Von der Teufelsinsel bis Guantanamo
Zwischen der Dreyfus-Affäre und der Einrichtung des US-Gefangenenlagers Guantanamo liegen mehr als 100 Jahre. Dennoch sind für den US-Schriftsteller Louis Begley die Parallelen erstaunlich. In seinem neuen Buch "Der Fall Dreyfus" schreibt Begley über Einzelhaft, Unrecht und den Mut von Anwälten und Journalisten.
Jürgen König: Im Herbst 1894 wurde der französische Hauptmann Alfred Dreyfus beschuldigt, militärische Geheimnisse an die Deutschen verraten zu haben. Wissend, dass er unschuldig war, wurde er wegen Landesverrats zu lebenslanger Verbannung auf eine Strafinsel vor der Küste Französisch-Guyanas verurteilt. Kaum jemand in Frankreich zweifelte damals an der Richtigkeit des Urteils, dass Dreyfus Jude war, das reichte als Beleg völlig aus. Ein echter Franzose, so meinte man damals, sei zum Staatsverrat gar nicht fähig. Fünf Jahre hat Alfred Dreyfus auf der Teufelsinsel verbracht, 1899 wurde er rehabilitiert. Nachdem Émile Zola mit seinem Zeitungsartikel "J’Accuse – Ich klage an" die antisemitischen, auch kriminellen Machenschaften der Regierung und des Generalstabs offengelegt hatte. "Der Fall Dreyfus", so heißt jetzt ein Buch des amerikanischen Schriftstellers Louis Begley, Untertitel: "Teufelsinsel, Guantanamo, Alptraum der Geschichte". Louis Begley, 1933 geboren, ist einer der Großen der amerikanischen Literatur, gleich sein erster Roman wurde weltweit gelesen, "Lügen in Zeiten des Krieges". Mit Louis Begley haben wir gestern gesprochen, Dolmetscher war Johannes Hampel. Und als Erstes habe ich Louis Begley gefragt: Bei so vielen Büchern, die schon über den Fall Dreyfus geschrieben wurden, was ihn an diesem Fall so fasziniert hätte.
Louis Begley: Nun, ich glaube, es ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie staatliche Einrichtungen und Beamte ihre Macht für ungerechte Zwecke verwenden können. In dem Maße, wie es immer klarer wurde, dass die Anklage gegen Dreyfus auf sehr tönernen Füßen stand, blieb dennoch die normale Reaktion eines gesunden Menschenverstandes aus, die eingetreten wäre, wenn Dreyfus kein Jude gewesen wäre. Stattdessen versteiften sich General Mercier, der Kriegsminister, und der Chef des Generalstabs, General de Boideffre, darauf, jetzt den jungen Dreyfus auf die Hörner zu nehmen, und sie setzten alles daran, ihn anzuklagen.
Das führte dann zu einer ganzen Serie von Rechtsbrüchen, die sich über fünf Jahre hinzogen. Es hätte keinen Dreyfus-Skandal gegeben, wenn es nicht von den zuständigen Offizieren vor diesem Kriegsgericht zugelassen worden wäre, dass mit gefälschten Dokumenten und mit erpressten Zeugenaussagen dieser ganze Gerichtsfall aufgezäumt worden wäre.
König: Sie beschreiben dann weiter die Verurteilung und die Verbannung Dreyfus’ auf die Teufelsinsel, Sie beschreiben auch, wie er dort eingesperrt war in eine Steinhütte, dreieinhalb Meter mal dreieinhalb Meter, also sehr klein, die Tür mit Sehschlitzen, durch die man ihn beobachten konnte Tag und Nacht. Zeitweise wurde er jede Nacht mit Fußeisen an den Bettrahmen gefesselt, war da den Bissen von Moskitos, von Ameisen, von Seespinnen ausgesetzt. Das Buch heißt ja im Untertitel "Teufelsinsel, Guantanamo, Alptraum der Geschichte". Waren es solche Szenen, zum Beispiel diese Haftbedingungen von Dreyfus, die Sie dann unwillkürlich an Guantanamo denken ließen, sodass es zu dieser Erweiterung des Themas in dem Buch kam?
