Von Skifliegern und Holzschnitzern
Die Ski-Schanze am Gudiberg in Garmisch Partenkirchen ist eine sogenannte K-125-Schanze: Hier springen die Profis mindestens 125 Meter weit. Trainiert wird notfalls auch ohne Schnee: Im Sommer sorgen Keramikspuren für ausreichend Schwung und Kunststoffmatten für die sanfte Landung. Weniger gefährlich, aber ebenso anspruchsvoll ist eine zweite Kunstfertigkeit der Region: das Holzschnitzen in Oberammergau.
Wie ein überdimensionaler Damenpumps ragt die Schanze vom Hang des Gudibergs auf. Die gesamte Konstruktion - verkleidet mit halbtransparenten silbrig schimmernden Polycarbonatplatten. Darunter: das tonnenschwere Stahlskelett, Kühlaggregate, ein Wärmeraum für die Springer, Funktionsräume, Innentreppen, Fahrstuhl.
Die Schanze ist eine der größten ihrer Art, eine sogenannte "K-125"-Schanze, d.h. mindestens 125 Meter weit sind die Sprünge. Gesprungen wird im Winter und im Sommer - dann auf einer Keramikspur.
Der Aufsprung am Hang und der Auslauf, rund 140 schwindelerregende Meter weiter unten, ist dann statt mit Schnee mit Kunststoffmatten ausgelegt.
"Die Matten sind ein bisschen langsamer zum Landen. Die ist eh feiner, weil sie ein bisschen weicher ist. Im Winter ist es ein bisschen gefährlicher, weil es passieren kann, dass der Ski im Schnee stecken bleibt. Auf der Mappe rutscht man einfach aus. Dadurch, dass da eine bessere Dämpfung da ist auf der Matte, ist die Gefahr geringer, dass man sich da verletzt."
Alex Stöckl weiß, wovon er spricht. Er ist Trainer des Nachwuchskaders beim österreichischen Skiverband. Er hat an diesem Vormittag für seine 8 Jungs die große Olympiaschanze für eine Trainingseinheit gebucht. Das heißt: 6 - 8 Sprünge für jeden.
Die Sportler gehen die beiden Alu-Gitter-Treppen rechts und links neben der Anlaufspur ganz bis nach oben, insgesamt über 200 Stufen. Sie stecken in eng anliegenden Anzügen, die ein bisschen wie Neopren-Taucheranzüge aussehen. Zwischen 16 und 19 Jahren alt sind die jungen Springer eher schmal gebaut, keiner ist größer als vielleicht 1,75 m. Auf der Schulter tragen sie ihre Skier: deutlich länger als 'normale' Skier und: breiter - höchstens aber 11,5 cm, mehr ist nicht erlaubt - aus Vollkunststoff, ohne Kanten, leuchtstift-gelb. Helm ist Pflicht.
Oben angekommen hängen die ersten beiden den Absprungbalken ein.
Der Balken: etwa so breit wie ein Schwebebalken. Der Kärntner Lukas Müller kontrolliert, ob er fest eingerastet ist.
Seine Schnür-Schuhe sind aus festem Leder, mit hohem Schaft und eingebauter Stütze von der Ferse das Wadenbein hoch. Die Kunststoffsohle ist zugleich flexibel und hart, mit integriertem Keil, der dem Springer hilft, die optimale Haltung in der Anlaufhocke zu finden. Lukas bringt die Skier in die Spur, atmet einmal tief durch - drückt sich leicht mit den Händen vom Balken ab und rast die Spur hinunter zum Absprung vom Schanzentisch. Keiner hier oben scheint beim Blick in die Tiefe die geringste Angst zu kennen.
"Das darfst nicht haben. Wenn man das Gefühl hat, dann hast Du eigentlich schon verloren. Du darfst nie mit Angst auf eine Schanze gehen. Sonst bringt ja das ganze Spring-Ding nichts. Am ehesten noch Respekt vor der Schanze. Aber sonst nichts."
Spricht's und dann geht auch er in die Spur.
"Da möchte ich auch gern springen. So in sieben Jahren oder sechs."
Moritz Echsler steht unten, am Auslauf. Dort, wo eine Pistenraupe den Kunstschnee präpariert.
Moritz eigentlicher Traum ist nicht der Sprung von 'der Großen' hier in Garmisch. Er will eines Tages von der größten Skiflugschanze der Welt im slowenischen Planica springen - über 200 Meter weit.
Moritz ist 11 Jahre alt, Nachwuchsskispringer beim SC Partenkirchen. Im selben Verein wie sein großes Vorbild: der 18-jährige Felix Schoft, genannt Schofti - zur Zeit erfolgreichstes deutsches Jungtalent. Moritz weiß nur zu gut, um so weit zu kommen wie Schofti, bedarf es konsequenten, jahrelangen, harten, Trainings. Und die wenigsten, die lang, konsequent und hart trainieren, kommen so weit. Vielleicht kann es Moritz schaffen.
"Moritz ist ein Talent. Hat auch schon gute Erfolge gefeiert - auch deutschlandweit. Ist einer der Stärkeren in seinem Jahrgang. Zurzeit hat er ein bisserl Probleme im Sprungbereich. Das ist normal bei Kindern, mit dem Wachstum und dann müssen sie sich wieder an neue, längere Skier gewöhnen und so. Aber er ist an und für sich ein sportliches und ein Sprungtalent."
Andi Mitter kennt seine Jungs. Ihre Stärken, ihre Schwächen. Der 27-jährige blonde Diplomtrainer aus Österreich ist zuständig für das Nachwuchstraining. Er selbst hat das Springen mit 21 aufgegeben. Nach einer Verletzung beim sog. 'Trockentraining'. Mitter ist gern Trainer. Es ist für ihn mehr als ein Beruf, ist Berufung, sagt er.
Sechs Jungs, zwischen 11 und 15 spielen an diesem Mittag Fußball im Schnee - Aufwärmtraining im Skistadion. Das wurde für die Olympischen Winterspiele von 1936 gebaut. Im Halbrund um den Auslauf unten an der Schanze können bis 25tausend Zuschauer auf den Tribünen Platz finden. Zu den Weltcups oder zur berühmten Vier-Schanzen-Tournee sind die Reihen gefüllt. An diesem Mittag sitzen nur vereinzelte Besucher in der Mittagssonne und sehen Moritz und den anderen Jungs beim Kicken zu.
Moritz, genannt Momo, ist ein eher schmächtiger Junge, keine 1,5 m groß, 35 Kilo leicht. Leicht, wenn gepaart mit Kraft, ist ideal für Skispringer.
"Also, ich glaub, den Flug mach ich sehr gut. Bloß im Radius, da setze ich mich immer mit dem Arsch rein, und dann geht alles nur so nach vorne raus im Anlauf."
