Niedergang der Eisenbahn und neue Hoffnung
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Schon in den 1930er-Jahren begannen die Probleme der argentinischen Bahn. Bis heute ist der Fernverkehr auf der Schiene kaum zu empfehlen. Aber mit neuen Zügen kommt neue Hoffnung auf, dass sich die Lage endlich bessert.
Fast fünfzigtausend Kilometer: So lang war einst das Eisenbahnnetz im südamerikanischen Riesenland Argentinien. Damals, in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, gehörte es zu den größten Streckennetzen der Welt. Die Eisenbahn war untrennbar verbunden mit dem Aufstieg des Agrarlandes Argentinien: Mit den Zügen wurde das Getreide aus dem Landesinneren zu den Häfen gebracht.
In den 1930er Jahren jedoch begannen die Probleme der argentinischen Züge: Durch die wachsende Konkurrenz von Autos und Lastwagen, und durch eine fehlende staatliche Eisenbahnpolitik. Das Zugnetz begann zu schrumpfen, immer mehr Strecken wurden stillgelegt. Heute sind Fernzüge in Argentinien ein fast exotisches Verkehrsmittel, das nur wenige nutzen.
Montagmittag am Bahnhof Retiro in der Hauptstadt Buenos Aires, die Wartehalle für den Fernverkehr ist überfüllt. Passagiere sitzen oder stehen neben großen Koffern, Taschen und Bündeln. Um halb zwei soll der Zug nach Tucumán abfahren. Die Stadt liegt gut tausend Kilometer nordwestlich von Buenos Aires und die Reise dorthin dauert, laut Fahrplan, 31 Stunden.
"Der Zug soll bequem sein. Außerdem ist die Eisenbahn viel billiger als das Flugzeug oder der Fernbus", erklärt Jorgelina Cabrera, warum sie und ihre Familie mit dem Zug fahren. Pro Person kostet die Fahrt 750 Pesos – umgerechnet sechzehn Euro. Dafür nehmen die Cabreras die lange Fahrzeit in Kauf. Dass der Zug nach Tucumán heutzutage doppelt so lang braucht wie in den 1970er Jahren, als die Fahrt sechzehn Stunden dauerte, liegt vor allem am heruntergekommenen Gleisnetz. Trotzdem freut sich Familie auf die Reise. Beinahe hätte sie allerdings keine Fahrkarten bekommen: Der Zug nach Tucumán verkehrt nur zwei Mal in der Woche und der Andrang ist groß: "Wir fahren jetzt eine Woche früher, als wir eigentlich wollten. Was anderes haben wir nicht bekommen."
Die Glanzzeit ist vorbei
Kein Zweifel: Wer heute in Argentinien lange Strecken mit dem Zug fährt, ist zeitlich flexibel, will sparen oder ist ein romantischer Eisenbahn-Freak. Der Großteil der Argentinier bewegt sich in Autos, Flugzeugen oder Fernbussen fort. "Fernzüge als Fortbewegungsmittel sind kaum zu empfehlen: Ein Relikt aus früheren Zeiten, nicht sehr nützlich für die Gesellschaft", sagt Mario Justo López, Co-Autor eines Buches über die Geschichte der argentinischen Eisenbahn. Diese erlebte ihre Glanzzeit vor rund hundert Jahren.
"Der Bau hatte in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts begonnen. Im Zuge der nationalstaatlichen Einigung holten die Regierungen ausländisches Kapital und Einwanderer ins Land –vor allem mit dem Ziel, die Landwirtschaft auszubauen. Um die Jahrhundertwende war Argentinien bereits ein bedeutender Agrarexporteur, und die Eisenbahn spielte dabei eine entscheidende Rolle.
Gebaut wurde sie überwiegend von englischen Investoren. Aus den Landwirtschaftsregionen brachten die Züge das Getreide zu den Häfen. Um 1915 herum hatte Argentinien ein Streckennetz von rund 35.000 Kilometern, das große Teile des riesigen Landes abdeckte. Züge fuhren auch in die Nachbarländer Brasilien, Paraguay, Bolivien und sogar über die Anden nach Chile.
Störende Verspätungen
Zurück im Hier und Jetzt: Der Zug nach Tucumán hat den Retiro-Bahnhof mit einer ganzen Stunde Verspätung verlassen. Aber die Waggons sind modern, geräumig und sauber, und die Begrüßung ist ausgesprochen freundlich: "Hallo, guten Tag, mein Name ist Daniel", sagt der Schaffner. "Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie Bescheid." Die Fahrscheine will er erst einmal nicht sehen – sie sind bereits auf dem Bahnsteig kontrolliert worden. Langsam rollt der Zug durch die Vororte von Buenos Aires – zwischendurch bleibt er immer mal wieder stehen.
"Diese Unpünktlichkeit stört mich", sagt eine Frau, als sich abzeichnet, dass die Verspätung auf fast zwei Stunden angewachsen ist. Ein anderer Fahrgast entgegnet, die Züge seien normalerweise ziemlich pünktlich.
Die Probleme begannen in den 1930er Jahren durch die Konkurrenz des Autos. Die privaten Zuggesellschaften wurden zunehmend unrentabel und die britischen Besitzer wollten sie verkaufen. 1948 verstaatlichte Präsident Juan Domingo Perón die Bahn. Experte Mario Justo López sagt: "Auch in anderen Ländern übernahm der Staat die Eisenbahn, aber nirgendwo wurde sie so vernachlässigt wie in Argentinien."
Verheerende Privatisierungspolitik
Weder Perón noch die folgenden Regierungen hätten den Niedergang aufgehalten, sagt der Bahn-Historiker. Im Laufe der Jahrzehnte schrumpfte das argentinische Zugnetz immer weiter zusammen. Als verheerend erwies sich die Privatisierungspolitik von Präsident Carlos Menem in den 1990er Jahren. Unternehmen bekamen vom Staat Millionensubventionen für den Betrieb der Nahverkehrszüge, die im Großraum Buenos Aires ein wichtiges Transportmittel sind. Ein korruptes Netz von Funktionären und Firmen entstand – und die dringend notwendigen Investitionen in Züge und Streckennetz blieben aus. Die tragische Konsequenz: Das Zugunglück im Once-Bahnhof 2012 mit 51 Toten.
"Erst da begann die damalige Regierung, zu handeln", sagt López. "Inzwischen gibt es neue Züge auf kurzen und langen Strecken, und in Buenos Aires wird nach und nach das Streckennetz verbessert. Wenn es so weitergeht, könnten wir in zwanzig Jahren wenigstens einen akzeptablen Nahverkehr haben."
López wünscht sich auch, dass in Argentinien wieder mehr Güter über die Schiene transportiert werden - heute übernehmen Lastwagen einen großen Teil des Frachtverkehrs. "Was aber den Personen-Fernverkehr angeht, wären riesige Investitionen notwendig, damit er effizient wird. Es ist eher unwahrscheinlich, dass eine Regierung dieses Geld investiert."