Begley: Selbstverständlich war das so, die Parallele, die eben mir auffiel, war, dass Dreyfus in Einzelhaft gehalten wurde, so wie eben auch in Guantanamo. Dort gilt die Regel, dass Einzelhaft nicht länger als 30 Tage dauern sollte, aber Dreyfus wurde über viereinhalb Jahre in dieser Einzelhaft gehalten. Er durfte mit niemandem sprechen, nicht mit den Wachen, und die einzigen Menschen, die mit ihm sprachen, waren der Gefängnisarzt, der ab und zu von einer Nachbarinsel herüberkam, und der Gefängnisdirektor, der ebenfalls von einer Nachbarinsel mitunter herüberkam. Es ist eine bekannte Tatsache, dass solche lange andauernde Einzelhaft verheerende Auswirkungen auf den Menschen hat, sowohl psychisch wie auch kognitiv. Die Menschen verlieren dann ihre Beziehungsfähigkeit und sie verlieren die Sprachfähigkeit, etwas woran auch Dreyfus gelitten hat.
König: Nun liegen zwischen der Dreyfus-Affäre und dem Krieg Bushs gegen den Terror gut 100 Jahre. Welche Entsprechungen gibt es da? Welche Parallelen gibt es da, welche Gemeinsamkeiten vielleicht haben die Teufelsinsel und Guantanamo? Das sind ja doch eigentlich ganz unterschiedliche Dinge, die aber – und das liest man sehr schön in Ihrem Buch – sich auf verblüffende Weise auch wieder wirklich entsprechen.
Begley: Nun, die erste Parallele besteht darin, dass im Fall Dreyfus der Generalstab und zwei aufeinander folgende Kriegsminister dieses Verfahren in gesetzeswidriger Weise durchführten. Sie spielten dem Kriegsgericht Dokumente, Unterlagen zu, ohne dass der Angeklagte Dreyfus Akteneinsicht erhalten hätte. Ein Teil des Skandals bei Guantanamo besteht darin, dass dort auch diese sogenannten Militärausschusse den Festgehaltenen keinen Zugang zu den Anklageschriften gewährten. Die dort Festgehaltenen können die gegen sie vorgebrachten Zeugenaussagen, die Beweise nicht einsehen, sie haben keinerlei Zugang zu unabhängigem Rechtsbeistand und es werden erzwungene Zeugenaussagen herangezogen. Dies alles geschieht unter fortgesetztem Bruch des Rechts der Vereinigten Staaten. Nachdem ich dies gesagt habe, muss ich noch klarstellen, dass die Beschwerden und die Widrigkeiten, die die Häftlinge in Guantanamo erleiden, körperlich gesehen, sehr viel einschneidender sind als alles, was Dreyfus zu erleiden hatte. Die zweite Parallele, die ganz entscheidend ist, besteht darin, dass die Rehabilitierung von Dreyfus sich dem unermüdlichen Einsatz, der Hartnäckigkeit und dem Mut der Dreyfusiaers verdankt, die sich mit aller Kraft für ihn ins Gefecht geworfen haben und ja 1884 auch erreichten, dass seine Verurteilung aufgehoben wurde.
Die Parallele im Fall Guantanamo liegt darin, dass hier der Mut, die Hingabe von Hunderten von Rechtsanwälten und Juraprofessoren dazu führten, dass die Angeklagten verteidigt wurden. Darüber hinaus waren es die Journalisten, die all diese Schrecknisse enthüllten, welche die Bush-Regierung in Guantanamo beging und zu begehen beabsichtigte und zu verbergen versuchte. Und darüber hinaus verdankt sich der Erfolg der Lauterkeit und dem Mut der Gerichte. Im Falle Dreyfus war es das oberste französische Gericht, der Kassationsgerichtshof, im Fall Guantanamo sind es die verschiedenen Amtsgerichte, die Appellationsgerichte und der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Sie haben all diese Entscheidungen und Urteile gefällt, durch die klar wurde, auf welche Weise fortgesetzt das Recht und die Verfassung der Vereinigten Staaten durch die Regierung Bush gebrochen worden sind.
