Rehabilitiert den Weltschmerz!
Seit einiger Zeit stellt die Kulturwissenschaft eine Wiederkehr der Melancholie fest. Die hat durchaus ihre positiven Seiten, besonders in Musik und Kunst, aber auch in ganz alltäglichen Lebensbereichen. Denn Schwermut hilft uns, innezuhalten.
Jazz-Musikerin Julia Hülsmann und Malerin Nadja Poppe sind sich einig: Melancholie ist eine kreative Lebensader, ein Pulsgeber für ihrer Kunst. Dabei wird für beide der zeitweise Rückzug aus dem turbulenten Alltag zur Überlebensstrategie.
Julia Hülsmann: "Es ist so etwas wie ein Motor, es zieht mich da immer hin zur Melancholie und gar nicht immer negativ. Es ist ein Gefühl, in dem ich etwas kreieren kann, etwas Neues aufbauen kann und damit auch ausleben kann!"
Nadja Poppe: "Melancholie ist ein ziemlich starkes Gefühl. Da ist die Innenwelt sehr stark. Wenn ich das jetzt im Kontrast zur Depression setzen würde, wo ich eher sagen würde, dass da eine innere Leere herrscht, also dass man da weniger Zugang zu sich hat und sich leer fühlt. Und bei einer Melancholie glaube ich, dass, auch wenn es eine Traurigkeit ist, sie ein sehr starkes Gefühl ist. Also sozusagen eine große innere Fülle herrscht."
Mit Gehör für die Zwischentöne
Melancholie als neue Lebensform? So weit würde wohl keine der beiden Künstlerinnen gehen, aber dass eine Prise Weltschmerz gut ist und das nicht nur in der Kunst – dem würden beide zustimmen.
Immer öfter ist heute auch an anderer Stelle von der Rückkehr der Melancholie die Rede, wird diese Rückkehr zum Thema wissenschaftlicher Diskurse und findet seinen Platz in "Lifestyle-Zeitschriften" oder Lebensratgebern. Mariella Sartorius zum Beispiel malt in ihrem Buch "Die hohe Kunst der Melancholie" ein positives Bild:
"Melancholiker gelten als verfeinerte Naturen: mit dem absoluten Gehör für menschliche Zwischentöne ausgestattet, mit wachem Blick auch, wenn die Augenlieder vor müdem Überdruss schwer werden."
Sensibel, empathisch, aufmerksam
Der moderne Melancholiker: sensibel, empathisch, aufmerksam. Mit feinen Antennen für seine Mitmenschen ausgestattet, kann er beides sehen, die dunkle und die helle Seite des Lebens.
"Der Melancholiker hat einen mageren schlanken Körper, schwarze Haare, eine bleiche, gelbliche Gesichtsfarbe, die Haut ist braun, schwärzlich, trocken und schuppig, während die Nase eine dunkelrote Farbe hat. Die Physiognomie ist stier und unbewegt, aber die Gesichtsmuskeln sind konvulsivisch gespannt und drücken Traurigkeit, Furcht oder Schreck aus. Die Augen sind gegen die Erde gesenkt oder in die Ferne gerichtet, der Blick ist schielend, unruhig und argwöhnisch. Der Melancholische versagt sich jede Bewegung, bringt sein Leben in Einsamkeit und im Müßiggange zu."
So beschrieb der französische Arzt Jean Etienne Dominique Esquirol 200 Jahre zuvor den "typischen" Melancholiker.
Einsamkeit, Müßiggang und Rückzug. 1820 ist der Melancholiker ein von Schwermut geplagter Mensch - eine jämmerliche, ja fast unheimliche Gestalt – durch die sich schon in den Jahrhunderten zuvor Gesellschaften bedroht fühlten.
Trägheit des Herzens als Todsünde
Die Kirche sah Melancholie sogar als Versuchung des Teufels, der seine Opfer durch endlose Debatten mit sich selbst in den Wahnsinn treiben wollte.
