Von einem, der die Europäische Wirtschaftsunion vorhersah
Friedrich Rothe zeichnet in seiner Biografie das Bild von einem facettenreichen Mann: Harry Graf Kessler war zugleich kultureller Kosmopolit, doch politisch seinem Vaterland verschrieben; er förderte junge Künstler, aber träumte zugleich von einem deutsch-französischen Wirtschaftsbündnis, in dem auch die Mitbestimmung der Arbeiter gesichert war. Nur glücklich, so konstatiert sein Biograf, war Kessler nicht einen Tag.
Kosmopolit, Kunstmäzen, Publizist, Diplomat, besessener Visionär. Harry Graf Kessler, in der Weimarer Republik als der "rote Graf" verschrien, darf getrost als eine der schillernsten Deutschen Figuren der Jahrhundertwende bezeichnet werden.
"Josephine Baker tanzte in seiner Bibliothek, mit Hofmannsthal zerstritt er sich über den ’Rosenkavalier’, als Garde-Rittmeister nahm er am Ersten Weltkrieg teil ..."
1868 als Sohn des schwerreichen Hamburger Bankiers Adolf Kessler und der exzentrischen, schönen Mutter Alice aus vornehmem angloindischem Hause, wurde Harry Graf Kessler in eine Welt hineingeboren, die selbst für damalige Zeiten ungewöhnlich war. Und so verlebte der junge Graf, dessen Vater noch als bürgerlicher "Kessler" geboren wurde und der erst durch die Gunst des Preußenherrschers Wilhelm I. zum Grafentitel kam, eine Jugend zwischen preußischer Disziplin, Eliteschulen in Paris, Ascot und Hamburg. Alles überstrahlt durch den Glanz jener hoch kultivierten Mondänität des Fin de Siècle. Die traditionellen Eliten jener Zeit begegneten den von Kesslers angesichts ihrer neureichen Herkunft gelegentlich mit Ressentiments.
"Alice Kessler war eine gefeierte Schönheit der Belle Époque; über ihre nach eigenen Ideen angefertigten, exzentrischen Toiletten unterrichteten Pariser Zeitungen ihre Leserinnen. Jugendlich aussehend, überzeugte sie noch mit 56 Jahren als Kameliendame auf der Bühne ihres Pariser Privattheaters. Den körperlichen Kontakt mit dem kleinen Harry vermied sie nach Möglichkeit ... (das geschwisterlose Kind "ohne näheren Verkehr mit Gleichaltrigen" bewunderte die Mutter vor allem aus der Ferne)."
Kaum auf eigenen Füßen, verstand es der junge Graf - elegant in Erscheinung, vermögend und belesen -, internationale Verbindungen zu den Mächtigen und Wichtigen zu knüpfen. In den feinen Berliner und Pariser Salons war er ein gern gesehener Gast.
Sein Biograf Friedrich Rothe nähert sich der Figur Harry Graf Kesslers behutsam. In einer wohl gefeilten Sprache spürt er nach, was Kessler gedacht oder gefühlt haben könnte. Der intellektuelle Kosmopolit war nämlich weit weniger "Dandy", als es den Anschein hatte - ein Leben lang schien er von Selbstzweifeln geplagt:
"Für Kessler muss man sagen, dass er ein Mensch war, der sehr in der Gesellschaft gelebt hat, aber zugleich sehr einsam gewesen ist. Und man sagt, glaube ich, nicht zu viel, wenn man sagt, der ist keinen Tag glücklich gewesen!"
Die Berufswünsche, die sein geschäftstüchtiger Vater für ihn vorsah, wusste Harry indes erfolgreich abzuwehren. Sein einziges Interesse galt sämtlichen Spielarten der Kunst und Literatur. Harry Graf Kessler entwickelte sich zu einem Kunstmäzen und maßgeblichen Kulturreformer. Seine üppige finanzielle Ausstattung machte es ihm möglich, damals noch unbekannte Künstler zu fördern. Und Herausgeber der Kulturzeitschrift PAN zu werden.
Es sind Namen wie Auguste Rodin, Claude Monet, Josephine Baker, Henry van de Velde oder Albert Einstein, die sich wie ein roter Faden durch die Biografie Kesslers ziehen.
Sich selbst verwirklichte Kessler indes als Kunstkritiker und - weit weniger erfolgreich - als Direktor des Großherzoglichen Museums für Kunst in Weimar. All seine Bemühungen galten dem Wunsch, endlich unabhängig von den übermächtigen Eltern zu werden. Ihre Anerkennung für sein politisches Engagement suchte er vergeblich.
"Bei aller Liebe füllten die schönen Künste Kessler nicht aus. Er war kein blasser Ästhet, die väterliche Energie, die in ihm steckte, verlangte außerordentliche Aktivität. Im aristokratischen Milieu der höheren Verwaltung oder des Auswärtigen Amtes anzukommen, genügte ihm nicht. Er wollte zu denen zählen, welche die Politik im Deutschen Reich nach innen und außen neu ausrichteten."