Moritz' halblanges braunes Haar, fällt ihm ständig über die braunen Augen, wenn es nicht unter seiner weißen Wollschirmmütze steckt. Er trägt Turnschuhe, schwarze Trainingshosen, blaue Fliesjacke mit weißer Aufschrift: "Springerteam SC Partenkirchen". Er ist flink.
Mit dem Skispringen beginnt Moritz mit sechs oder sieben. Macht seine ersten Hüpfer von einer Baby-Schanze, bis zu 25 Meter weit. Inzwischen springt er von kleinen Schanzen, bis zu 45 Meter. Demnächst kommt die Normalschanze dran, bei der Weiten bis zu 90 Meter möglich sind. Die "Große", die 125er, dann mit 16, 17.
Wer mit dem Skispringen anfängt, erklärt sein Trainer, entscheidet sich von Anfang an für den Leistungssport. 'Breitensport Skispringen', mal so ab und zu zum Vergnügen 'wo runter hüpfen' - das gibt es nicht. Im Sommer absolvieren Moritz und die Anderen 600 - 700 Trainingssprünge; im Winter wegen der Wettkämpfe etwas weniger. Insgesamt kommen sie auf 1000 bis 1100 Sprünge im Jahr.
"Nicht nur gesprungen. Ganz wichtig bei der Ausbildung ist auch das Langlauftraining. Und auch in der Halle das Trockentraining, wo sie auch gestärkt werden in der Beinmuskulatur und in er Rumpfmuskulatur. Wobei ich sage muss, vom Trainingsaufwand her - das macht ein Fußballspieler oder ein Skifahrer in seinem Alter genau dasselbe. Das ist eigentlich immer so. Wenn Du mal in die Spitze willst, deutschlandweit oder dann auch europaweit oder weltweit, dann musst Du in diesem Alter schon diesen Aufwand betreiben und auch motiviert sein, dass Du das willst. Das also die müssen schon ziemlich früh wissen, was sie wollen."
Nach dem Aufwärmen machen Moritz, sein vier Jahre älterer Bruder Maxi, Martin, Hannes, Nico und Philipp Dehnübungen.
"Also das sind so Trockenübungen fürs Skispringen. Also im Endeffekt, der Sportler sitzt in der tiefen Anfahrtsposition und springt dann über meinen Kopf drüber. Ich stemme ihn dann mehr oder weniger in die Höhe wie bei 'Dirty Dancing' mit der Hebefigur. Und dann fliegt er. Okay, passt Jungs, gehen wir's an"
Und dann Übungen für Sprungkraft und Körperspannung.
Trainer Andi, Moritz - der Jüngste in der Truppe - und die anderen Springer gehen in die Katakomben des Skistadions zum Umziehen. Raus aus den Trainingsanzügen, rein in die Springeranzüge.
Im Umkleideraum. An den Wänden drei Dutzend Schließfächer, an der Stirnseite neben der Tür baumeln auf zwei Ständern Springeranzüge. Zwischen zwei kleinen Fenstern hängen Springskier. Auf dem Boden verstreut, wild durcheinander geworfen, Sporttaschen, Skihüllen, Straßenschuhe, Jeans, Sweatshirts.
Vier, fünf Mal die Woche wird mindestens zwei, drei Stunden trainiert. Hinzu kommen Wettkämpfe. Aber Schule geht vor, mahnt der Trainer. "Passt scho", sagt Moritz
"Im Moment klappt's eigentlich recht gut. Ich bin in einer Schule, in der gibt es eine Sportklasse. Dann ist jeden Tag auch nachmittags und es gibt halt Essen. Und muss ich mich am Nachmittag immer befreien, wenn ich Training hab. Aber ich habe dann immer eine warme Mahlzeit. Und kann zur Schule gehen und danach immer zum Springen gehen."
Mit dem Aufzug den Hang hinauf zum Absprung der kleinen Schanze an einer Hügelkuppe. Die Jungs freuen sich, können heute zum ersten Mal wieder an ihrem Hausberg springen. Wegen der Baumaßnahmen für die große Olympiaschanze war die kleine Schanze über drei Jahre lang gesperrt, musste auf anderen Anlagen trainiert werden, mit einiger Anfahrtszeit.
Moritz und die Jungs erzählen von ihren Unfällen. Mit mehr oder weniger glimpflichem Ausgang. Die Verletzungsgefahr ist beim Abfahrtslauf wesentlich größer. Skispringer sind mutig, ja, aber keine Draufgänger-Typen, sagt Trainer Andi.
Die Skier über der Schulter - knapp anderthalb mal so lang wie die Jungs selbst - stiefeln die jetzt die wenigen Schritte vom Aufzug zur kleinen Schanze. Oben: Kein Absprungbalken, sondern nur zwei dünne Holzpfähle rechts und links in den Schnee geschlagen - zum Festhalten in der Hocke.
"Ja schaut gut aus. Probier's aus. Mach's gut Mo. Das sagt man halt sich gegenseitig immer. In der Luft hat der Hände immer zu weit weg. Ja, war ein ordentlicher Sprung - das erste Mal wieder auf der Schanze, muss man sich erst dran gewöhnen."
Moritz, 'Momo', schiebt seine Skier zurecht.
Fachsimpeln über Momos Sprung. So oder so ähnlich klingen Lob und Kritik von Trainer Andi auch.
"Momo, wenn Du in Flug rein kommst - richtig lässig! Das schaut wirklich richtig gut aus! Das Einzige was ist, mit den Schlägen da oben, da haut's Dich ein bisschen aus der Hocke raus. Merkst du das? Ja, dann geht mein Oberkörper immer so rauf und wieder runter. Genau, schau mal, dass du oben nicht so viel Zug in die Hände gibst sondern mehr Spannung in die Beine. Ja. Momo, bleib stabil jetzt am Radius. Jaaaa! Schön ausgesehen. Bisschen brav noch. Bisschen hinterm Ski noch, bisschen abwartend, aber das wird schon."
Von seinem Standort am Schanzentisch aus beobachtet Andi die Sprünge. Die Jungs holen sich seine Kommentare via Funksprechgerät ab, das unten beim Aufzug auf dem Boden liegt. 38 Meter ist Moritz an diesem Morgen gesprungen. Vielleicht geht sein Traum vom 200-Meter-Sprung von der weltgrößten Schanze in Planica ja eines Tages in Erfüllung. Aber bis dahin ist noch ein langer Weg.
Es geht nach Norden. Mit dem Auto sind es 20 Kilometer - eine kurvenreiche Strecke. Luftlinie, direkt auf dem Meridian 11, sind es nur zehn Kilometer. Bis nach Oberammergau. Das Dorf der Passionsspiele, das Dorf der Holzschnitzer. Früher tatsächlich auch einmal ein Dorf der Skispringer, die Holz schnitzen, und der Holzschnitzer die Skispringen.