Thomas von Aquin nannte sie "Tristitia saeculi" und zählte sie als "Trägheit des Herzens" sogar unter die Todsünden. So schrieb er in seiner "Summa Theologica":
"Der Mensch, mit Melancholie befallen, ihm ist im Ganzen die Freude an Gott abhanden gekommen."
Zu viel Nachdenken und Grübeln über das, was ist und woran alle zu glauben hatten, galt als Übel vor Gott. Einerseits. Andererseits sind Rückzug und Traurigkeit tief in die menschliche Natur eingeschrieben, sagt der Berliner Wissenschaftsjournalist und Buchautor Jörg Blech:
"Die schlechte Laune ist soweit in der Menschheit verbreitet, das Evolutionsmediziner sagen, die hat auch einen Zweck. Es gehört also zur menschlichen Natur dazu, mal nicht gut drauf zu sein. Dass wenn man nicht gut drauf ist, das man davon Vorteile haben kann, weil man seine Probleme angeht, weil man sie versucht, zu lösen. Man hat den Eindruck, dass der Geist etwas schärfer ist, wenn er nicht so gut drauf ist!"
Und die Kreativität wird angeregt. Der Weltschmerz als "Motor" für Denker und Künstler. Das, was für die Jazzmusikerin Julia Hülsmann und die Malerin Nadja Poppe gilt, hat eine lange Tradition, erklärt Hartmut Böhme, Berliner Professor für Kulturwissenschaften:
"Das hat auch eine literarische Tradition, geht auf Aristoteles zurück besser gesagt auf pseudo Aristoteles, der so etwas entwickelt hat wie die "Melancholia generosa". Also die Gönnerhafte spendende, reichhaltende Melancholie, für Politiker, Gönner, Führer, Künstler, Philosophen insbesondere. Das ist also ein Kreativitätspotential und eine Begabung und das ist etwas, was dazu geführt hat, dass Künstler und Philosophentheorie immer mit der Auffassung verbunden sind, das derjenige, der kreativ sein will, auch immer hinnehmen muss die Zustände der Schwärze, der negredo - deutsch gesagt der Schwermut, weil das jener Rückraum ist, aus dem heraus dann wiederum extatische Momente der Begnadung der Epiphanie, der Erleuchtung passieren."
Melancholie als schöpferische Kraft
In der Antike versah man die Melancholie mit positiven Vorzeichen, erkannt sie als schöpferische Kraft.
Niemand widersprach der Feststellung Aristoteles, dass "alle geistig hervorragenden Menschen Melancholiker gewesen sind". So sehr die Melancholie viele Jahrhunderte lang als psychisch zerstörerisch angesehen wurde, so hielt man sie eben doch gleichzeitig auch immer für künstlerisch fruchtbar. Nadja Poppe:
"Das man an der Schönheit der Welt leidet. Das man die Schönheit sieht und spürt, aber irgendwie sie nicht berühren kann, also nicht dahin kommt und deswegen leidet. Diese großen Gefühle und die Schönheit - das gehört für Künstler ja alles zusammen. Vielleicht auch, das etwas so schön ist, das man darüber traurig wird - das wäre so eine klassische Melancholie. Das man so versinkt darin. Dann kann man daran leiden, man kann das auch wieder schön finden, es gibt da, glaube ich, ein großes Spektrum!"
Albrecht Dürer gilt nicht nur wegen seines berühmten Bildes "Melancolia I" aus dem Jahr 1514 bis heute als Kronzeuge für melancholische Anmutungen. Sondern auch für ihn war die eigene Melancholie, "zugleich das dunkle Verhängnis und der dunkle Urgrund des Schöpferischen". Mehr noch: Dürer ging davon aus, dass man seine melancholische Disposition, die ihm eigenen Begabungen in den Künsten nutzen muss.
