Von der Solidarität

Vorwärts und nicht vergessen

Im Rahmen einer Solidaritätsaktion für die Menschen in der Ukraine halten Menschen Plakate am Brandenburger Tor hoch.
Berlin: Solidarität für die Menschen in der Ukraine. © dpa/Kay Nietfeld
Von Alexander Kissler · 30.04.2014
Wann fordert heute im Alltag nochmal jemand nach Solidarität? Der Begriff klingt nach Staatssozialismus, nach Politikpredigt, sehr unsexy jedenfalls, meint Alexander Kissler. Und doch wird er morgen wieder in zahllosen Reden zum 1. Mai erklingen.
Am 1. Mai, zum Tag der Arbeit, wird sie wieder aus Opas Plattenschrank hervorgekramt: Die Hymne auf die Solidarität, das Arbeiterlied von Bertolt Brecht in der Vertonung Hans Eislers. "Vorwärts", schmettert es aus den Lautsprechern, "Vorwärts und nicht vergessen / Worin unsre Stärke besteht! / Beim Hungern und beim Essen / Vorwärts, nie vergessen / Die Solidarität!"
Solidarität ist das Erkennungswort der Bedrängten
Es waren wichtige Zeilen zu Beginn der 1930er Jahre, als eine bedrängte Arbeiterschaft sich ihres gemeinsamen Schicksals besann. Wer nach Solidarität ruft, der schreit aus tiefster Tiefe nach dem Mitmenschen, dem es kaum besser geht. Solidarität ist das Erkennungswort der Bedrängten, die gemeinsam ihre Drangsal wenden wollen.
So war es auch im Ersten Weltkrieg. Der große österreichische Schriftsteller Joseph Roth sprach für eine ganze Generation, für die Generation der Kriegsteilnehmer, wenn er mit Blick auf das Fronterlebnis notierte: "Wir mögen sonst verschiedenen Welten, verschiedenen Parteien, verschiedenen Berufen angehören. Es leuchtet aus jedem von uns eine selbstverständliche Bereitschaft zur Solidarität, geboren damals, (...) als der ganze Zug an einer einzigen Zigarette rauchte."
Roth gab sich der Hoffnung hin, das solidarische Zeugnis im Schützengraben schweiße lebenslang zusammen. "Zwei", schrieb er, "die im Krieg waren", könnten, "sobald sie sich treffen, ohne einander näher zu prüfen, gemeinsam etwa auf die Walz gehen, oder ins Gefängnis, oder in die Kaserne, oder in Gefahr, oder sonst überallhin, wo man solidarisch sein darf."
Not die Wiege der Solidarität
In der Regel ist die Not die Wiege der Solidarität. Der Mensch erkennt im Nächsten Bruder und Schwester, weil dasselbe Schicksal sie eint: Welch wunderbarer Kontrapunkt zum sonst üblichen Hahnenkampf und Sozialdarwinismus!
Und heute? Da tritt ein Regierender Bürgermeister vor das Berliner Abgeordnetenhaus und erklärt, die Politik müsse gegenüber Flüchtlingen, die illegal einen öffentlichen Platz besetzen, "Gesicht, Solidarität und Anteilnahme" zeigen. Solidarität bedeute "Beistand".
Da erklärt ein Gewerkschaftsführer, natürlich seien die Demonstrationen seiner Gewerkschaft auch Aktionen zur Mitgliedergewinnung. Man demonstriere nicht nur für höhere Löhne als Ausdruck von Gerechtigkeit – für Solidarität also –, sondern wolle sich präsentieren als quicklebendige Interessengruppe.
Der Egoismus der Arbeitsplatzbesitzer hat jedoch mit echter Solidarität ebenso wenig zu tun wie die Sprechblasen einer Berliner Kodderschnauze. Solidarität, die zum verordneten "Beistand" verkommt, ist ein weiterer Ausdruck des beliebten staatlichen Paternalismus. Gibt es schon Solidaritätsbeauftragte und Referate für Solidaritätszuteilung?
Nicht weit entfernt von Sozialfrömmelei
Das alles ist nicht weit entfernt von sozialer Frömmelei. Der Schriftsteller Hartmut Lange prägte einmal diesen Ausdruck, um zu kritisieren, was sich wuchernd auf viele Bereiche des menschlichen Miteinanders legt. Soziale Frömmelei meint den rhetorischen Überbietungswettbewerb in Sachen Gemeinsinn, Gemeinwohl, Gerechtigkeit, die in Wahrheit nur Waffen sind, die eigenen Ansprüche vor allen anderen Interessen zu schützen.
Solidarisches Handeln ist in dieser Perspektive nicht das freie Teilen aus Menschlichkeit oder Notwendigkeit, sondern fordernder Tadel. Solidarität ist dann die Missgunst der Schlechtgelaunten, denen die Welt zu unübersichtlich und auf eine sehr diffuse Weise zu ungerecht vorkommt. Als Begriff ist Solidarität darum weitgehend ruiniert. Er verbindet nicht mehr, er spaltet, er ist kein Tun, sondern ein Fordern. Was er einmal meinte, steckt ganz in dem alten, schönen Wort der Menschlichkeit.
Und diese ist eine Sache nicht nur für Maientage.
Alexander Kissler ist Publizist, Medienwissenschaftler und Historiker und leitet das Kulturressort des Monatsmagazins "Cicero". Zuletzt erschien von ihm "Papst im Widerspruch. Benedikt XVI, und seine Kirche 2005 – 2013".
Alexander Kissler
Alexander Kissler© Andrej Dallmann für "CICERO"
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