"Wir Schnitzer sage ich mal, sind insgesamt sehr flexibel. A)tun wir nicht nur schnitzen, sehr viele Schnitzer sind auch sehr sportlich. In meiner Verwandtschaft, mein Stiefonkel, der war früher Skispringer. Und der hat sich da richtig runtergestürzt. Früher haben wir immer ein Foto in der Werkstatt gehabt aber ich glaube, das hat jetzt der Bruder mitgenommen. Also: der Ausgleich bei dem Job ist eigentlich auch wichtig."
Holzbildhauer Tobias Haseidl. 33 Jahre alt. Graue Haare, Ohrring, ein verschmitztes Lächeln, große, starke Hände. Er sitzt in seiner kleinen Werkstatt, einst ein Hühnerstall, die gleich neben seinem Haus - früher ein Jagdhaus - war. Landhaus Diana steht an der Wand, Haseidl klein auf der Klingel. Es ist eng und warm, es riecht nach Späne, auf der Werkbank: ein Modell. Haseidl ist Herrgottschnitzer. Er spannt sein Werkstück ein - ein Auferstehungschristus.
"Das Vorbild von diesem Modell ist angeblich in Anlehnung an eine Schwanthaler-Figur. Und ich hab die vor ungefähr 15, 20 Jahren geschnitzt und mach da jetzt wieder einen neuen Auferstehungschristus. Der ist einen Tick größer und der andere ist mein eigenes Modell, den gebe ich nicht her. Also muss ich ab und zu mal einen neuen Schnitzen, dass ich ihn hinstellen kann wenn ich auf eine Messe gehe und die Leute können ihn gleich mitnehmen."
Haseidl zuckt mit den Schultern. So ist es heute. Die Holzschnitzer von Oberammergau müssen auf Messen, wenn sie etwas verkaufen wollen. Sie müssen dann sofort liefern können. Es gibt zwar noch Arbeit auf Bestellung, aber die wird weniger. Ganz große Aufträge werden allerdings angekündigt. Wie 2006, als der Papst Bayern besucht, ihm eine große geschnitzte Gottesmutter als Geschenk überreicht wird. Geschnitzt von Tobias Haseidl. Im Garten seines Hauses unter einem Pavillon, weil die Werkstatt, der ehemalige Hühnerstall zu klein ist.
Haseidl schnitzt alles - auch seine Frau und die drei Kinder. Als Maria und Josef und die Hirten - nicht aber als Ochs und Esel.
An Naturmodellen insgesamt führt kein Weg vorbei. Wenn man eine sehr aufwendige Krippe macht, dann steht die ganze Familie Modell und es werden erst Fotos geschossen. Und ich sag: du stell ich mal so hin, dass ich nachschauen kann wie ist der Fuß genau geknickt, das man das alles im Kopf hat, da müsst man Anatomieprofessor sein. Und so kann man das richtig schön kombinieren mit dem richtigen leben.
Haseidl kneift ein Auge zusammen, legt das Eisen aus der Hand. Er ist mit dem letzten Stich nicht zufrieden. Das Messer hat eine Scharte. Die muss ausgewetzt werden.
Die Profis schleifen ihre Eisen alle selber. Und, wie gesagt, das hat jetzt so eine kleine Macke.
Funken fliegen. Das Schnitzeisen wird sehr viel schärfer - und etwas kürzer. Jetzt wird das ganze noch abgezogen. Zwei Wochen hat er für die Figur des Auferstehungschristus eingeplant, hofft sie für 1.800 Euro verkaufen zu können. Brutto.
"Wenn man es ganz knallhart betriebswirtschaftlich durchrechnet, das könnte man ja, man hat ja zehn Finger, damit kommt man schon weit, müsste man eher sagen: das ist uninteressant."
"Ein klassischer Betriebwirt würde sagen: so geht das nicht. Das sind viel zu viele Stunden und dann müsste man das noch reinrechnen und jenes und das Auto und das Gebäude und, und, und. Aber: man hat einen Riesenvorteil. Man arbeitet - zum Beispiel wie ich - daheim. Und so ist man, egal und wenn es nachts um 11 ist, oder dann die kleinen Kinder dann bei 30 cm Neuschnee mit dem Kuscheltier in der Werkstatt stehen und die drei Meter dann vom Haus durch den Tiefschnee laufen, das ist halt einfach witzig und das liebe ich."
Und schon greift er wieder zu Schlegel und Eisen. Ist Schnitzer - mit Leib und Seele. Dabei müssen es nicht immer Heilige sein, sagt er. Im Gegenteil. Mal schnitzt er Totenschädel - anatomisch korrekt - mal eine Figurengruppe mit dem Titel "Versuchung" - moralisch inkorrekt. Und dann wieder Madonnen.
Vor der Werkstatt liegt Schnee. Ein Nachbar hackt das Eis aus seiner Einfahrt. Den Hang hinunter, einmal durchs Dorf und dann eine Anhöhe wieder hoch. Hier schnitzen die, die sich erst noch etablieren wollen.
Die Schüler der Schnitzschule Oberammergau. In der ersten Klasse zwei Drittel Mädchen, nur ein Drittel Jungen. Drei Jahre dauert die Ausbildung an der Staatliche Berufsfachschule für Holzbildhauer. Danach gibt es eine Prüfung, dann den Gesellenbrief. Anna Mareike Butzer ist im ersten Lehrjahr. In der Werkstatt schnitzt sie an einer großen Tiermaske. Die 20-Jährige macht bereits Pläne für die Zukunft.
"Ich würde gern ins Ausland und rumtingeln. Andere Werkstätten sehen, eigentlich in Richtung Restauration, Bühnenbildner gehen. Weiß ich nicht. Und vielleicht verschlägt es mich zurück nach Hause. Aber: ich kann auch woanders hin."
Zuhause - das ist die Werkstatt ihrer Eltern - in Barwedel bei Wolfsburg. Ebenfalls, wenn auch eher zufällig, ganz nahe dem Meridian 11.
700 Kilometer weit weg von Oberammergau.
Anna Mareike lebt Holz. Seit ihrer frühsten Kindheit. Ihre Eltern sind Tischler und Drechsler, Kunsthandwerker, Bogenbauer. Die junge Frau mit Brille, die langen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, hat sich für ein Holzbildhauer-Symposium qualifiziert.
"Ja, und ich bin natürlich etwas vorbelastet. Meine Eltern sind Tischler und Drechsler. Bin mit Holz halt aufgewachsen und in Folge dessen auch mit der Motorsäge. Ja und dann habe ich mich eben hingesetzt und eine gute Idee gehabt."