Für den Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme ist diese enge Beziehung von Kreativität UND Weltschmerz kulturhistorisch bis heute deutlich sichtbar:
"Man kennt das ja auch von Künstlern, dass sie auch auf keinen Fall therapiert werden wollen, weil sie das, was an Ihnen niedergeschlagen und ekstatisch ist, also jenseits der Norm, darauf wollen sie auf keinen Fall verzichten. Sie verstehen Psychotherapie als 'Normalisierung' und damit wäre es ein Raub an Begabung. Wenn man Melancholie aber als Kraftbatterie für Begabungsprozesse versteht, dann muss man geradezu dankbar dafür sein, wenn man in melancholische Zustände gerät."
Merkmale der wahren Künstlerexistenz
Melancholie, Introvertiertheit, Außenseitertum gehören spätestens seit der Aufklärung klar zu den Merkmalen einer wahren Künstlerexistenz. Das Reich der Melancholie war damit immer auch das Reich der Genies.
Die bildende Künstlerin Nadja Poppe, die in Dresden lebt und arbeitet, hat vor einigen Jahren für sich eine neue Ausdrucksform entdeckt. Ihre seitdem in schwarz-weiss gehaltenen Zeichnungen leben von der Reduktion. Nur mit einfachsten Mitteln wie Stift, Radiergummi, Tusche und Kohle schafft sie klare, düstere, aber durch witzige Titelgebungen auch immer humorvolle Bilder.
Besonders in ihren Porträts kommt Poppes Melancholie zum Ausdruck. Immer wieder blickt der Betrachter auf teilweise, manchmal auch komplett geschwärzte Gesichter. Rudimente einer Mimik, die Versunkenheit, Nachdenklichkeit und Verschlossenheit präsentieren. Nadja Poppe gelingt der Spagat zwischen dunkel und hell, zwischen Melancholie und Lebensbejahrung:
"Ich glaube, dass in meinen Bildern das der Humor oft schon enthalten ist: Es ist ein Changieren zwischen was Melancholischem, aber dann auch dass es immer schnell auch in was Humorvolles schwappt. Da ist immer auch ein untergründiger Witz dabei, weil ich da nie ganz hineinstürze, bildnerisch in so einen Abgrund."
Wandeln am Abgrund
Das Wandeln am Abgrund UND der kreative Balanceakt sind Teil der künstlerischen Arbeit und des Lebensbildes. Schöpferische Arbeit ist für Nadja Poppe ohne die, wie ein Brennglas wirkende, verstärkende Kraft der Melancholie beinah undenkbar.
"Eine Traurigkeit ist ein sehr tiefes Gefühl. Wenn man ganz tief in die Traurigkeit reingeht, dann kann man das auch transformieren. Aus einer Traurigkeit kann ganz viel entstehen. Da kommt man irgendwo ganz tief hin. Ich sag mal, wenn das jetzt eine Melancholie ist, die vielleicht einen Leidensdruck dann auslöst, dann kann das ja sicher auch zum kreativen Schaffen führen."
Doch der Absturz in das ganz Dunkle muss unbedingt vermieden werden. Nur im Wechsel zwischen hell und düster, zwischen heiter und schwermütig kann die Melancholie als kreativer Motor für die Kunst wirken.
Eine Prise Schwermut als Erfolgsrezept weit über die Welt der Kunst hinaus. Könnte das nicht ein Grund sein für die Rückkehr der Melancholie? Dass in ihr immer auch eine künstlerischer Attüde mitschwingt und den Melancholiker gleichsam als Kreativen adelt - wie es bereits 1771 im "Dictionnaire de Trévoux" beschrieben wurde:
"Es gibt eine süße Melancholie, die nichts anderes ist als eine angenehme Träumerei, eine liebliche Schwermut. Sie ist die Befindlichkeit einer Seele, die sich den lebhaften Versuchungen verschließt, die sie erschöpfen würden und sich vielmehr den Illusionen der Sinne hingibt und ihr Behagen im Nachdenken darüber findet, was ihr Schmerzen bereitet."
