Von "Leadern" und "Anführern"

Gangsterstyle und Möchtegern-Rambos in der Politik

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Wladimir Putin mit Gewehr über der Schulter auf einem Pferd sitzend.
Insze­niert sich gern mit Spie­gel­brille und Waffe: Russlands Präsident Wladimir Putin. © picture alliance / dpa / Alexei Druzhinin / Sputnik
Gedanken von Sylvia Sasse · 25.09.2019
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Wird vom "Leader" gesprochen, übersetzen deutsche Medien dies oft mit "Anführer". So wird das Wort Führer vermieden. An der Übersetzung lässt sich aber auch der zunehmende Gangs­terstyle der Politiker ablesen, meint die Literaturwissenschaftlerin Sylvia Sasse.
Seit einige Staatspräsidenten sich selbst als starke "Leader" bezeichnen, taucht in der deutschsprachigen Presse immer wieder das Wort "Anführer" auf. Wie sonst soll man "Leader" ins Deutsche übersetzen, ohne "Führer" sagen zu müssen? Also hat man sich für den "Anführer" entschieden. Das liest sich dann so: "Trump sparte nicht an Lob für Kim und nannte ihn einen 'großen Anführer'". Aber auch Merkel wird in der deutschsprachigen Presse zur "Anführerin der freien Welt", wenn sie, wie zuletzt in Harvard, als "Leader" bezeichnet wird: "The scientist who became a world leader".

Politiker posen wie Mafiabosse

Die Semantik von "Anführer" jedoch, so sagt es uns der Duden, weist in der deutschen Sprache ganz klar in eine Richtung: Ein Anführer führt keinen Staat, sondern eine Bande. Ein Anführer hat kein Amt, er ist tendenziell ein Rebell oder ein Krimineller. Was auf den ersten Blick nur ein Übersetzungsproblem zu sein scheint, ist eigentlich ein Ersetzungsproblem. Dort, wo schon im Original die Amtsbezeichnung stehen könnte, etwa "Präsidentin" oder "Kanzlerin" oder "Regierungschef", da steht plötzlich "Leader". So lenkt der "Anführer" oder die "Anführerin" die Aufmerksamkeit weg vom Amt hin zum Führungsanspruch der Person.
Will man jenseits dieser Übersetzungskomik an der aktuellen ungelenken Verwendung des Wortes "Anführer" im Deutschen etwas ablesen, dann dessen unfreiwilligen Realismus: den um sich greifenden Gangsterstyle in der Politik.
Donald Trump hält in einem Militär College stolz eine Waffe in die Höhe.
Auch US-Präsident Donald Trump präsentiert stolz ein Gewehr.© Getty / Richard Ellis
Putin inszeniert sich gern mit Spiegelbrille und Pistole, die er wie ein Filmmafiaboss hält, Bolsonaro formt im Wahlkampf die Finger zur Pistole, Trump zeigt bei einer Rede die Luftpistole, Salvini posiert mit Maschinengewehr, Erdoğan wirbt für sich als "Heldenkrieger", in der Hand eine Waffe. Diese Selbstinszenierungen von Präsidenten und Politikern bilden das aktuelle Schreckenskabinett politischer Ikonografie. Auf den Fotos zeigen sie sich nicht nur als Möchtegern-Rambos, sondern auch als williges Instrument der Waffenindustrie. Aber auch jenseits der primitiven Pose: Einige Staatschefs sind vermutlich, andere nachgewiesenermaßen kriminell.

Die gezielte Verletzung der Verfassung

Wenn wir versuchen, diese politische Praxis mit Theorien zur Wiederkehr des Autoritären zu fassen, dann greift das zu kurz. Auch mit der Figur des Tyrannen, dem der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt sein jüngstes Buch widmete, lässt sich diese Figur nicht beschreiben. Selbst der Schurke, den Philosoph Jacques Derrida schon 2003 ins Spiel brachte, scheint als Beschreibungsfigur unzureichend. Schurken, so Derrida damals, sind jene, die "ihre Staatspflichten gegenüber der Weltgemeinschaft und die Verpflichtungen des Völkerrechts missachten".
Das klingt sehr aktuell. Allerdings handelt sich bei den aktuellen "Anführern" auch um Schurken in einem anderen Sinne. Für Derrida betraf das Schurkische vor allem das Verletzen des Völkerrechts im Namen des Stärkeren (Stellvertreterkriege) oder auch im Namen des Arbeitsplatzes (Waffenexporte in Krisenländer).
Die schurkische Wende jedoch, die wir im Moment erleben, wendet den Anspruch auf eigennützige Souveränität nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Diese zielt auf die Verletzung der Verfassung, auf Minderheitenrechte und auf Kritiker. Sie geht oft – ausgerechnet – mit dem Versuch einher, den eigenen Gesetzesübertritt (Korruption, Ämterpatronage, Verhaftung von Kritikern) durch die Kriminalisierung von anderen zu verschleiern. Oder anders formuliert: Diejenigen, deren politische Korrumpierbarkeit immer wieder öffentlich wird (zuletzt "Ibizagate"), sind auch diejenigen, die Kriminalität grundsätzlich bei der Ausländerin, dem Asylbewerber oder den Armen (Stichwort "Sozialhilfebetrug") vermuten.

Wie lässt sich unsere Demokratie schützen?

Die neue Allianz zwischen politisch Autokratischem und ökonomisch Korruptem, die das Politische der Logik des Deals unterordnet, weist uns aber auch auf eine wichtige Frage hin: Warum sind unsere Demokratien für dieses Schurkische so anfällig? Oder anders: Wie lassen sich Demokratien vor dem Schurkischen besser schützen. Wird es zum Beispiel in den USA nach Trump Bestrebungen geben, die Macht des Präsidenten – der in der Lage ist, Demokratie auszuhebeln – einzuschränken?
Wie also lässt sich verhindern, dass aus dem "Anführer" als Übersetzungsfehler ein dauerhaftes politisches Modell wird?

Sylvia Sasse lehrt Slavistische Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und ist Mitbegründerin und Mitglied des Zentrums Künste und Kulturtheorie (ZKK). Sie ist Herausgeberin von "novinki" und von "Geschichte der Gegenwart".

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