Ihre Idee: eine "Sitzbank der Ruhe und Phantasie" - für ein Holzbildhauer-Symposium in Bad Bayersoyen, 14 Kilometer vor Oberammergau. Anna Mareikes Modell ist aus Ton. Für das Werk wird sie im Juni in aller Öffentlichkeit zur Kettensäge greifen. Ein Kunstwerkzeug, wenn man es bedienen kann.
"Ja ich mach das in Bad Bayersoien mit der Elektromotorsäge. Weil das ist mitten im Dorf. Und dann ist das mit der Benziner zu laut. Genau. Und die ganzen Feinheiten werden dann mit Schnitzeisen gemacht. Nachgeschnitzt. Und mit dem Winkelschleifer wird auch noch einiges gemacht, soweit man eben die Oberflächenbearbeitung glatt haben möchte."
Anna Mareike wendet sich wieder ihrer Tiermaske zu - einem Ziegenbock. Befestigt auf einer Art Staffelei - in guter Arbeitshöhe. Sie holt mit dem Schlegel, dem hammerähnlichen Werkzeug der Holzbildhauer, aus. Ihr Bizeps spannt und entspannt, ein harter Schlag, ein Holzspan fliegt - Die junge Frau ist voll Kraft, voll Konzentration.
Von der Seite kommt ein Lehrer dazu. Diplombildhauer Wolfgang van Elst, Mitte 40, dunkles langes Haar, Lach- und Denkfalten, die starken Hände eines Bildhauers. Er schaut, wie weit die erste Klasse mit den Tiermasken ist, ob er Anna Mareike helfen kann. Van Elst ist zufrieden.
"Da merkt man einfach ganz, ganz stark die hat unglaubliche Lust mit Holz zu arbeiten. Und die freut sich einfach was zu entdecken auch. Und da macht's natürlich gerade mit ihr - aber auch mit den anderen natürlich auch - sehr viel Spaß einfach zu sehen wie es sie fordert das Neue zu finden. Wie sie aber auch das was sie schon entdeckt hat ganz toll einsetzen kann. Und das macht mit ihr wirklich sehr großen Spaß."
Zwei von drei Erstklässlern an der Schule sind junge Frauen. Gleichberechtigung gibt es hier schon seit Jahrzehnten. Es geht um Kunst, nicht um schiere Kraft - und spätestens seit im Hof der Gabelstapler steht, ist die Geschlechterfrage keine mehr.
Van Elst liebt seinen Beruf. Er liebt die Holzbildhauerei, die Lehre, das Werkzeug mit dem er umgeht und dessen Gebrauch er vermittelt. Er strahlt, wenn er das Werkzeug auspackt, zwei Dutzend Schnitzeisen auf der Werkbank glänzen. Der Schlegel liegt locker in seiner rechten Hand.
"Mit diesem Schlegel schlagen sie dann auf das Heft eines Schnitzeisens. Schnitzeisen gibt es verschiedene, von verschiedenen Firmen, fünf bis sechs verschiedene Firmen bieten die an. Und haben sehr, sehr unterschiedliche Größen und Formen. Das heißt: zum groß rausschlagen braucht man natürlich ein relativ großes Eisen. Dieses Eisen hat ungefähr 7 cm in der Breite, steckt in einem Holzheft, nennt man das und hat einen gewissen Stich. Und zwar der Stich ist die Wölbung des Eisens. Und ganz zum Schluss, wenn man es braucht - man braucht es natürlich nicht für alle Sachen, gibt es sehr kleine Eisen, sogenannte Millimeterhohlbohrer."
Der Lehrer könnte noch Stunden erzählen. Über Hölzer und Messer, wie sich ein Werk in der Witterung verändert, warum gerade in diesem Beruf Kunst von können kommt. Doch gleich ist Pause.
Vor der Werkstatt führt ein Flur ins geschnitzte Treppenhaus. Füllig, prächtig, verspielt, 100 Jahre alt. Im Ersten Stock das Büro des Direktors. Die Tür ein Portal, der Rahmen ein Kunstwerk, jeder Quadratzentimeter geschnitzt, ein Vorhang aus Holz, mit Troddeln und Quasten. In der Tür: ein freundlicher Mann mit blauer Schürze.
Er wischt sich Holzspäne von der Jacke, sperrt die Tür auf. Florian Stückl. Der Schulleiter.
"Ja, das ist eine geschnitzte Türe, die mit Sicherheit beim Bau der Schule von den Schülern in Zusammenarbeit mit den Lehrern geschnitzt wurde, um einfach den Eingangsbereich zu dem Direktor zu verschönern. Das ist ziemlich fast furchteinflößend, steht da Direktor drauf. Das ist heute nicht mehr so, das ist halt noch da und schön anzuschauen."
Schulleiter Stückl will, dass seine Schüler Tradition und Moderne verbinden. Er weiß, dass Holzbildhauerei mehr ist, als Hergottschnitzen. Auch wenn das natürlich dazu gehört.
Und: Stückl kennt den größten Feind des Schnitzers: die Schnitzmaschine. Die Massenproduktion. Sieht aber auch die Chance des Künstlers: die eigene Idee. Auf dem Weg zur Schulwerkstatt zeigt er stolz auf einen hölzernen Ziegenbock.
"Natürlich wird das auch mit heutigen Techniken realisiert, also wenn ich an den Ziegenbock denke, der mit der Kettensäge, nur mit der Kettensäge realisiert ist, dann versuchen die Schüler natürlich auch mit heutigen Techniken zu arbeiten. Und in dem Fall war's so: der Schüler hat das ganz klassisch gemacht, wie man's halt früher auch gemacht hat. Man hat die Ziege da gehabt, die Ziege modelliert, dann abgegossen und dann auch in Holz geschnitzt. Und hat dann gesagt: So, ich mach jetzt noch einmal einen Versuch mit der Kettensäge. Und hat dann mit dem Wissen, das er sich vorher angeeignet hat die Ziege noch mal mit der Kettensäge realisiert."
Im nächsten Jahr sind wieder Passionsspiele in Oberammergau und die Schnitzer hoffen auf gute Geschäfte. Mit Jesus und Maria. Mit der Passion, der Leidensgeschichte Christi. Doch spüren sie längst, wie die Zeiten sich ändern. Das nichts mehr so ist wie es war. Dass die wirklich guten Jahre schon eine Weile zurückliegen. Der Schulleiter von Oberammergau schluckt etwas. Er will Schnitz-Kunst sagen - und sagt dann doch lieber Schnitz-Handwerk:
"Und gerade in der Schnitz-K, im Schnitzhandwerk ist in den letzten Jahrzehnten, kann man fast sagen, das ist in einer Wandlung begriffen. Die Bildthemen die in den 60er-, 70er-Jahren noch gut verkauft werden konnten, z.B. religiöse Sachen oder ja, Christusse, wenn man an solche Dinge denkt, werden weniger nachgefragt. Heiligendarstellungen werden einfach weniger nachgefragt. Und ich glaube, wir sind da in einem Umstellungsprozess gerade drin. Auch Oberammergau, der halt langsam vonstatten geht, aber der auch da ist. Wir bleiben von der Welt nicht verschont."