Stille im Alltagstrubel
Isolation, Rückzug, Abschottung – ab und zu aus dem Alltagstrubel in eine Stille zu gehen, sich zu erlauben, auch einmal " nicht gut drauf zu sein", wie der Wissenschaftsjournalist Jörg Blech es beschreibt, kann und sollte eine Weg für jeden seinauf neue Gedanken zu kommen und vielleicht sogar die besseren Entscheidungen zu treffen:
"Es gibt faszinierende Studien. Wenn man sich zum Beispiel ein Haus oder Wohnung kaufen will, ist es eigentlich besser, man ist eher ein bisschen melancholisch oder schlecht gelaunt, weil man dann die Dinge genauer prüft. Man hat also den Eindruck, dass der Geist ist schärfer ist, wenn er nicht ganz so gut drauf ist."
Doch häufig wird genau dieser Moment verpasst, unterdrückt, einfach weggeschoben. In der moderen Gesellschaft soll und muss der Mensch funktionieren, auch emotional, so Hartmut Böhme:
"Das Entscheidende an der bürgerlichen Gesellschaft ist ja die Arbeitsfähigkeit, und diese Arbeitsfähigkeit ist die Fähigkeit, sich anzuspannen, die Kräfte zu bündeln und zu konzentrieren, und dazu gehört Bewusstheit, Aufmerksamkeit, und auch eine gewisse Beherrschung, nämlich Selbstbeherrschung der Gefühle."
Müsste also nicht, unter dem Gesichtspunkt einer Arbeitskraftoptimierung, die Wiedereinsetzung der Melancholie als Krankheitsbild einen Siegeszug antreten? Einfach, weil sie für hochtechnisierte Arbeitsgesellschaften die billigere Variante ist im vergleich zur "Depression". Diese bedeutet für die Industriegesellschaft Arbeits- und letztlich damit auch Kapitalausfall. Die Melancholie hingegen ist wirtschaftlich betrachtet kostengünstiger. Der Psychotherapeut Günter Gödde lehrt seit vielen Jahren an der Berliner Akademie für Psychotherapie. Er findet den Begriff Melancholie mindestens diskutabel:
"Ich weiß nicht, ob man das unbedingt Melancholie nennen muss, aber dass man auf jeden Fall sich auch zurückzieht und dass man eher auch sozusagen introvertiert leben kann, das glaube ich schon. Aber ich glaube auch, dass man das nicht vermeiden oder umgehen kann. Ich glaube, man muss damit leben, es gehört dazu. Es gibt viele Anlässe im Leben, die einem doch zu schaffen machen, die man nicht gleich so leicht bewältigt oder verarbeitet. Also insofern ist die bessere Einstellung, sich das zuzugestehen, auch in dem jeweiligen Kontext, in dem das entsteht, und auch für sich selber transparent zu machen, warum bin ich jetzt so verstimmt, was ist eigentlich los mit mir."
Wenn die anderen mit den Augen rollen
Die Jazzpianistin Julia Hülsmann bricht ebenfalls eine Lanze für ein bisschen Melancholie im Alltag aller. Auch der Nichtkünstler. Zugleich aber weiß die Berlinerin aber auch um die Belastung, die diese dunkle Seite der Kreativität haben kann.
"Ich hab schon das Gefühl, dass es eher so gesehen wird, dass wenn jemand melancholisch ist, dass das eher schwach ist. Das dann die Leute mit den Augen rollen und musst du jetzt schon wieder so melancholisch sein oder nostalgisch kommt dann auch gerne in einem Atemzug, und so zu zurückgezogen oder zu emotional eben."
Mit diesem "Argwohn" gegenüber einer fruchtbaren, schöpferischen Melancholie, mussten sich Künstler immer wieder auseinandersetzen. Der französische Schriftsteller und Philosoph Paul Valery hielt die Künstler nicht für ungeschickt, wenn es darum ging, aus ihrem Leid ein Metier zu machen. Einer Klage, die sich gut verkaufen lässt. Melancholische Verzweiflung, die zur Mode wird. So schreibt Valery im ersten Band seiner "Cahiers":
"Der Literat treibt Handel mit allem, was er sieht, fühlt und liest. Er macht aus seinen Gefühlen eine Selbstveredelung. Seine Produktion, und sei sie auch unter schmerzlich-süssen Gefühlen entstanden, trägt er anschließend zur Börse."
