"Von Kafka habe ich gelernt, dass nichts auf der Welt sicher ist"

Von Evelyn Bartolmai |
Für sein der Toleranz und Humanität verpflichtetes literarisches Gesamtwerk ist der israelische Schriftsteller Amoz Oz mit dem renommierten Franz-Kafka-Preis ausgezeichnet worden. Mit dem Prager Autor fühle er sich besonders verbunden, sagt Oz. Seine Bücher politisch zu lesen, sei nicht richtig.
Kater Freddy zieht beleidigt von dannen, als ich - anstatt ihn zu kraulen - mir lieber von seinem Herrchen erzählen lasse, dass er noch nie im Leben etwas geschrieben habe, um dafür geehrt zu werden. Ganz im Gegenteil, sagt Amos Oz, sogar wenn er für seine Arbeiten eine Strafe hätte zahlen müssen, so hätte er doch immer wieder nur dieselben Bücher geschrieben. Dass er dafür nun auch den Preis der Franz-Kafka-Gesellschaft erhalten hat, habe ihn natürlich sehr gefreut.

Amos Oz: "Ganz besonders, weil es der Preis im Namen eines Schriftstellers ist, der mir schon im jugendlichen Alter von 16 Jahren sehr nahe war. Seit ich Kafka zu lesen angefangen habe, hat mich der Satz aus dem Buch "Der Prozess" beeindruckt: 'Ich weiß, dass nichts auf der Welt sicher ist'. Ich habe daraus gelernt, dass man alles von beiden Seiten betrachten muss. Wenn man mir ein Blatt zeigt, dann muss ich es umdrehen und auch die andere Seite betrachten. Ich habe ja damals im Kibbuz gelebt. Wir haben nicht gedacht, dass alles erlaubt ist und auch nicht, dass alles möglich ist. Aber wir haben geglaubt, dass alles sicher ist. Und von Kafka habe ich gelernt, dass nichts auf der Welt sicher ist."
Dennoch sieht sich Amos Oz ganz und gar nicht in der Nachfolge von Franz Kafka, dessen Stil des Absurden ja sogar ein neues Wort hervorgebracht hat. Die Lust am Erzählen und die Neugier verbinde ihn hingegen sehr eng mit dem Prager Kollegen.

"Ich glaube sehr an die Neugier. Denn ich meine, ein neugieriger Mensch ist besser als einer, der sich für nichts interessiert. Wer neugierig ist, ist auch ein besserer Familienmensch, ein besserer Nachbar und sogar ein liebevollerer Mensch. Wer neugierig ist, vermag sich besser in die Lage des anderen zu versetzen, denn er fragt sich ja: Was hätte ich an seiner oder ihrer Stelle getan? Wie wäre ich an seiner oder ihrer Stelle? Und das ist eine sehr ethische Frage."

"Geschichten über einsame und unglückliche Menschen, die nicht im Mittelpunkt stehen, sondern am Rande der Gesellschaft leben", so beschreibt Amos Oz sein literarisches Thema. Und dieses bearbeitet er nicht in kafkaesker Weise, sondern in einem Stil, der mitunter ans Dokumentarische erinnert. Diesen Eindruck vermitteln ganz besonders die Kibbuz-Erzählungen, die einen nicht unbeträchtlichen Teil des Werkes von Amos Oz ausmachen. Auch sein jüngstes, im Frühjahr auf Deutsch erschienenes Buch "Unter Freunden" schöpft aus der Kibbuz-Realität, in der Amos Oz selbst viele Jahre seines Lebens verbracht hat und die er "ein einzigartiges Phänomen" nennt.

"Es war die einzige Revolution im 20. Jahrhundert ohne Gulags, ohne KZ und ohne Erschießungskommandos, ohne Zuchthäuser. Und es gibt sogar bis heute in keinem Kibbuz eine Polizeistation. Das ist eine interessante Revolution, bei der kein Blut vergossen wurde. Ob sie erfolgreich war? Nun, nicht besonders, aber sie ist auch nicht komplett gescheitert. Es ist eine Erfahrung, die bis heute noch nicht abgeschlossen ist, sondern andauert, und vielleicht müssen wir noch weitere Hundert Jahre warten, um genau zu wissen, was das Phänomen Kibbuz gebracht hat."

