Von Free Jazz bis zur Neuen Musik

Von Matthias R. Entreß · 06.11.2005
Seit letztem Jahr findet das Total Music Meeting in der Berlinischen Galerie statt. Während das Jazzfest versucht, den Begriff Jazz sehr weit zu fassen, ist beim Total Music Meeting der Free Jazz nur der Anfang des Spektrums improvisierter Musik, die über Elektronik und Multimedia bis hin zu den Klängen und Formen der komponierten Neuen Musik reicht.
Ein Maler am Klavier legte die Wurzeln des Free Jazz frei und ließ die Musik in den siebten Himmel steigen. Das TTT Ensemble mit Stargast Markus Lüpertz, belebte das fröhlich-anarchische Konzept des freischweifenden Geistes wieder, das aller improvisierten Musik zugrunde liegt. Und Malerfürst Lüpertz war dabei der Ideengeber.

Lüpertz: "Ich dilettiere in der Musik und ich versuche einfach dadurch, dass ich Töne von mir gebe, Profimusiker so zu interessieren, so zu überraschen, dass sie diese Klangabläufe auffassen und dann sofort verarbeiten, in eine professionelle Musik umwandeln, und das ist das Aufregende für mich, ich habe dadurch die Chance, diesen Raum, den ich dort betrete, und wie darauf die Profimusiker reagieren, das hat mich immer wahnsinnig fasziniert, und, was natürlich die Voraussetzung dafür ist, denen hat's auch Spaß gemacht, und mir macht's Spaß. "

Dass dieser Auftritt so hymnisch und lyrisch geriet, mag auch an Lüpertz’ leichthändig gemaltem Landschaftsbild "Unser täglich Brot – dithyrambisch III" gelegen haben, das leuchtend gelb hinter der provisorischen Bühne in der Treppenhalle der Berlinischen Galerie prangte, und das schon 1972 seinen Anspruch als Großmaler der Epoche verkündet hatte. Und daran, dass die Berlinische Galerie ein guter Ort für diese Veranstaltung ist.

Aber so in seligem Gedenken verloren ging es doch nicht weiter beim diesjährigen Total Music Meeting, das mit seinen zwölf Konzerten an dreieinhalb Tagen wie immer parallel zum Jazzfest Berlin stattfand. Dort standen die üblichen großen Namen des Mainstream-Jazz wie Joe Zawinul oder Charlie Hadens in die Jahre gekommenes Liberation Music Orchestra, in diesem Jahr zusammen mit Blicken in die italienischen und türkischen Jazzszenen auf dem Programm.

Das Total Music Meeting dagegen speist sich mit großer Beharrlichkeit aus den immer sich erneuernden Potentialen der Freien Improvisierten Musik. 1968 war es als selbstorganisiertes Free-Jazz-Gegenfestival zu den Berliner Jazztagen gegründet worden, in den 80er Jahren betrachtete man diese Parallelität als sinnvolle Aufgabenverteilung, aber heute redet man weder von Konkurrenz noch von Kooperation. Freie Musik und Jazzfest, das passt nicht zusammen, sagt Musiker und künstlerischer Leiter des Total Music Meetings Wolfgang Fuchs:

Fuchs: "Da wird man nicht eingeladen als Free Jazzer, die wollen mitswingen, mitschnipsen mit den Fingern und sowas erfüllt man ja alles nicht, und so merken die Leute halt, dass sie sich selbst organisieren müssen und entsprechende Formen entwickeln müssen, und auf dem Weg sind wir eigentlich immer noch. "

Nur folgerichtig ist, dass nun, beginnend mit den gleich gesinnten Initiativen in Rom und Den Haag begonnen wird, ein europäisches Netzwerk der freien Musik aufzubauen, um Musiker in anderen Hauptstädten und Metropolen dazu zu ermutigen, sich ebenfalls zu organisieren, was Hörern wie Musikern gleichermaßen zugute kommt.

Wie sich in den fast immer ausverkauften Konzerten in der Berlinischen Galerie zeigte, ist das Publikum gar nicht so klein und gar nicht so spezialisiert. Extra sogar aus dem Ausland Angereiste sitzen neben Schnupperhörern, und alle Generationen sind vertreten. Es gibt die kulturelle Neugierde ja noch! Ungebrochen, eher frischer als früher noch ist die Lust auf das Hören unerhörter Klänge.