Die Schanze ist eine der größten ihrer Art, eine sogenannte "K-125"-Schanze, d.h. mindestens 125 Meter weit sind die Sprünge. Gesprungen wird im Winter und im Sommer - dann auf einer Keramikspur.
Der Aufsprung am Hang und der Auslauf, rund 140 schwindelerregende Meter weiter unten, ist dann statt mit Schnee mit Kunststoffmatten ausgelegt.
"Die Matten sind ein bisschen langsamer zum Landen. Die ist eh feiner, weil sie ein bisschen weicher ist. Im Winter ist es ein bisschen gefährlicher, weil es passieren kann, dass der Ski im Schnee stecken bleibt. Auf der Mappe rutscht man einfach aus. Dadurch, dass da eine bessere Dämpfung da ist auf der Matte, ist die Gefahr geringer, dass man sich da verletzt."
Alex Stöckl weiß, wovon er spricht. Er ist Trainer des Nachwuchskaders beim österreichischen Skiverband. Er hat an diesem Vormittag für seine 8 Jungs die große Olympiaschanze für eine Trainingseinheit gebucht. Das heißt: 6 - 8 Sprünge für jeden.
Die Sportler gehen die beiden Alu-Gitter-Treppen rechts und links neben der Anlaufspur ganz bis nach oben, insgesamt über 200 Stufen. Sie stecken in eng anliegenden Anzügen, die ein bisschen wie Neopren-Taucheranzüge aussehen. Zwischen 16 und 19 Jahren alt sind die jungen Springer eher schmal gebaut, keiner ist größer als vielleicht 1,75 m. Auf der Schulter tragen sie ihre Skier: deutlich länger als 'normale' Skier und: breiter - höchstens aber 11,5 cm, mehr ist nicht erlaubt - aus Vollkunststoff, ohne Kanten, leuchtstift-gelb. Helm ist Pflicht.
Oben angekommen hängen die ersten beiden den Absprungbalken ein.
Der Balken: etwa so breit wie ein Schwebebalken. Der Kärntner Lukas Müller kontrolliert, ob er fest eingerastet ist.
Seine Schnür-Schuhe sind aus festem Leder, mit hohem Schaft und eingebauter Stütze von der Ferse das Wadenbein hoch. Die Kunststoffsohle ist zugleich flexibel und hart, mit integriertem Keil, der dem Springer hilft, die optimale Haltung in der Anlaufhocke zu finden. Lukas bringt die Skier in die Spur, atmet einmal tief durch - drückt sich leicht mit den Händen vom Balken ab und rast die Spur hinunter zum Absprung vom Schanzentisch. Keiner hier oben scheint beim Blick in die Tiefe die geringste Angst zu kennen.
"Das darfst nicht haben. Wenn man das Gefühl hat, dann hast Du eigentlich schon verloren. Du darfst nie mit Angst auf eine Schanze gehen. Sonst bringt ja das ganze Spring-Ding nichts. Am ehesten noch Respekt vor der Schanze. Aber sonst nichts."
Spricht's und dann geht auch er in die Spur.
"Da möchte ich auch gern springen. So in sieben Jahren oder sechs."
Moritz Echsler steht unten, am Auslauf. Dort, wo eine Pistenraupe den Kunstschnee präpariert.
Moritz eigentlicher Traum ist nicht der Sprung von 'der Großen' hier in Garmisch. Er will eines Tages von der größten Skiflugschanze der Welt im slowenischen Planica springen - über 200 Meter weit.
Moritz ist 11 Jahre alt, Nachwuchsskispringer beim SC Partenkirchen. Im selben Verein wie sein großes Vorbild: der 18-jährige Felix Schoft, genannt Schofti - zur Zeit erfolgreichstes deutsches Jungtalent. Moritz weiß nur zu gut, um so weit zu kommen wie Schofti, bedarf es konsequenten, jahrelangen, harten, Trainings. Und die wenigsten, die lang, konsequent und hart trainieren, kommen so weit. Vielleicht kann es Moritz schaffen.
"Moritz ist ein Talent. Hat auch schon gute Erfolge gefeiert - auch deutschlandweit. Ist einer der Stärkeren in seinem Jahrgang. Zurzeit hat er ein bisserl Probleme im Sprungbereich. Das ist normal bei Kindern, mit dem Wachstum und dann müssen sie sich wieder an neue, längere Skier gewöhnen und so. Aber er ist an und für sich ein sportliches und ein Sprungtalent."
Andi Mitter kennt seine Jungs. Ihre Stärken, ihre Schwächen. Der 27-jährige blonde Diplomtrainer aus Österreich ist zuständig für das Nachwuchstraining. Er selbst hat das Springen mit 21 aufgegeben. Nach einer Verletzung beim sog. 'Trockentraining'. Mitter ist gern Trainer. Es ist für ihn mehr als ein Beruf, ist Berufung, sagt er.
Sechs Jungs, zwischen 11 und 15 spielen an diesem Mittag Fußball im Schnee - Aufwärmtraining im Skistadion. Das wurde für die Olympischen Winterspiele von 1936 gebaut. Im Halbrund um den Auslauf unten an der Schanze können bis 25tausend Zuschauer auf den Tribünen Platz finden. Zu den Weltcups oder zur berühmten Vier-Schanzen-Tournee sind die Reihen gefüllt. An diesem Mittag sitzen nur vereinzelte Besucher in der Mittagssonne und sehen Moritz und den anderen Jungs beim Kicken zu.
Moritz, genannt Momo, ist ein eher schmächtiger Junge, keine 1,5 m groß, 35 Kilo leicht. Leicht, wenn gepaart mit Kraft, ist ideal für Skispringer.
"Also, ich glaub, den Flug mach ich sehr gut. Bloß im Radius, da setze ich mich immer mit dem Arsch rein, und dann geht alles nur so nach vorne raus im Anlauf."
Moritz' halblanges braunes Haar, fällt ihm ständig über die braunen Augen, wenn es nicht unter seiner weißen Wollschirmmütze steckt. Er trägt Turnschuhe, schwarze Trainingshosen, blaue Fliesjacke mit weißer Aufschrift: "Springerteam SC Partenkirchen". Er ist flink.
