Mit dem Ostexpress von Ankara bis zur armenischen Grenze
Von Ankara ins Dreiländereck Türkei-Armenien-Georgien: 1.310 Kilometer in planmäßig 24 Stunden. Seit zwei Jahren boomt die Fahrt mit dem Ostexpress - auch wegen der vielen Instagram-Fotos von bizarren Landschaften und romantisch dekorierten Abteilen.
Ein Zug, so weit das Auge reicht. 407 Meter Ostexpress verteilt auf 15 weiß-rot-blaue Wagons stehen im Bahnhof Ankara auf Gleis 1, bereit zum Einsteigen.
Auf den 1.310 Kilometern bis nach Kars kurz vor der armenischen Grenze sind fünf planmäßige Stopps vorgesehen. Doch es werden einige unplanmäßige hinzukommen. Nach und nach beziehen die Fahrgäste ihre Schlafwagenabteile oder den Großraumwagon. 24-einhalb Stunden dauert die Fahrt laut Fahrplan.
Viele sahen den Ostexpress schon auf dem Abstellgleis, denn wer die Strecke von Ankara nach Kars aus geschäftlichen oder privaten Gründen zurücklegen muss, kommt mit dem Flugzeug viel schneller voran. Aber dann kamen die sozialen Medien ins Spiel und mit ihnen ganz andere Fahrgäste. So wie der 30-jährige Azad. Er trägt Vollbart, Hipstermütze, aufwändigen Ohrschmuck und dunkelrot lackierte Fingernägel:
"Diese Zugfahrt war mein Traum und ich hatte ihn vor vier Jahren schon verwirklicht. Heute soll der Traum meiner Freundin in Erfüllung gehen, deswegen fahre ich die Strecke mit ihr noch einmal."
Azad und seine Freundin Seyhan aus Düzce in der Nähe Istanbuls haben eine Lichterkette um das Zugfenster geklebt. Strom gibt es aus der Steckdose am kleinen Waschbecken des Abteils. Vor wenigen Tagen hatte Seyhan noch nicht damit gerechnet, die kommende Nacht im Ostexpress zu verbringen. Denn seit der Dogu-Ekspres, wie der Zug auf Türkisch heißt, bei Instagram boomt, ist es nahezu unmöglich an Tickets zu kommen. Als sich die Gelegenheit bot, hat Seyhan sofort zugeschlagen:
"Erst vor zehn Tagen habe ich Tickets ergattern können. Zufällig. Eine Woche lang habe ich Tag und Nacht im Internet nach Tickets Ausschau gehalten. Aber es war nichts zu machen. Die Reiseunternehmen reservieren alle Tickets. Nur wenn sie am Ende keine Kunden finden, kommen sie in letzter Minute wieder auf den Markt. Dann muss man sofort zugreifen. Genau das habe ich getan."
118 Lira kostet die Fahrt im Zwei-Bett-Schlafwagen, das sind rund 20 Euro für mehr als 1.300 Kilometer. Die Schwarzmarktpreise liegen um ein Vielfaches höher.
"Die Fahrgäste haben ihren Spaß, und wir auch"
Fast eine Stunde rollt der Zug mit quietschenden Bremsen durch die Vororte Ankaras, bis die Dunkelheit gnädig ihren Mantel über baufällige Wohnhäuser und Industriebrachen deckt. Das Nachtleben im Zug kennt enge Grenzen. Normalerweise darf man keine anderen Wagons betreten als den eigenen – außer man will zum Speisewagen, sagt Schaffner Haydar Yavasoglu, der auch schon mal ein Auge zudrückt:
"Bevor dieser Zug zur Touristenattraktion wurde, konnte man die Fahrgäste an einer Hand abzählen. Der Trend ist gut, jetzt verdienen die Eisenbahn und die Stadt Kars am Tourismus. Es entstehen neue Freundschaften, es wird getanzt und gesungen. Die Fahrgäste haben ihren Spaß, und wir auch. Alle sind glücklich."
Für Metin Sezer kommt heute Nacht weder Party noch Schlaf in Frage. Er ist Makinist, zu Deutsch: Lokführer.