König: Mr. Begley, im Falle Frankreichs hat der Rechtsstaat am Ende gesiegt. Glauben Sie, dass Präsident Obama es gelingen wird, zu rechtsstaatlichen Prinzipien wirklich vollständig zurückzukehren und Guantanamo – eine riesige Aufgabe – aufzulösen und das Problem auch von der Tagesordnung wieder zu bekommen?
Begley: Ich glaube, es wird ihm gelingen, aber wie Sie schon sagten, es ist eine riesige Aufgabe und es wird sicherlich viele Monate dauern, bis das gelingt.
König: Der amerikanische Schriftsteller Louis Begley im Gespräch über sein Buch "Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantanamo, Alptraum der Geschichte". Das Buch ist erschienen im Suhrkamp-Verlag.
Übersetzt von Johannes Hampel
Louis Begley: Nun, ich glaube, es ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie staatliche Einrichtungen und Beamte ihre Macht für ungerechte Zwecke verwenden können. In dem Maße, wie es immer klarer wurde, dass die Anklage gegen Dreyfus auf sehr tönernen Füßen stand, blieb dennoch die normale Reaktion eines gesunden Menschenverstandes aus, die eingetreten wäre, wenn Dreyfus kein Jude gewesen wäre. Stattdessen versteiften sich General Mercier, der Kriegsminister, und der Chef des Generalstabs, General de Boideffre, darauf, jetzt den jungen Dreyfus auf die Hörner zu nehmen, und sie setzten alles daran, ihn anzuklagen.
Das führte dann zu einer ganzen Serie von Rechtsbrüchen, die sich über fünf Jahre hinzogen. Es hätte keinen Dreyfus-Skandal gegeben, wenn es nicht von den zuständigen Offizieren vor diesem Kriegsgericht zugelassen worden wäre, dass mit gefälschten Dokumenten und mit erpressten Zeugenaussagen dieser ganze Gerichtsfall aufgezäumt worden wäre.
König: Sie beschreiben dann weiter die Verurteilung und die Verbannung Dreyfus’ auf die Teufelsinsel, Sie beschreiben auch, wie er dort eingesperrt war in eine Steinhütte, dreieinhalb Meter mal dreieinhalb Meter, also sehr klein, die Tür mit Sehschlitzen, durch die man ihn beobachten konnte Tag und Nacht. Zeitweise wurde er jede Nacht mit Fußeisen an den Bettrahmen gefesselt, war da den Bissen von Moskitos, von Ameisen, von Seespinnen ausgesetzt. Das Buch heißt ja im Untertitel "Teufelsinsel, Guantanamo, Alptraum der Geschichte". Waren es solche Szenen, zum Beispiel diese Haftbedingungen von Dreyfus, die Sie dann unwillkürlich an Guantanamo denken ließen, sodass es zu dieser Erweiterung des Themas in dem Buch kam?
Begley: Selbstverständlich war das so, die Parallele, die eben mir auffiel, war, dass Dreyfus in Einzelhaft gehalten wurde, so wie eben auch in Guantanamo. Dort gilt die Regel, dass Einzelhaft nicht länger als 30 Tage dauern sollte, aber Dreyfus wurde über viereinhalb Jahre in dieser Einzelhaft gehalten. Er durfte mit niemandem sprechen, nicht mit den Wachen, und die einzigen Menschen, die mit ihm sprachen, waren der Gefängnisarzt, der ab und zu von einer Nachbarinsel herüberkam, und der Gefängnisdirektor, der ebenfalls von einer Nachbarinsel mitunter herüberkam. Es ist eine bekannte Tatsache, dass solche lange andauernde Einzelhaft verheerende Auswirkungen auf den Menschen hat, sowohl psychisch wie auch kognitiv. Die Menschen verlieren dann ihre Beziehungsfähigkeit und sie verlieren die Sprachfähigkeit, etwas woran auch Dreyfus gelitten hat.