Mit dem Skispringen beginnt Moritz mit sechs oder sieben. Macht seine ersten Hüpfer von einer Baby-Schanze, bis zu 25 Meter weit. Inzwischen springt er von kleinen Schanzen, bis zu 45 Meter. Demnächst kommt die Normalschanze dran, bei der Weiten bis zu 90 Meter möglich sind. Die "Große", die 125er, dann mit 16, 17.
Wer mit dem Skispringen anfängt, erklärt sein Trainer, entscheidet sich von Anfang an für den Leistungssport. 'Breitensport Skispringen', mal so ab und zu zum Vergnügen 'wo runter hüpfen' - das gibt es nicht. Im Sommer absolvieren Moritz und die Anderen 600 - 700 Trainingssprünge; im Winter wegen der Wettkämpfe etwas weniger. Insgesamt kommen sie auf 1000 bis 1100 Sprünge im Jahr.
"Nicht nur gesprungen. Ganz wichtig bei der Ausbildung ist auch das Langlauftraining. Und auch in der Halle das Trockentraining, wo sie auch gestärkt werden in der Beinmuskulatur und in er Rumpfmuskulatur. Wobei ich sage muss, vom Trainingsaufwand her - das macht ein Fußballspieler oder ein Skifahrer in seinem Alter genau dasselbe. Das ist eigentlich immer so. Wenn Du mal in die Spitze willst, deutschlandweit oder dann auch europaweit oder weltweit, dann musst Du in diesem Alter schon diesen Aufwand betreiben und auch motiviert sein, dass Du das willst. Das also die müssen schon ziemlich früh wissen, was sie wollen."
Nach dem Aufwärmen machen Moritz, sein vier Jahre älterer Bruder Maxi, Martin, Hannes, Nico und Philipp Dehnübungen.
"Also das sind so Trockenübungen fürs Skispringen. Also im Endeffekt, der Sportler sitzt in der tiefen Anfahrtsposition und springt dann über meinen Kopf drüber. Ich stemme ihn dann mehr oder weniger in die Höhe wie bei 'Dirty Dancing' mit der Hebefigur. Und dann fliegt er. Okay, passt Jungs, gehen wir's an"
Und dann Übungen für Sprungkraft und Körperspannung.
Trainer Andi, Moritz - der Jüngste in der Truppe - und die anderen Springer gehen in die Katakomben des Skistadions zum Umziehen. Raus aus den Trainingsanzügen, rein in die Springeranzüge.
Im Umkleideraum. An den Wänden drei Dutzend Schließfächer, an der Stirnseite neben der Tür baumeln auf zwei Ständern Springeranzüge. Zwischen zwei kleinen Fenstern hängen Springskier. Auf dem Boden verstreut, wild durcheinander geworfen, Sporttaschen, Skihüllen, Straßenschuhe, Jeans, Sweatshirts.
Vier, fünf Mal die Woche wird mindestens zwei, drei Stunden trainiert. Hinzu kommen Wettkämpfe. Aber Schule geht vor, mahnt der Trainer. "Passt scho", sagt Moritz
"Im Moment klappt's eigentlich recht gut. Ich bin in einer Schule, in der gibt es eine Sportklasse. Dann ist jeden Tag auch nachmittags und es gibt halt Essen. Und muss ich mich am Nachmittag immer befreien, wenn ich Training hab. Aber ich habe dann immer eine warme Mahlzeit. Und kann zur Schule gehen und danach immer zum Springen gehen."
Mit dem Aufzug den Hang hinauf zum Absprung der kleinen Schanze an einer Hügelkuppe. Die Jungs freuen sich, können heute zum ersten Mal wieder an ihrem Hausberg springen. Wegen der Baumaßnahmen für die große Olympiaschanze war die kleine Schanze über drei Jahre lang gesperrt, musste auf anderen Anlagen trainiert werden, mit einiger Anfahrtszeit.
Moritz und die Jungs erzählen von ihren Unfällen. Mit mehr oder weniger glimpflichem Ausgang. Die Verletzungsgefahr ist beim Abfahrtslauf wesentlich größer. Skispringer sind mutig, ja, aber keine Draufgänger-Typen, sagt Trainer Andi.
Die Skier über der Schulter - knapp anderthalb mal so lang wie die Jungs selbst - stiefeln die jetzt die wenigen Schritte vom Aufzug zur kleinen Schanze. Oben: Kein Absprungbalken, sondern nur zwei dünne Holzpfähle rechts und links in den Schnee geschlagen - zum Festhalten in der Hocke.
"Ja schaut gut aus. Probier's aus. Mach's gut Mo. Das sagt man halt sich gegenseitig immer. In der Luft hat der Hände immer zu weit weg. Ja, war ein ordentlicher Sprung - das erste Mal wieder auf der Schanze, muss man sich erst dran gewöhnen."
Moritz, 'Momo', schiebt seine Skier zurecht.
Fachsimpeln über Momos Sprung. So oder so ähnlich klingen Lob und Kritik von Trainer Andi auch.
"Momo, wenn Du in Flug rein kommst - richtig lässig! Das schaut wirklich richtig gut aus! Das Einzige was ist, mit den Schlägen da oben, da haut's Dich ein bisschen aus der Hocke raus. Merkst du das? Ja, dann geht mein Oberkörper immer so rauf und wieder runter. Genau, schau mal, dass du oben nicht so viel Zug in die Hände gibst sondern mehr Spannung in die Beine. Ja. Momo, bleib stabil jetzt am Radius. Jaaaa! Schön ausgesehen. Bisschen brav noch. Bisschen hinterm Ski noch, bisschen abwartend, aber das wird schon."
Von seinem Standort am Schanzentisch aus beobachtet Andi die Sprünge. Die Jungs holen sich seine Kommentare via Funksprechgerät ab, das unten beim Aufzug auf dem Boden liegt. 38 Meter ist Moritz an diesem Morgen gesprungen. Vielleicht geht sein Traum vom 200-Meter-Sprung von der weltgrößten Schanze in Planica ja eines Tages in Erfüllung. Aber bis dahin ist noch ein langer Weg.
Es geht nach Norden. Mit dem Auto sind es 20 Kilometer - eine kurvenreiche Strecke. Luftlinie, direkt auf dem Meridian 11, sind es nur zehn Kilometer. Bis nach Oberammergau. Das Dorf der Passionsspiele, das Dorf der Holzschnitzer. Früher tatsächlich auch einmal ein Dorf der Skispringer, die Holz schnitzen, und der Holzschnitzer die Skispringen.
"Wir Schnitzer sage ich mal, sind insgesamt sehr flexibel. A)tun wir nicht nur schnitzen, sehr viele Schnitzer sind auch sehr sportlich. In meiner Verwandtschaft, mein Stiefonkel, der war früher Skispringer. Und der hat sich da richtig runtergestürzt. Früher haben wir immer ein Foto in der Werkstatt gehabt aber ich glaube, das hat jetzt der Bruder mitgenommen. Also: der Ausgleich bei dem Job ist eigentlich auch wichtig."