Dabei gibt Jugend nicht den Ausschlag! Mit welcher unangestrengten Leichtigkeit das Trio um den schon zerbrechlich wirkenden 71-jährigen Kontrabassisten Barre Phillips die avantgardistischen Spieltechniken der komponierten Neuen Musik für seine Improvisationen nutzte, frappierte und entzückte die atemlosen Zuhörer. Wie die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin sind auch die Grenzen zwischen Neuer Musik und Jazz nun ganz eingeebnet. Hatten früher die grellen Klänge der Neuen Musik noch als Arsenal für die Materialschlachten des Free Jazz hergehalten, sind die heutigen Spielweisen weitaus konzentrierter und formbewusster, und weniger ekstatisch – der Begriff Jazz scheint seine Gültigkeit verloren zu haben; man nenne es Freie Musik. Eine Freie Musik, die nach wie vor aus dem Zusammentreffen ausgeprägter Individualisten erwächst.

Wenn man über das zugrundegelegte musikalische Material spricht, so war wohl keines abseitiger und hoffnungsloser für den herkömmlichen Musikbegriff wie jenes der Live-Elektronischen Improvisationen der beiden Briten Richard Barrett und Paul Obermayer, die sich wie hungrige Tiger auf Klaviatur, Computerkeyboard und Regler stürzten. Richard Barrett sagt:

Barrett: "Was uns angeht, so hat es durchaus emotionalen Ausdruck. Zwar nicht im Sinne von traurig oder glücklich, aber Musik ist ja dadurch so interessant, weil ihre Emotionalität so viel komplexer als das ist. Bei elektronischen Instrumenten gibt es zwar nicht diesen Kontakt zwischen dem Körper und einem Instrument, aber wir haben lange daran gearbeitet und unsere Geräte danach ausgewählt, dass diese Distanz vom hörbaren Klang in unserer Vorstellung beim Spielen keine Bedeutung mehr hat. "

In Deutschland ist das Total Music Meeting die einzige Gelegenheit für ein größeres Publikum, die abseits der öffentlichen Wahrnehmung entwickelten Sprachen und Formen, hier vom jungen Magda Mayas Quartett aus Amsterdam, das am Freitag sein Festival-Debüt feierte, kennen zu lernen. Dabei sieht sich das Total Music Meeting seit dem Wechsel in der Leitung im Jahr 2000 einer finanziellen Notlage und einem unangemessenen Rechtfertigungszwang gegenüber. Die Frontfrau, die jährlich ihre eigene Existenz mit der Organisation des Meetings aufs Spiel setzt, ist Helma Schleif, Geschäftsführerin der Free Music Production.

Schleif: "Viele Leute sagen, Festivals wie diese könne man mit dem kleinen Geld, dies Jahr sind es wieder 25.000 Euro aus Landesmitteln, gar nicht machen – wir tun's und wir zeigen es jedes Jahr, dass es geht! Diese Musik, wie sie auf dem Total Music Meeting traditionell gepflegt wird, ist für mich zeitgenössische Musik im besten Sinne. Eine andere Art von musikalischer Zeitgenossenschaft, die soviel aussagen kann, die zu solchen Steigerungen im Stande ist, suche ich in anderen Musikrichtungen vergeblich. "

Es mag sonderbar klingen, besonders angesichts des desaströsen Etats, der eigentlich zum "Erfolg" verdammt, aber eine Qualität des Total Music Meetings, das auch anderen, internationalen Veranstaltern als Informationsquelle dient, war immer, dass nicht alles gelingt. Das beflügelt den Geist, lässt Tugenden von Untugenden, musikalische und somit auch menschliche voneinander scheiden. Verlorene Zeit ist das niemals, und keiner geht weg, nur weil es ihm nicht "gefällt"

Als besondere Ehre rechnen es sich die Totalmusicmacher an, dass der amerikanische Urvater des Free Jazz, Cecil Taylor zum Abschluss des Festivals heute Nachmittag ein Überraschungskonzert zusammen mit seinem englischen Lieblingsschlagzeuger Tony Oxley gab; unsterblich schon zu Lebzeiten und trotz seiner 75 Jahre mit brennendem Elan, und technisch unschlagbar.
Der furiose Abschluss eines aufregenden Festivals.