Biograf Friedrich Rothe zieht folgendes Fazit:
"Und dass diese Wahl auf Deutschland und auf Preußen fiel, das war nun gerade das, was man als ’Schicksalsschlag’ bezeichnen kann."
Harry Graf Kessler hatte es sich partout in den Kopf gesetzt, Lorbeeren im Dienst des Deutschen Reichs zu verdienen. Kulturell ein Kosmopolit, setzte er sich in kaum vorstellbarer Weise für die Belange des Deutschen Reiches ein. Für Friedrich Rothe kein Widerspruch:
"In den 20er-Jahren kann man ganz klar sehen, dass er die Europäische Wirtschaftsunion vorweggesehen hat. So hat er sich eben vorgestellt, dass Frankreich und Deutschland Kohle und Erz austauschen. Dass aber gleichzeitig auch die Mitbestimmung der Arbeiter gesichert ist. Also, dass es nicht einfach nur so um ein Kapitalbündnis ging dabei. Es ging Kessler eben auch darum, dass Europa zu einer eigenständigen politischen Kraft werden sollte."
Über 57 Jahre führte Harry Graf Kessler akribisch Tagebuch. Papier und Bleistift wurden zu seinen engsten Vertrauten seit dem zwölften Lebensjahr. Selbst im Alter, als Kessler durch seinen Einsatz für die Weimarer Republik und sein Wirken für den Völkerbund durch die Nazis ins Exil getrieben wurde und er - nunmehr fast mittellos - zu seiner jüngeren Schwester nach Mallorca emigrierte, zeugen noch Hinweise von jener verzweifelten Haltung.
"Das stellt man sich immer alles so wunderbar vor, aber es ist gar nicht so einfach, wenn man drei Vaterländer besitzt, sich so etwas wie eine kontinuierliche Biografie zu erarbeiten."
Mit der Biografie Harry Graf Kesslers ist Friedrich Rothe ein kleines Meisterwerk gelungen. Mit einem feinen Gespür für Ironie, frei von Spekulationen, schafft er es, die vielschichtige Persönlichkeit Harry Graf Kesslers anschaulich und packend darzustellen. Bereinigt von den üblichen Klischees, betrachtet Rothe die Figur Kesslers, eingebettet in die historische Zeit - und bei allem Respekt vor dessen Leistungen -, kritisch. Als einen Mann, der sich mit seinen Größenwahnfantasien immer wieder selbst im Wege stand. Der es jedoch durch die Hinterlassenschaft seiner Tagebücher zu einer der interessantesten Chronisten des vergangenen Jahrhunderts gebracht haben dürfte.
Friedrich Rothe: Harry Graf Kessler - Biografie
Siedler Verlag, München 2008
"Josephine Baker tanzte in seiner Bibliothek, mit Hofmannsthal zerstritt er sich über den ’Rosenkavalier’, als Garde-Rittmeister nahm er am Ersten Weltkrieg teil ..."
1868 als Sohn des schwerreichen Hamburger Bankiers Adolf Kessler und der exzentrischen, schönen Mutter Alice aus vornehmem angloindischem Hause, wurde Harry Graf Kessler in eine Welt hineingeboren, die selbst für damalige Zeiten ungewöhnlich war. Und so verlebte der junge Graf, dessen Vater noch als bürgerlicher "Kessler" geboren wurde und der erst durch die Gunst des Preußenherrschers Wilhelm I. zum Grafentitel kam, eine Jugend zwischen preußischer Disziplin, Eliteschulen in Paris, Ascot und Hamburg. Alles überstrahlt durch den Glanz jener hoch kultivierten Mondänität des Fin de Siècle. Die traditionellen Eliten jener Zeit begegneten den von Kesslers angesichts ihrer neureichen Herkunft gelegentlich mit Ressentiments.
"Alice Kessler war eine gefeierte Schönheit der Belle Époque; über ihre nach eigenen Ideen angefertigten, exzentrischen Toiletten unterrichteten Pariser Zeitungen ihre Leserinnen. Jugendlich aussehend, überzeugte sie noch mit 56 Jahren als Kameliendame auf der Bühne ihres Pariser Privattheaters. Den körperlichen Kontakt mit dem kleinen Harry vermied sie nach Möglichkeit ... (das geschwisterlose Kind "ohne näheren Verkehr mit Gleichaltrigen" bewunderte die Mutter vor allem aus der Ferne)."
Kaum auf eigenen Füßen, verstand es der junge Graf - elegant in Erscheinung, vermögend und belesen -, internationale Verbindungen zu den Mächtigen und Wichtigen zu knüpfen. In den feinen Berliner und Pariser Salons war er ein gern gesehener Gast.