Holzbildhauer Tobias Haseidl. 33 Jahre alt. Graue Haare, Ohrring, ein verschmitztes Lächeln, große, starke Hände. Er sitzt in seiner kleinen Werkstatt, einst ein Hühnerstall, die gleich neben seinem Haus - früher ein Jagdhaus - war. Landhaus Diana steht an der Wand, Haseidl klein auf der Klingel. Es ist eng und warm, es riecht nach Späne, auf der Werkbank: ein Modell. Haseidl ist Herrgottschnitzer. Er spannt sein Werkstück ein - ein Auferstehungschristus.
"Das Vorbild von diesem Modell ist angeblich in Anlehnung an eine Schwanthaler-Figur. Und ich hab die vor ungefähr 15, 20 Jahren geschnitzt und mach da jetzt wieder einen neuen Auferstehungschristus. Der ist einen Tick größer und der andere ist mein eigenes Modell, den gebe ich nicht her. Also muss ich ab und zu mal einen neuen Schnitzen, dass ich ihn hinstellen kann wenn ich auf eine Messe gehe und die Leute können ihn gleich mitnehmen."
Haseidl zuckt mit den Schultern. So ist es heute. Die Holzschnitzer von Oberammergau müssen auf Messen, wenn sie etwas verkaufen wollen. Sie müssen dann sofort liefern können. Es gibt zwar noch Arbeit auf Bestellung, aber die wird weniger. Ganz große Aufträge werden allerdings angekündigt. Wie 2006, als der Papst Bayern besucht, ihm eine große geschnitzte Gottesmutter als Geschenk überreicht wird. Geschnitzt von Tobias Haseidl. Im Garten seines Hauses unter einem Pavillon, weil die Werkstatt, der ehemalige Hühnerstall zu klein ist.
Haseidl schnitzt alles - auch seine Frau und die drei Kinder. Als Maria und Josef und die Hirten - nicht aber als Ochs und Esel.
An Naturmodellen insgesamt führt kein Weg vorbei. Wenn man eine sehr aufwendige Krippe macht, dann steht die ganze Familie Modell und es werden erst Fotos geschossen. Und ich sag: du stell ich mal so hin, dass ich nachschauen kann wie ist der Fuß genau geknickt, das man das alles im Kopf hat, da müsst man Anatomieprofessor sein. Und so kann man das richtig schön kombinieren mit dem richtigen leben.
Haseidl kneift ein Auge zusammen, legt das Eisen aus der Hand. Er ist mit dem letzten Stich nicht zufrieden. Das Messer hat eine Scharte. Die muss ausgewetzt werden.
Die Profis schleifen ihre Eisen alle selber. Und, wie gesagt, das hat jetzt so eine kleine Macke.
Funken fliegen. Das Schnitzeisen wird sehr viel schärfer - und etwas kürzer. Jetzt wird das ganze noch abgezogen. Zwei Wochen hat er für die Figur des Auferstehungschristus eingeplant, hofft sie für 1.800 Euro verkaufen zu können. Brutto.
"Wenn man es ganz knallhart betriebswirtschaftlich durchrechnet, das könnte man ja, man hat ja zehn Finger, damit kommt man schon weit, müsste man eher sagen: das ist uninteressant."
"Ein klassischer Betriebwirt würde sagen: so geht das nicht. Das sind viel zu viele Stunden und dann müsste man das noch reinrechnen und jenes und das Auto und das Gebäude und, und, und. Aber: man hat einen Riesenvorteil. Man arbeitet - zum Beispiel wie ich - daheim. Und so ist man, egal und wenn es nachts um 11 ist, oder dann die kleinen Kinder dann bei 30 cm Neuschnee mit dem Kuscheltier in der Werkstatt stehen und die drei Meter dann vom Haus durch den Tiefschnee laufen, das ist halt einfach witzig und das liebe ich."
Und schon greift er wieder zu Schlegel und Eisen. Ist Schnitzer - mit Leib und Seele. Dabei müssen es nicht immer Heilige sein, sagt er. Im Gegenteil. Mal schnitzt er Totenschädel - anatomisch korrekt - mal eine Figurengruppe mit dem Titel "Versuchung" - moralisch inkorrekt. Und dann wieder Madonnen.
Vor der Werkstatt liegt Schnee. Ein Nachbar hackt das Eis aus seiner Einfahrt. Den Hang hinunter, einmal durchs Dorf und dann eine Anhöhe wieder hoch. Hier schnitzen die, die sich erst noch etablieren wollen.
Die Schüler der Schnitzschule Oberammergau. In der ersten Klasse zwei Drittel Mädchen, nur ein Drittel Jungen. Drei Jahre dauert die Ausbildung an der Staatliche Berufsfachschule für Holzbildhauer. Danach gibt es eine Prüfung, dann den Gesellenbrief. Anna Mareike Butzer ist im ersten Lehrjahr. In der Werkstatt schnitzt sie an einer großen Tiermaske. Die 20-Jährige macht bereits Pläne für die Zukunft.
"Ich würde gern ins Ausland und rumtingeln. Andere Werkstätten sehen, eigentlich in Richtung Restauration, Bühnenbildner gehen. Weiß ich nicht. Und vielleicht verschlägt es mich zurück nach Hause. Aber: ich kann auch woanders hin."
Zuhause - das ist die Werkstatt ihrer Eltern - in Barwedel bei Wolfsburg. Ebenfalls, wenn auch eher zufällig, ganz nahe dem Meridian 11.
700 Kilometer weit weg von Oberammergau.
Anna Mareike lebt Holz. Seit ihrer frühsten Kindheit. Ihre Eltern sind Tischler und Drechsler, Kunsthandwerker, Bogenbauer. Die junge Frau mit Brille, die langen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, hat sich für ein Holzbildhauer-Symposium qualifiziert.
"Ja, und ich bin natürlich etwas vorbelastet. Meine Eltern sind Tischler und Drechsler. Bin mit Holz halt aufgewachsen und in Folge dessen auch mit der Motorsäge. Ja und dann habe ich mich eben hingesetzt und eine gute Idee gehabt."
Ihre Idee: eine "Sitzbank der Ruhe und Phantasie" - für ein Holzbildhauer-Symposium in Bad Bayersoyen, 14 Kilometer vor Oberammergau. Anna Mareikes Modell ist aus Ton. Für das Werk wird sie im Juni in aller Öffentlichkeit zur Kettensäge greifen. Ein Kunstwerkzeug, wenn man es bedienen kann.
