Von Krankheit und Familienzusammenhalt
Die südafrikanische Schriftstellerin Nadine Gordimer erzählt in "Fang an zu leben" die Geschichte des krebskranken Paul. Nach seiner Strahlentherapie kommt er bei seinen Eltern unter, um seine Frau und die Kinder nicht zu gefährden. Mit allwissender Erzählstimme berichtet die Literaturnobelpreisträgerin von Liebe, Verlust, Lügen und Wahrheit innerhalb einer Familie.
Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag. Der 35-jährige Paul Bannerman steht vor seinem Elternhaus, gerade aus der Klinik entlassen. Man hat ihm die Schilddrüse entfernt. Krebs. Doch statt seiner Mutter in die Arme zu fallen, halten beide Abstand voneinander, lächeln sich nur an, denn der Kranke strahlt. Die postoperative radioaktive Jodtherapie zwingt ihn in eine zehntägige freiwillige Quarantäne.
Niemand soll ihm zu nahe kommen. Seine Kleidung, alles, was er anfasst, ausscheidet, berührt, ist verstrahlt. Um Frau und Kind nicht zu gefährden, schlüpft er für diese Zeit bei seinen Eltern unter. Vor allem seine Mutter Lyndsay kümmert sich um ihn getreu der gleich anfangs im Roman geäußerten Überzeugung:
"Eltern haben die Verantwortung übernommen, Kinder auf die Welt zu bringen… und sie leben mit dem ungeschriebenen Gesetz, dass das Leben eines Kindes… infolgedessen höher zu bewerten ist als das des ursprünglichen Lebensspenders."
Eine Bewährungsprobe für alle Beteiligten, eine Zeit, sich über sich selbst Rechenschaft abzulegen, Rückschau zu halten, ihr Leben, ihre Ansichten, ihre Beziehungen auf den Prüfstand zu stellen.
Paul ist Ökologe. Er, der sich der Bewahrung der Natur verschrieben hat, muss sich jetzt damit auseinandersetzen, dass sich ein Teil seiner eigenen Natur gegen ihn verschworen hat, ihn bedroht. Die erzwungene Arbeitspause, der erschöpfte Körper bringen ihn dazu, über seine Arbeit, deren oftmalige Vergeblichkeit und über seine Ehe nachzudenken.
Seine Frau Berenice, Benni genannt, ist zur Vizechefin einer renommierten Werbeagentur aufgestiegen. Sie vertritt unter anderem Firmen der Tourismusbranche, die in eben jenen Naturschutzgebieten Hotels errichten wollen, die Paul vor der Zerstörung zu bewahren versucht. Arbeitsplätze gegen Naturschutz. Erstaunlich ist, dass dieser Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie die Ehe bislang verschont hat, obwohl er in Südafrikas Politik durchaus eine gewichtige Rolle spielt.
Nadine Gordimer spielt in "Fang an zu leben" auf drei konkrete Projekte an, den Bau eines Atomreaktors sowie einer Autobahn und den großräumigen Mineralabbau in einem besonders sensiblen Dünengebiet. Die 82-jährige Literaturnobelpreisträgerin, frühzeitig durch ihr unerschrockenes literarisches und persönliches Engagement gegen die Apartheid bekannt geworden, hat ihr Interesse am Zustand der Gesellschaft nie verloren. Von apolitischer, schöngeistiger Altersmilde keine Spur.
Doch das ist nur eine Seite des Romans und nicht seine wichtigste. Ungeschminkt, ohne falsche Scheu, in geradezu greller Nüchternheit berichtet die allwissende Erzählerstimme von einem Ehebruch: Pauls Mutter, eine erfolgreiche Rechtsanwältin aus Südafrikas Bürgerrechtsbewegung hatte vier Jahre lang, nachdem die Kinder aus dem Haus waren, ein Verhältnis mit einem Kollegen. Erst als alles vorbei war, hat sie dies ihrem Mann Adrian gestanden. Der hatte allerdings schon lange davon gewusst, aber in der Hoffnung geschwiegen, dass seine Frau zu ihm zurückfindet. Niemand hat davon erfahren.
Bliebe noch von Adrian zu berichten, der für Lyndsays Karriere auf seinen Berufswunsch Archäologe verzichtet hatte und Manager wurde. Er spielt im letzten Teil des Romans eine wichtige Rolle. Doch die soll an dieser Stelle ausgespart bleiben, um nicht jene Spannung zu nehmen, die den Roman in seiner zweiten Hälfte vorantreibt. Jedenfalls wird der Ausbruch der Krankheit zum Symbol für teilweise dramatische Veränderungen bei allen vier Beteiligten.
Im Alterswerk Nadine Gordimers spiegeln sich noch einmal all jene Themen, mit denen sie sich schon ihr Leben lang beschäftigt hat. Es geht um existentielle Krisen, Krankheit und Tod, Liebe und Verlust, Lüge und Wahrheit, Politik, Rassismus, diesmal auch Aids.
Doch werden alle diese Themen im Unterschied zu ihren früheren Romanen nur gestreift. Nahm sich Nadine Gordimer früher 500, 600 Seiten Zeit, um ihre Charaktere und deren moralische Konflikte facettenreich und vielfarbig auszumalen, so beschränkt sie sich diesmal auf 200 Seiten und belässt es bei Andeutungen, knappen Zusammenfassungen.
Die Figuren bekommen dadurch etwas Skizzenhaftes, Unfertiges. Man wartet geradezu auf Details. Doch die kommen nie. Das ist letztlich enttäuschend.