König: Nun liegen zwischen der Dreyfus-Affäre und dem Krieg Bushs gegen den Terror gut 100 Jahre. Welche Entsprechungen gibt es da? Welche Parallelen gibt es da, welche Gemeinsamkeiten vielleicht haben die Teufelsinsel und Guantanamo? Das sind ja doch eigentlich ganz unterschiedliche Dinge, die aber – und das liest man sehr schön in Ihrem Buch – sich auf verblüffende Weise auch wieder wirklich entsprechen.
Begley: Nun, die erste Parallele besteht darin, dass im Fall Dreyfus der Generalstab und zwei aufeinander folgende Kriegsminister dieses Verfahren in gesetzeswidriger Weise durchführten. Sie spielten dem Kriegsgericht Dokumente, Unterlagen zu, ohne dass der Angeklagte Dreyfus Akteneinsicht erhalten hätte. Ein Teil des Skandals bei Guantanamo besteht darin, dass dort auch diese sogenannten Militärausschusse den Festgehaltenen keinen Zugang zu den Anklageschriften gewährten. Die dort Festgehaltenen können die gegen sie vorgebrachten Zeugenaussagen, die Beweise nicht einsehen, sie haben keinerlei Zugang zu unabhängigem Rechtsbeistand und es werden erzwungene Zeugenaussagen herangezogen. Dies alles geschieht unter fortgesetztem Bruch des Rechts der Vereinigten Staaten. Nachdem ich dies gesagt habe, muss ich noch klarstellen, dass die Beschwerden und die Widrigkeiten, die die Häftlinge in Guantanamo erleiden, körperlich gesehen, sehr viel einschneidender sind als alles, was Dreyfus zu erleiden hatte. Die zweite Parallele, die ganz entscheidend ist, besteht darin, dass die Rehabilitierung von Dreyfus sich dem unermüdlichen Einsatz, der Hartnäckigkeit und dem Mut der Dreyfusiaers verdankt, die sich mit aller Kraft für ihn ins Gefecht geworfen haben und ja 1884 auch erreichten, dass seine Verurteilung aufgehoben wurde.
Die Parallele im Fall Guantanamo liegt darin, dass hier der Mut, die Hingabe von Hunderten von Rechtsanwälten und Juraprofessoren dazu führten, dass die Angeklagten verteidigt wurden. Darüber hinaus waren es die Journalisten, die all diese Schrecknisse enthüllten, welche die Bush-Regierung in Guantanamo beging und zu begehen beabsichtigte und zu verbergen versuchte. Und darüber hinaus verdankt sich der Erfolg der Lauterkeit und dem Mut der Gerichte. Im Falle Dreyfus war es das oberste französische Gericht, der Kassationsgerichtshof, im Fall Guantanamo sind es die verschiedenen Amtsgerichte, die Appellationsgerichte und der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Sie haben all diese Entscheidungen und Urteile gefällt, durch die klar wurde, auf welche Weise fortgesetzt das Recht und die Verfassung der Vereinigten Staaten durch die Regierung Bush gebrochen worden sind.
König: Mr. Begley, im Falle Frankreichs hat der Rechtsstaat am Ende gesiegt. Glauben Sie, dass Präsident Obama es gelingen wird, zu rechtsstaatlichen Prinzipien wirklich vollständig zurückzukehren und Guantanamo – eine riesige Aufgabe – aufzulösen und das Problem auch von der Tagesordnung wieder zu bekommen?
Begley: Ich glaube, es wird ihm gelingen, aber wie Sie schon sagten, es ist eine riesige Aufgabe und es wird sicherlich viele Monate dauern, bis das gelingt.
König: Der amerikanische Schriftsteller Louis Begley im Gespräch über sein Buch "Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantanamo, Alptraum der Geschichte". Das Buch ist erschienen im Suhrkamp-Verlag.
Übersetzt von Johannes Hampel