"Ja ich mach das in Bad Bayersoien mit der Elektromotorsäge. Weil das ist mitten im Dorf. Und dann ist das mit der Benziner zu laut. Genau. Und die ganzen Feinheiten werden dann mit Schnitzeisen gemacht. Nachgeschnitzt. Und mit dem Winkelschleifer wird auch noch einiges gemacht, soweit man eben die Oberflächenbearbeitung glatt haben möchte."
Anna Mareike wendet sich wieder ihrer Tiermaske zu - einem Ziegenbock. Befestigt auf einer Art Staffelei - in guter Arbeitshöhe. Sie holt mit dem Schlegel, dem hammerähnlichen Werkzeug der Holzbildhauer, aus. Ihr Bizeps spannt und entspannt, ein harter Schlag, ein Holzspan fliegt - Die junge Frau ist voll Kraft, voll Konzentration.
Von der Seite kommt ein Lehrer dazu. Diplombildhauer Wolfgang van Elst, Mitte 40, dunkles langes Haar, Lach- und Denkfalten, die starken Hände eines Bildhauers. Er schaut, wie weit die erste Klasse mit den Tiermasken ist, ob er Anna Mareike helfen kann. Van Elst ist zufrieden.
"Da merkt man einfach ganz, ganz stark die hat unglaubliche Lust mit Holz zu arbeiten. Und die freut sich einfach was zu entdecken auch. Und da macht's natürlich gerade mit ihr - aber auch mit den anderen natürlich auch - sehr viel Spaß einfach zu sehen wie es sie fordert das Neue zu finden. Wie sie aber auch das was sie schon entdeckt hat ganz toll einsetzen kann. Und das macht mit ihr wirklich sehr großen Spaß."
Zwei von drei Erstklässlern an der Schule sind junge Frauen. Gleichberechtigung gibt es hier schon seit Jahrzehnten. Es geht um Kunst, nicht um schiere Kraft - und spätestens seit im Hof der Gabelstapler steht, ist die Geschlechterfrage keine mehr.
Van Elst liebt seinen Beruf. Er liebt die Holzbildhauerei, die Lehre, das Werkzeug mit dem er umgeht und dessen Gebrauch er vermittelt. Er strahlt, wenn er das Werkzeug auspackt, zwei Dutzend Schnitzeisen auf der Werkbank glänzen. Der Schlegel liegt locker in seiner rechten Hand.
"Mit diesem Schlegel schlagen sie dann auf das Heft eines Schnitzeisens. Schnitzeisen gibt es verschiedene, von verschiedenen Firmen, fünf bis sechs verschiedene Firmen bieten die an. Und haben sehr, sehr unterschiedliche Größen und Formen. Das heißt: zum groß rausschlagen braucht man natürlich ein relativ großes Eisen. Dieses Eisen hat ungefähr 7 cm in der Breite, steckt in einem Holzheft, nennt man das und hat einen gewissen Stich. Und zwar der Stich ist die Wölbung des Eisens. Und ganz zum Schluss, wenn man es braucht - man braucht es natürlich nicht für alle Sachen, gibt es sehr kleine Eisen, sogenannte Millimeterhohlbohrer."
Der Lehrer könnte noch Stunden erzählen. Über Hölzer und Messer, wie sich ein Werk in der Witterung verändert, warum gerade in diesem Beruf Kunst von können kommt. Doch gleich ist Pause.
Vor der Werkstatt führt ein Flur ins geschnitzte Treppenhaus. Füllig, prächtig, verspielt, 100 Jahre alt. Im Ersten Stock das Büro des Direktors. Die Tür ein Portal, der Rahmen ein Kunstwerk, jeder Quadratzentimeter geschnitzt, ein Vorhang aus Holz, mit Troddeln und Quasten. In der Tür: ein freundlicher Mann mit blauer Schürze.
Er wischt sich Holzspäne von der Jacke, sperrt die Tür auf. Florian Stückl. Der Schulleiter.
"Ja, das ist eine geschnitzte Türe, die mit Sicherheit beim Bau der Schule von den Schülern in Zusammenarbeit mit den Lehrern geschnitzt wurde, um einfach den Eingangsbereich zu dem Direktor zu verschönern. Das ist ziemlich fast furchteinflößend, steht da Direktor drauf. Das ist heute nicht mehr so, das ist halt noch da und schön anzuschauen."
Schulleiter Stückl will, dass seine Schüler Tradition und Moderne verbinden. Er weiß, dass Holzbildhauerei mehr ist, als Hergottschnitzen. Auch wenn das natürlich dazu gehört.
Und: Stückl kennt den größten Feind des Schnitzers: die Schnitzmaschine. Die Massenproduktion. Sieht aber auch die Chance des Künstlers: die eigene Idee. Auf dem Weg zur Schulwerkstatt zeigt er stolz auf einen hölzernen Ziegenbock.
"Natürlich wird das auch mit heutigen Techniken realisiert, also wenn ich an den Ziegenbock denke, der mit der Kettensäge, nur mit der Kettensäge realisiert ist, dann versuchen die Schüler natürlich auch mit heutigen Techniken zu arbeiten. Und in dem Fall war's so: der Schüler hat das ganz klassisch gemacht, wie man's halt früher auch gemacht hat. Man hat die Ziege da gehabt, die Ziege modelliert, dann abgegossen und dann auch in Holz geschnitzt. Und hat dann gesagt: So, ich mach jetzt noch einmal einen Versuch mit der Kettensäge. Und hat dann mit dem Wissen, das er sich vorher angeeignet hat die Ziege noch mal mit der Kettensäge realisiert."
Im nächsten Jahr sind wieder Passionsspiele in Oberammergau und die Schnitzer hoffen auf gute Geschäfte. Mit Jesus und Maria. Mit der Passion, der Leidensgeschichte Christi. Doch spüren sie längst, wie die Zeiten sich ändern. Das nichts mehr so ist wie es war. Dass die wirklich guten Jahre schon eine Weile zurückliegen. Der Schulleiter von Oberammergau schluckt etwas. Er will Schnitz-Kunst sagen - und sagt dann doch lieber Schnitz-Handwerk:
"Und gerade in der Schnitz-K, im Schnitzhandwerk ist in den letzten Jahrzehnten, kann man fast sagen, das ist in einer Wandlung begriffen. Die Bildthemen die in den 60er-, 70er-Jahren noch gut verkauft werden konnten, z.B. religiöse Sachen oder ja, Christusse, wenn man an solche Dinge denkt, werden weniger nachgefragt. Heiligendarstellungen werden einfach weniger nachgefragt. Und ich glaube, wir sind da in einem Umstellungsprozess gerade drin. Auch Oberammergau, der halt langsam vonstatten geht, aber der auch da ist. Wir bleiben von der Welt nicht verschont."