Sein Biograf Friedrich Rothe nähert sich der Figur Harry Graf Kesslers behutsam. In einer wohl gefeilten Sprache spürt er nach, was Kessler gedacht oder gefühlt haben könnte. Der intellektuelle Kosmopolit war nämlich weit weniger "Dandy", als es den Anschein hatte - ein Leben lang schien er von Selbstzweifeln geplagt:
"Für Kessler muss man sagen, dass er ein Mensch war, der sehr in der Gesellschaft gelebt hat, aber zugleich sehr einsam gewesen ist. Und man sagt, glaube ich, nicht zu viel, wenn man sagt, der ist keinen Tag glücklich gewesen!"
Die Berufswünsche, die sein geschäftstüchtiger Vater für ihn vorsah, wusste Harry indes erfolgreich abzuwehren. Sein einziges Interesse galt sämtlichen Spielarten der Kunst und Literatur. Harry Graf Kessler entwickelte sich zu einem Kunstmäzen und maßgeblichen Kulturreformer. Seine üppige finanzielle Ausstattung machte es ihm möglich, damals noch unbekannte Künstler zu fördern. Und Herausgeber der Kulturzeitschrift PAN zu werden.
Es sind Namen wie Auguste Rodin, Claude Monet, Josephine Baker, Henry van de Velde oder Albert Einstein, die sich wie ein roter Faden durch die Biografie Kesslers ziehen.
Sich selbst verwirklichte Kessler indes als Kunstkritiker und - weit weniger erfolgreich - als Direktor des Großherzoglichen Museums für Kunst in Weimar. All seine Bemühungen galten dem Wunsch, endlich unabhängig von den übermächtigen Eltern zu werden. Ihre Anerkennung für sein politisches Engagement suchte er vergeblich.
"Bei aller Liebe füllten die schönen Künste Kessler nicht aus. Er war kein blasser Ästhet, die väterliche Energie, die in ihm steckte, verlangte außerordentliche Aktivität. Im aristokratischen Milieu der höheren Verwaltung oder des Auswärtigen Amtes anzukommen, genügte ihm nicht. Er wollte zu denen zählen, welche die Politik im Deutschen Reich nach innen und außen neu ausrichteten."
Biograf Friedrich Rothe zieht folgendes Fazit:
"Und dass diese Wahl auf Deutschland und auf Preußen fiel, das war nun gerade das, was man als ’Schicksalsschlag’ bezeichnen kann."
Harry Graf Kessler hatte es sich partout in den Kopf gesetzt, Lorbeeren im Dienst des Deutschen Reichs zu verdienen. Kulturell ein Kosmopolit, setzte er sich in kaum vorstellbarer Weise für die Belange des Deutschen Reiches ein. Für Friedrich Rothe kein Widerspruch:
"In den 20er-Jahren kann man ganz klar sehen, dass er die Europäische Wirtschaftsunion vorweggesehen hat. So hat er sich eben vorgestellt, dass Frankreich und Deutschland Kohle und Erz austauschen. Dass aber gleichzeitig auch die Mitbestimmung der Arbeiter gesichert ist. Also, dass es nicht einfach nur so um ein Kapitalbündnis ging dabei. Es ging Kessler eben auch darum, dass Europa zu einer eigenständigen politischen Kraft werden sollte."
Über 57 Jahre führte Harry Graf Kessler akribisch Tagebuch. Papier und Bleistift wurden zu seinen engsten Vertrauten seit dem zwölften Lebensjahr. Selbst im Alter, als Kessler durch seinen Einsatz für die Weimarer Republik und sein Wirken für den Völkerbund durch die Nazis ins Exil getrieben wurde und er - nunmehr fast mittellos - zu seiner jüngeren Schwester nach Mallorca emigrierte, zeugen noch Hinweise von jener verzweifelten Haltung.
"Das stellt man sich immer alles so wunderbar vor, aber es ist gar nicht so einfach, wenn man drei Vaterländer besitzt, sich so etwas wie eine kontinuierliche Biografie zu erarbeiten."
Mit der Biografie Harry Graf Kesslers ist Friedrich Rothe ein kleines Meisterwerk gelungen. Mit einem feinen Gespür für Ironie, frei von Spekulationen, schafft er es, die vielschichtige Persönlichkeit Harry Graf Kesslers anschaulich und packend darzustellen. Bereinigt von den üblichen Klischees, betrachtet Rothe die Figur Kesslers, eingebettet in die historische Zeit - und bei allem Respekt vor dessen Leistungen -, kritisch. Als einen Mann, der sich mit seinen Größenwahnfantasien immer wieder selbst im Wege stand. Der es jedoch durch die Hinterlassenschaft seiner Tagebücher zu einer der interessantesten Chronisten des vergangenen Jahrhunderts gebracht haben dürfte.
Friedrich Rothe: Harry Graf Kessler - Biografie
Siedler Verlag, München 2008