"In Gedanken versinken ... nee, das ist nicht drin. Wir müssen auf die Gleise achten, müssen aufpassen. Sicherheit geht vor. Die Sicherheit der Fahrgäste hat absolute Priorität."
Der 47-Jährige liebt seinen Job und kennt die Strecke wie seine Westentasche. Gerade hat die 3.300 PS-starke Diesellok Verschnaufpause, denn es geht bergab. Metin Sezer muss dann nur bremsen.
"Auf manchen Strecken beschleunigen wir aber auch auf 90 bis 110 km/h. Das kommt ganz auf die Strecke und die Topographie an."
Wie schnell er fahren darf, steht auf einen Streckenplan, auf dem jeder Abschnitt verzeichnet ist. Schon allein, weil er ständig darauf schauen muss, werde er nicht müde, sagt der Lokführer.
Am Morgen zeigt sich Anatolien leicht verschneit. Der Zug fährt durch beeindruckende Gebirgslandschaften, Canyons, zahlreiche Tunnel und schlängelt sich lange Zeit direkt am Ufer des Euphrat entlang. Auch Azad und Seyhan sind wach und schauen aus dem Fenster. Besonders ausgeschlafen sehen die beiden nicht aus. Seyhan sagt, sie habe kaum geschlafen:
"Es war laut und hat gewackelt. Der Zug ist in der Nacht schneller gefahren, das habe ich bemerkt. Es hat so gewackelt, dass ich zwischendurch Angst hatte, dass der Zug entgleist."
Den Schlaf kann Seyhan noch nachholen. Die Fahrt bis zum Ziel in Kars wird noch den ganzen Tag dauern. Verpflegung gibt es zwischendurch im Speisewagen. Das Angebot kann die meisten Mitfahrer aber nicht überzeugen. Gut, dass der Zug bald in Erzurum ist. Die Stadt kündigt sich an, indem die Schaffner von Abteil zu Abteil laufen und Bestellungen aufnehmen. Für Cag-Kebab, am horizontalen Drehspieß gegrilltes Lammfleisch eingewickelt in Fladenbrot. Die Spezialität von Erzurum.
So gestärkt lassen sich auch die dreieinhalb Stunden Verspätung bis Kars noch überstehen.
Ankunft in der alten Garnisonsstadt Kars
Dort ist es am Abend bitterkalt. Das Eis knirscht unter den Schuhsolen. Auf dem Weg zum Hotel mutet Kars beim Blick aus dem Taxifenster wenig türkisch an. Kein Wunder, denn die alte Garnisonstadt gehörte in Folge der russisch-türkischen Krieg ab 1828 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zu Russland.
Noch heute zeugen davon zahlreiche Gebäude im russischen Stil, meist zweistöckig mit Fassenden aus dunklen Steinquadern. Auch die Zitadelle, die Kars seit 1152 überragt, ist aus diesem dunklen Basalt gebaut. Sie verleiht der 76.000-Einwohner-Stadt etwas Bedrückendes.
Eine Autostunde von Kars entfernt liegt im Dreiländereck Türkei-Armenien-Georgien der Cildir-See. Auf 1.959 Metern Höhe gelegen friert der größte Süßwassersee der Türkei jeden Winter zu. Neu ist der Boom, den der Cildir-See erlebt. Das habe mit zwei Dingen zu tun: dem Ostexpress und den sozialen Medien, sagt Tekin Akcay:
"Die Leute kommen erst nach Kars und dann hierher. Pro Tag bis zu 400 Touristen. Dank dem Internet, dank Instagram, Facebook und natürlich auch dem Fernsehen."
"Es fühlt sich nach Freiheit an"
Tekin ist Gründer der Schlittenkooperative Cildir-See. Sechs Holzschlitten und zwölf Pferde stehen bereit, um Touristen über den zugefrorenen See zu kutschieren.
Azad und Seyhan, die beiden jungen Leute aus dem Ostexpress sind per Anhalter von Kars zum Cildir-See gekommen.
"Dieses Gefühl der unendlichen Weite; es fühlt sich nach Freiheit an. Das ist schon eine Erfahrung der ganz besonderen Art. Es hat sich auf jeden Fall gelohnt. Ich denke, ich werde wieder hierherkommen."