Von Menschen und Zügen

Alles so schön blau hier

06:12 Minuten
Ein Zug fährt in Südfrankreich entlang der Küste über ein altes Viadukt mit direktem Blick auf das offene Meer.
Hitze, Licht und offenes Meer: Die "Ligne Bleue" (blaue Linie) fährt an der Küste westlich von Marseille entlang. © imago/ Panthermedia
Von Jürgen König · 23.07.2019
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Die "Ligne Bleue" ist eine der spektakulärsten Bahnstrecken Frankreichs. Zwischen Marseille und Martigues führt sie direkt am Mittelmeer entlang und bietet grandiose Ausblicke. 1915 wurde die Verbindung eröffnet, doch sie ist eher ein Geheimtipp.
Viel ist nicht los im Zug der "Ligne Bleue". Und es ist auch nur ein kurzer Regionalzug, etwas heruntergekommen. Die Bahngesellschaft SNCF rechnet offenkundig nicht mit Touristen, zeigt sich überhaupt verschlossen: Ein Gespräch des Reporters mit dem Lokführer war "aus Sicherheitsgründen leider nicht möglich", auch eine kurze Unterhaltung mit dem Zugführer wurde nicht genehmigt.
Nein, man rechnet auf der "Ligne Bleue" nicht wirklich mit Gästen. Und es sind auch so gut wie keine da − sieht man von wenigen, mürrisch wirkenden Einzelreisenden ab, die entweder mit geschlossenen Augen dasitzen oder gelangweilt in einer Zeitschrift blättern oder hochkonzentriert mit ihrem Laptop beschäftigt sind. Auf die Schönheit der Strecke angesprochen, zeigen sie alle bestenfalls nur verständnislose Gesichter.
Über holprige Schwellen verlässt der Zug Marseille in Richtung Westen, am großen Fährhafen vorbei ist er schnell unmittelbar am Meer, an der "Côte Bleue", der "Blauen Küste" – so genannt wegen ihres tiefblauen Wassers. Sieben Mal wird der Zug halten: an kleinen Badeorten.
Links das Meer, rechts die Felsen der Gebirgskette Chaîne de l’Estaque. Mühsam schiebt sich der Zug die Steigungen hinauf, es gibt Brücken, kurze Tunnel und grandiose Ausblicke: auf Buchten, in denen das Wasser manchmal zu einem karibischen Blau-Grün wird, weiße Strände mit nicht zu vielen Besuchern, kleine Dörfer, idyllisch versteckt gelegen, an den Hängen einzelne Häuser, Terrassen, Gärten mit orange und rot blühendem Oleander, violett leuchtender Bougainvillea, dazu das stetige Singen der "cigales", der Zikaden.
Einzigartig ist hier auch das Licht – wie es mir später in Martigues dessen Tourismusdirektor Didier Cerboni mit leuchtenden Augen beschreiben wird.
"Man findet dieses Licht am schönsten unmittelbar an der Küste, da, wo Erde und Wasser zusammenkommen. Das Licht ist dort am Morgen ein völlig anderes als am Abend, über dem Wasser wiederum wirkt es anders als über dem Land. Die sandfarbenen Felsen, die aus dem Wasser herausragen, geben dem Licht so ein sanftes Leuchten; die Sonne über den Feldern der Bauern macht das Licht grell – es ist ein raffiniertes, ständig changierendes Licht, auch die Hitze und selbst der Wind verändern es noch. Es ist also kein weißes Licht, sondern ein Licht mit einer Farbe."

Das Venedig der Provence

Nach 25 Kilometern verlässt die "Ligne Bleue" die Küste bei Martigues, einer hübschen Stadt mit einem großen Hafen, in dem der manchmal stark wehende Mistral durch die Takelage der Segelboote geht.
Martigues liegt an der großen Meeresbucht des Etang de Berre. Durch einen Kanal ist Martigues mit dem Meer verbunden, hat überhaupt viele Kanäle, Didier Cerboni spricht von "la Venise provençale", vom "Venedig der Provence".
"Das Licht und das Wasser sind wirklich die DNA der Côte Bleue und insbesondere von Martigues, weil es zwischen dem Meer und dem Etang de Berre liegt. Schon immer sind die Maler hierhergekommen – Félix Ziem, Dufy, Renoir, van Gogh… Das Licht hat sie alle angezogen! Und nach den Malern kamen die Filmemacher."
Ob er die Schönheit dieser Küsten- und Meereslandschaft überhaupt noch wahrnehmen würde, frage ich Didier Cerboni, den Direktor des Tourismus-Amtes von Martigues:
"Immer. Immer bin ich fast wie ein kleines Kind ganz entzückt, es gibt kaum einen Tag, an dem ich mir nicht sage, wie gut ich es habe, hier zu leben. Martigues hat jetzt etwa 50.000 Einwohner, aber wir kennen uns fast alle! Und dieses Gefühl, gemeinsam hier in dieser schönen Natur zu leben – das ist zu einer Art von gemeinsamer Identität geworden."

"Man sieht die ganze Zeit das Meer"

Auf der Rückfahrt nach Marseille ist der Zug voller. Vor allem Familien kommen jetzt vom Baden – und ich lerne Davide kennen: sportlich, braungebrannt, um die 40, nach eigenen Angaben Künstler und Ausstellungskurator. Er wohnt in Martigues und benutzt die "Ligne Bleue" ziemlich oft.
"Die Linie ist einzigartig! Man sieht die ganze Zeit das Meer, unglaublich – wer den Zug zum ersten Mal nimmt, ist total überrascht, direkt am Meer entlang zu fahren. Ich mag das sehr."
Davide hat seine Lieblingsorte an der Küste – und seine schönsten Momente der Fahrt:
"Ich würde sagen, La Couronne. Es hat einen herrlichen Strand, und am Leuchtturm öffnet sich so schön das Meer. Und dann natürlich von oben der Blick auf Marseille, man sieht die ganze Bucht, die Berge, die Stadt. Ein wunderschöner Blick aus großer Entfernung."
Bevor wir uns verabschieden, frage ich Davide, warum er so regelmäßig nach Marseille fährt:
"Ich fahre zu meinem Frisör! Vor Martigues nach Marseille! Wir haben zwar über 20 Frisöre in Martigues, aber ich liebe das Viertel, in dem mein Frisör wohnt und arbeitet, und er schneidet sehr gut! Er kommt aus Algerien – voilà."
Vom Bahnhof Saint Charles ist es nicht weit zum Vieux Port, dem "Alten Hafen" von Marseille. Mehr als zweieinhalbtausend Jahre ist er alt – und einer der schönsten Häfen der Welt.
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