Ist alles vergeblich?
Aber nicht nur Melancholie und Genie, sondern auch Krankheit und Melancholie gehören eng zusammen. Schon die Philosophen Griechenlands befanden, das menschliche Leben sei eine traurige Angelegenheit. Schließlich bleibe alles, was wir tun, vergänglich und letztlich vergeblich.
Aristoteles vermutete, dass jeder redlich denkende Mensch Melancholiker sein müsse. Spätstens seit dem Aufkommen der Romantik und der bürgerlichen Gesellschaft gibt es eine klare Trennung. Man unterscheidet in der Zeit der entstehenden Psychiatrien zwischen Schwermut als Kennzeichen des "überalltäglichen Herausgehobenen" und der schweren Melancholie oder auch Depression als Krankheit. Hartmut Böhme:
"Die Leute, die melancholisch sind und nicht herauskommen aus der Gedämpftheit, dem Ersterben und dem ständigen Niedergeschlagensein, wer darin gefangen ist und nicht wieder diese andere Seite der Melancholie, nämlich das Ekstatische und Begabte herausholen kann aus sich, der landet in der Tat schon um Achzehnhundert in psychiatrischen Anstalten oder wenigstens in Therapien. Daran sieht man, dass wir eine Differenzierung der Melancholie sehen. Und das es eine Art von ambivalenter Einstellung der der Melancholie gegenüber gibt, die bis heute gilt, in der Öffentlichkeit, aber auch in der Wissenschaft, Philosophie und Medizin."
Nicht verarbeitete Trauer als Auslöser
Nicht überall gilt diese Ambivalenz - vor allem in der Psychoanalyse wird seit Sigmund Freud die Melancholie kaum als kreative Schwermut angesehen, sondern meist als Krankheitszusstand, als eine Form der Depression. Auslöser dafür ist häufig eine nicht verarbeitet Trauer.
"Man hängt an Objekten, die unerreichbar sind, die längst gewissermassen in das Reich des Todes gehören und des Verfalls und wir können uns davon nicht trennen, während Trauerarbeit ja gerade darin besteht, dass wir zwar den Verlust empfinden dürfen und auch sollen aber im Laufe der Zeit uns davon lösen und uns wieder dem Leben zuwenden. Und von dort aus ist bei Freud die Melancholie pathologisiert. Und das gilt eben sehr viel im Bereich der Psychotherapie und der Medizin, dass Melancholie eine negative Attitüde ist."
Doch der Melancholie nach Freud mussten neue Namen gegeben werden. Neben der schon etwas abgenutzten "Depression" hat sich in den letzten Jahren vor allem das "Burn-Out-Syndrom" als neue Bezeichnung angeboten. Nach einer Statistik des Informationsdienstes Wissenschaft erkranken 18 Prozent der Bevölkerung in Deutschland im Laufe ihres Lebens mindestens einmal an dieser psychischen Störung.
Und die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Probleme im Beruf ist laut einer aktuellen AOK-Studie in den letzten 10 Jahren um fast 80 Prozent gestiegen.
Erfindung neuer Krankheitsbilder
Kritiker vermuten dahinter umtriebige Krankheitserfinder unter Psychiatern und Ärzten, die - begleitet von der Pharmaindustrie - zuständig sind für diesen Anstieg. Schon in seinem Buch "Die Krankheitserfinder" von 2003 hat Jörg Blech sich der mächtigen Pharamindustrie und den Erfindern immer neuer Krankheitsbilder und psychischer Störungen entgegengestellt.
"Und heute wird das auch auf den Marktplatz gezerrt: Entweder hast du eine Depression, dann hast du ein Stigma, oder ein Burnout, bist du ausgebrannt oder du hast eine Anpassungsstörung oder als Kind bist du zu hippelig. Es wird dann auf den Markplatz gezerrt und man soll es dann behandeln. Es entsteht ja auch ein Druck in der Gesellschaft, dass man seine Probleme professionell behandeln lässt."