Und während die israelische Öffentlichkeit nicht mit Kritik an der Kibbuz-Idee geizt, hebt Amos Oz indes ihre Wandlungsfähigkeit hervor.

"Ja, der Kibbuz hat sich verändert und wird sich auch weiter verändern, das ist ganz normal und auch gut so, denn es ist ja keine dogmatische Institution und auch keine Religion. Ein Kibbuz heute ist ein wesentlich angenehmerer Ort zum Leben als vor 50 oder gar 60 Jahren. Es gibt mehr Toleranz, mehr Geduld auch mit den Menschen und weniger Regeln mit Ausrufezeichen. Also ich denke schon, dass es heute dort sehr viel besser als am Anfang ist."

In mehr als 40 Sprachen der Welt sind die Bücher von Amos Oz inzwischen übersetzt, und nahezu täglich bekommt er Briefe, in denen sich Leser bedanken und oft auch ihre eigenen Geschichten erzählen. Das liegt in der Natur des Menschen, sagt er, von klein auf mag doch jeder gern Geschichten. Hat ein Schriftsteller deshalb Einfluss auf Menschen? Amos Oz bezweifelt das, trotz seines Weltruhmes.

"Einfluss ist eine so rätselhafte Sache. Denn man kann ihn weder messen noch benennen. Ein Mann im Restaurant bestellt ein Fischgericht. Nach einer Weile ruft er den Kellner und sagt: Ach, ich möchte doch lieber Huhn anstatt Fisch. Warum, was ging ihm plötzlich durch den Kopf? Er selber weiß es ja nicht, was ihn zu dieser Entscheidung bewogen hat. Nur ganz wenige Menschen werden sagen, sie haben ein Buch gelesen und danach ihre Meinung geändert. Und selbst wenn das geschieht, sind sie sich dessen nicht bewusst, denn wie will man das ermitteln? Das bleibt ein großes Geheimnis. Und daher kann ich nicht messen oder sagen, ob ich Einfluss habe. Denn obwohl meine Leserschaft inzwischen in die Millionen geht, heißt das ja nicht, dass ich Einfluss auf sie habe."

Besonders irritiert und traurig jedoch ist Amos Oz, wenn man seine Bücher als ein verkapptes politisches Manifest liest. Natürlich habe er eine politische Meinung, sagt der Schriftsteller, aber wenn er seiner Regierung sagen wolle, was er von ihrer Politik hält und dass sie sich zum Teufel scheren soll, dann schreibe er einen Zeitungsartikel und kein Buch.

"Wenn Abraham Rachel liebt und Rachel liebt Schimon, dann ist das keine Politik, sondern eine menschliche Geschichte, die immer und überall passiert. Wenn ein Junge wütend auf seinen Vater ist und ihm nicht vergeben kann, dann ist das auch keine Politik, sondern eine sehr menschliche Geschichte, und solche Geschichten schreibe ich. Über die kleinen und die großen Dinge im Leben, über die Liebe und die Einsamkeit, über Hass und Freundschaft, über Ehrgeiz – wirklich die alltäglichen Dinge. Ich schreibe nicht über Palästinenser und Israelis, das mache ich in Zeitungsartikeln; und meine Bücher als Allegorie über Israelis und Palästinenser zu lesen ist einfach nicht richtig und eine falsche Sicht auf Literatur."

Längst hat sich Kater Freddy wieder hereingeschlichen und streicht schnurrend um meine in etwas staubigen Schuhen steckenden Füße – so, als wolle er sein Herrchen ermuntern, doch noch ein kleines Geheimnis preiszugeben. Und Amos Oz verrät lächelnd, was ihn oftmals zu neuen Geschichten inspiriert.

"Ja, Schuhe erzählen mir immer Geschichten. Und wenn ich auf die Schuhe von Leuten schaue, ist es, als ob ich ihre Geschichte lese. Die Menschen mögen sich ja selbst belügen, aber ihre Schuhe verraten die wahre Geschichte."
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