Noch ein letztes Wort zur Übersetzung. Sie stolpert an einigen wenigen Stellen über unnötige, sinnentstellende Anglizismen, ist sonst jedoch flüssig und flott und bewahrt so Gordimers Erzählfluss.
Nadine Gordimer: Fang an zu leben
Übersetzt von Malte Friedrich
Berlin Verlag, München2006
217 Seiten, 19,90 Euro
Niemand soll ihm zu nahe kommen. Seine Kleidung, alles, was er anfasst, ausscheidet, berührt, ist verstrahlt. Um Frau und Kind nicht zu gefährden, schlüpft er für diese Zeit bei seinen Eltern unter. Vor allem seine Mutter Lyndsay kümmert sich um ihn getreu der gleich anfangs im Roman geäußerten Überzeugung:
"Eltern haben die Verantwortung übernommen, Kinder auf die Welt zu bringen… und sie leben mit dem ungeschriebenen Gesetz, dass das Leben eines Kindes… infolgedessen höher zu bewerten ist als das des ursprünglichen Lebensspenders."
Eine Bewährungsprobe für alle Beteiligten, eine Zeit, sich über sich selbst Rechenschaft abzulegen, Rückschau zu halten, ihr Leben, ihre Ansichten, ihre Beziehungen auf den Prüfstand zu stellen.
Paul ist Ökologe. Er, der sich der Bewahrung der Natur verschrieben hat, muss sich jetzt damit auseinandersetzen, dass sich ein Teil seiner eigenen Natur gegen ihn verschworen hat, ihn bedroht. Die erzwungene Arbeitspause, der erschöpfte Körper bringen ihn dazu, über seine Arbeit, deren oftmalige Vergeblichkeit und über seine Ehe nachzudenken.
Seine Frau Berenice, Benni genannt, ist zur Vizechefin einer renommierten Werbeagentur aufgestiegen. Sie vertritt unter anderem Firmen der Tourismusbranche, die in eben jenen Naturschutzgebieten Hotels errichten wollen, die Paul vor der Zerstörung zu bewahren versucht. Arbeitsplätze gegen Naturschutz. Erstaunlich ist, dass dieser Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie die Ehe bislang verschont hat, obwohl er in Südafrikas Politik durchaus eine gewichtige Rolle spielt.
Nadine Gordimer spielt in "Fang an zu leben" auf drei konkrete Projekte an, den Bau eines Atomreaktors sowie einer Autobahn und den großräumigen Mineralabbau in einem besonders sensiblen Dünengebiet. Die 82-jährige Literaturnobelpreisträgerin, frühzeitig durch ihr unerschrockenes literarisches und persönliches Engagement gegen die Apartheid bekannt geworden, hat ihr Interesse am Zustand der Gesellschaft nie verloren. Von apolitischer, schöngeistiger Altersmilde keine Spur.
Doch das ist nur eine Seite des Romans und nicht seine wichtigste. Ungeschminkt, ohne falsche Scheu, in geradezu greller Nüchternheit berichtet die allwissende Erzählerstimme von einem Ehebruch: Pauls Mutter, eine erfolgreiche Rechtsanwältin aus Südafrikas Bürgerrechtsbewegung hatte vier Jahre lang, nachdem die Kinder aus dem Haus waren, ein Verhältnis mit einem Kollegen. Erst als alles vorbei war, hat sie dies ihrem Mann Adrian gestanden. Der hatte allerdings schon lange davon gewusst, aber in der Hoffnung geschwiegen, dass seine Frau zu ihm zurückfindet. Niemand hat davon erfahren.
Bliebe noch von Adrian zu berichten, der für Lyndsays Karriere auf seinen Berufswunsch Archäologe verzichtet hatte und Manager wurde. Er spielt im letzten Teil des Romans eine wichtige Rolle. Doch die soll an dieser Stelle ausgespart bleiben, um nicht jene Spannung zu nehmen, die den Roman in seiner zweiten Hälfte vorantreibt. Jedenfalls wird der Ausbruch der Krankheit zum Symbol für teilweise dramatische Veränderungen bei allen vier Beteiligten.
Im Alterswerk Nadine Gordimers spiegeln sich noch einmal all jene Themen, mit denen sie sich schon ihr Leben lang beschäftigt hat. Es geht um existentielle Krisen, Krankheit und Tod, Liebe und Verlust, Lüge und Wahrheit, Politik, Rassismus, diesmal auch Aids.
Doch werden alle diese Themen im Unterschied zu ihren früheren Romanen nur gestreift. Nahm sich Nadine Gordimer früher 500, 600 Seiten Zeit, um ihre Charaktere und deren moralische Konflikte facettenreich und vielfarbig auszumalen, so beschränkt sie sich diesmal auf 200 Seiten und belässt es bei Andeutungen, knappen Zusammenfassungen.
Die Figuren bekommen dadurch etwas Skizzenhaftes, Unfertiges. Man wartet geradezu auf Details. Doch die kommen nie. Das ist letztlich enttäuschend.
Noch ein letztes Wort zur Übersetzung. Sie stolpert an einigen wenigen Stellen über unnötige, sinnentstellende Anglizismen, ist sonst jedoch flüssig und flott und bewahrt so Gordimers Erzählfluss.
Nadine Gordimer: Fang an zu leben
Übersetzt von Malte Friedrich
Berlin Verlag, München2006
217 Seiten, 19,90 Euro