würde, hätte sich niemand träumen lassen. Aber ehrgeizig waren sie schon, die Gründer: Eugen Lucius, Carl Meister und August Müller. Ursprünglich hießen die Farbwerke Hoechst "Meister, Lucius & Co".

"Und die haben sich der Herstellung der damals brandneuen sogenannten Teerfarben verschrieben. Teerfarben - das waren synthetische Farbstoffe, die auf der Grundlage von Steinkohleteerderivaten hergestellt wurden","

erklärt Wolfgang Metternich, ehemaliger Leiter des Firmenarchivs der Hoechst AG. Nachdem der Gründungsvertrag am 31. Januar 1863 unterzeichnet war, begann die Produktion. In offenen Kesseln wurden Anilin-Öl und Arsensäure auf 200 Grad Celsius erhitzt, um "Fuchsin" herzustellen – ein leuchtendes Rot, das 1858 von einem deutschen und einem französischen Chemiker erfunden worden war. Bald sprach man in Höchst nur noch von der "Rotfabrik". Denn:

Wolfgang Metternich: """Da gab es natürlich auch Emissionen. Sei es nur, dass der betreffende Arbeiter rote Hände oder ein rotes Gesicht hatte. Oder auch, was wir wissen, dass die Wäsche, die rundum, um die Fabrik herum, an der Leine hing, dass die auch mal rot wurde."

Seit Jahrtausenden hatte man Farben aus Naturstoffen gewonnen. Mit den neuen synthetischen Farben sei "die Zeit … farbentoll geworden", schreibt Ernst Bäumler in seinem Buch über die Geschichte der Firma Hoechst.

"Überall schossen … Farbwerke aus dem Boden. … Überkapazitäten ließen unweigerlich die Preise verfallen. … Alarm in Hoechst! Neue Modefarben mussten her."

1864 entwickelte das Unternehmen sein erstes eigenes Produkt: Aldehyd-Grün, das auch bei Gaslicht seinen Farbton behielt. August de Ridder, erster Kaufmännischer Direktor, reiste mit mehreren Büchsen "Grünteig" nach Frankreich, um mit Renard & Villet, den größten Seidenfärbern von Lyon, einen Exklusivvertrag über die Nutzung der Farbe abzuschließen. Renard habe aus der ersten Partie Aldehyd-grüner Seide ein Abendkleid für Kaiserin Eugenie schneidern lassen, erzählte de Ridder:

"Am folgenden Tag erschien die Kaiserin in der Großen Oper in dieser Toilette, die bei Licht grün blieb, während bisher alles Grün abends bei Licht blau wurde. Das grüne Kleid machte Furore! Alle Pariserinnen bestellten ein Ähnliches grünes Kleid, und Grün wurde Mode in der ganzen Welt. Renard machte ein großes Geschäft - und wir auch."

Für die schnell wachsende Zahl von Mitarbeitern der Farbwerke gab es günstige Unterkünfte und eine Kranken- und Pensionskasse – vorbildlich für die damalige Zeit. Wolfgang Metternich:

"Es war natürlich die Überlegung, mit einer guten Sozialpolitik war man in Zeiten, da gute, gelernte Arbeiter absolute Mangelware am Arbeitsmarkt waren, konnte man wirklich auch Fachkräfte halten."

Seit 1883 produzierte Hoechst außer Farben auch synthetische Arzneimittel. Auf "Antipyrin", ein fiebersenkendes Mittel, folgten Emil von Behrings Impfserum gegen Diphtherie und Paul Ehrlichs "Salvarsan" gegen die Syphilis. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs machte Hoechst einen Umsatz von 100 Millionen Reichsmark - ein blühendes Unternehmen mit Tochterfirmen in Moskau, Paris und Manchester. Als Mitglied der IG Farben war Hoechst in das Naziregime verstrickt. Die Firma beschäftigte rund 9000 Zwangsarbeiter und lieferte Präparate für Pharmaversuche im KZ Buchenwald. In den Nürnberger Prozessen kam die Werksleitung glimpflich davon. Nach der Entflechtung der IG Farben wurde Hoechst im März 1953 endgültig aus der alliierten Kontrolle entlassen. Der neue Vorstandsvorsitzende Karl Winnacker erklärte, fast so, als sei nichts gewesen:

"Eine der wichtigsten Sparten unseres Unternehmens ist auch heute noch die Farbengruppe."

Wenig später war Hoechst außerdem weltweit größter Polyesterhersteller. 1993 kam es zu einem schweren Störfall, in dessen Folge über benachbarten Wohngebieten ein "gelber Regen" mit teils krebserzeugenden Substanzen niederging. Thomas Schlimme, Sprecher einer örtlichen Bürgerinitiative:

"Und Hoechst hat halt damals erst mal total verharmlost. … Und das war dann auch etwas, wo Hoechst erleben musste, dass man so mit der Bevölkerung nicht umgehen kann."

1999 wurde der Firmenname getilgt. Hoechst fusionierte mit Rhône-Poulenc zum deutsch-französischen Konzern "Aventis", aus dem 2004 Sanofi-Aventis hervorging - mit einem Umsatz von 30 Milliarden Euro einer der größten Pharmakonzerne der Welt.
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