Mag es für Mediziner und Pharmafirmen auch von großem Interesse sein, den Krankenkatalog um immer neue "mentale Verwirrungen" zu erweitern, so wäre den vermeintlich Betroffenen vielleicht mehr damit geholfen, sich der alten Bezeichnung - der Schwermut oder der mit der Kreativität verbandelten Melancholie zu erinnern?
"Die Melancholie gehört zur menschlichen Natur, ist etwas sehr Positives. Wir müssen sie nicht neu erfinden sondern nur wieder freilegen. Sie war immer da, durch Bestrebungen der Krankheitserfinder von Psychiatern ist sie überdeckt worden, weil in dieses normale Spektrum der menschlichen Natur hat man verschiedene Krankheitsbilder hineingedeutet, deswegen ist sie überlagert worden. Sie hat einen neuen Namen bekommen.
Der neue Name führt dazu dass man auch eine Diagnose stellen kann, man hat sie in das Reich der Medizin überführt und damit kann man sie behandeln. Man raubt der menschlichen Natur einen ganz wichtigen Aspekt und man verwandelt gesunde Menschen in Patienten!"
Selbstoptimierer und Berufsoptimisten
Dennoch was genau unterscheidet die Melancholie von der Depression? Der Psychotherapeut Günter Gödde plädiert für Begriffsschärfe:
"Ich würde schon sagen, dass Melancholie damit zu tun hat, dass man relativ introvertiert ist. Dass man sich aus sozialen Beziehungen tendenziell eher etwas gelöst hat.Und dass es vielleicht von daher ein Missverhältnis gibt zwischen Handlungsfähigkeit und Denkprozessen oder Grübeleien. Aber das andere ist schon eine große Ressource . Also sich Gedanken zu machen, sich mit vielen Dingen zu beschäftigen, die Probleme nicht einfach so hinzunehmen."
Melancholiker haben es unter lauter Selbstoptimierern und Berufsoptimisten heute schwer. Dabei kann ein wenig Melancholie ein gutes Korrektiv sein: Sie steht für Vorsicht, Überlegtheit, Zweifel. Dafür, innezuhalten, einen Schritt zurückzutreten und dem alltäglichen Treiben draußen skeptisch zu begegnen.
Wer viel grübelt, wird wohl seltener kopflose Fehl-Entscheidungen treffen. Nur, diese Haltung ist, so Hartmut Böhme, in den Chefetagen großer Konzerne nicht gern gesehen.
"Langsamkeit ,Bedächtigkeit oder Besonnenheit das sind alles Begriffe, die eigentlich eine Zeitordnung voraussetzen, die wir verloren haben und gerade das führt eben nicht zur Melancholie, sondern eben zur Depression. Der Mangel an Besonnenheit, an Ruhe und Muße, das macht depressiv."
In seinem Buch "Unglücklich sein: Eine Ermutigung" prognostizierte der Philosoph Wilhelm Schmid 2012 eine unmittelbar bevorstehende Zeit großer Melancholie. Angesichts allgegenwärtiger Krisenhysterie gelte es, den Blick nach innen zu richten und die Schwermut als produktive Kraft zu verstehen. Burnout und fehlende Visionen seien zum Markenzeichen unserer Gegenwart geworden. Genau die richtige Zeit für die Wiederentdeckung der Melancholie als schöpferisches Potenzial.
"Dieser Zusammenhang von Kreativität, Risikobereitschaft - heute redet man von risikoaffinem Verhalten - und Hinnehmenkönnen von melancholischen Zuständen, das ist jene Mischung, die so etwas wie die Mobilisierung der Gesellschaft erlaubt, und darin erst wird so etwas möglich wie das gesellschaftlich Imaginäre zu entwickeln."
Aber kann eine Gesellschaft, die sich auf Normerwartung und Normerfüllung stützt, Melancholie überhaupt zulassen?
Nichthandeln kann besser sein als Handeln
"Man kann heute sagen, dass Politiker unter ganz anderen Imperativen stehen, dass ist ihre professionelle Unbetroffenheit das sie immer die Attitüde 'Wir schaffen das' entwickeln, während die andere Seite, nämlich dass wir Verhältnissen unterliegen, dass wir Verluste hinnehmen müssen, dass wir zu Passivitäten gezwungen sind. Dass Nichthandeln manchmal besser ist als Handeln, also dass alles das, was in die Nähe des Melancholischen gerät, ist heute ein absolutes Tabu für die Politikerkaste. Und das macht diese Politik auch schlecht."
Wenn aber Politiker zum "immer handeln müssen" verdammt sind, immer zuversichtlich, autonom und beweglich sein müssen, sich niemals eine Melancholie, also ein Innehalten erlauben düfen, dann wird das für unsere gesamte Gesellschaft zu einem Problem.
"Gerade im 20. Jahrhundert ist keine große Philosophie entstanden, die nicht eine Geburt der Melancholie ist. Mit dem Sterben der Utopien verkommt die Melancholie als Elitemerkmal und wird zur Depression. Worin sich die Horizonte der Gesellschaft und des Denkens und der Gefühle final verdüstern und wir in einem ultimativen Zustand der Aussichtslosigkeit nicht nur unser selbst als Biografien sondern auch des Weltzustandes uns befinden."
Klage über den Zustand der Welt
Die Klagen über den Zustand der Welt sind bekanntlich so alt wie die Welt selber. Und sie ist nicht nur auf das Milieu der Intellektuellen begrenzt. Aber genau aus diesen Klagen entstand das utopische Denken, das eine bessere Welt entwirft und damit die Schwermut vertreiben sollte. Aus Sicht des Berliner Psychologen Günter Gödde hängen Melancholie, persönliche Enttäuschung und politischer Utopieverlust zusammen.
"Ich glaube auch, dass Melancholie sozusagen etwas ist, das nach der Enttäuschung über eine Utopie leicht einsetzen kann. Also dass man vorher positive Vorstellungen von seinem eigenen Leben hatte oder vom Leben in der Gesellschaft dann irgendwie enttäuscht ist, desillusioniert ist und dann erst mal mit seinem Latein am Ende ist. Aber ich sehe das dynamisch. Aus dieser Sackgasse kann man wieder herauskommen – gerade durch Denkarbeit!"
"Man kann Melancholie nicht einfach zurückholen. Gewissenmaßen verordnen oder in das Managercoaching einbauen oder in die Ausbildung von Hochschullehrern. Wir können nicht etwas, was verloren gegangen ist, zurückholen, dann würden wir festhalten an einem verlorenen Objekt a la Freud. Und das würde genau zur melancholischen Erstarrung führen. Statt dass wir uns lösen von dem Verlorengegangenem, nach neuen Wegen suchen, das, was uns als Menschen auszeichnet: dass wir kreative Intelligenzen sind, nämlich das zu realisieren."
Kreativ nach neuen Wegen suchen
Kreativ nach neuen Wegen suchen und dabei oder gerade deswegen eine neue Melancholie zuzulassen – das könnte eine Lösung sein. Gerade weil auch Melancholiker einen besonderen Scharfblick für das eigene Unglück haben und damit sensibler sind für das Unglück anderer. Und indem sie an der Welt leiden, entwerfen sie kreativ eine bessere, glaubt auch die Jazz-Musikerin Julia Hülsmann:
"Ich fände es gut, wenn man einfach diese dunkle Seite zulässt, um die andere heller scheinen zu lassen. Um einfach zu merken, mein Gott, ich kann jetzt ja doch ganz tief einatmen und das rauslassen und kann dann auch ganz viele andere Gefühle wieder reinlassen. Und mich auch austauschen darüber. Das ist ja auch etwas, was nicht im stillen Kämmerlein sein soll. Wenn man das teilen kann, kann dann etwas ganz tolles Neues draus entstehen. Deswegen wär’s schön, wenn es sichtbarer wäre."