Von Tobias Wenzel

Die "taz" mokiert sich über die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten. Die "FAZ" denkt über Sarrazin und die "Mehmet-Scholl-Türken" nach. Und der "Tagesspiegel" fürchtet das "totale Internet".
"Das hat er sauber hingekriegt", schreibt Anja Maier in der TAGESZEITUNG über die Weihnachtsrede von Bundespräsident Christian Wulff. Wie das die Autorin meint, ahnt man schon und sieht sich bestätigt, wenn man weiter liest:

"Der Weichzeichner umnebelte die nach Berlin angereisten patenten Männer und Frauen, die Nonnen und Pfadfinder, die Vorzeigemigranten, dass es eine Freude war. Und da, unten auf dem Teppich des Bellevue, lümmelten Kinder sonder Zahl, die einfach mal Ruhe gaben und aufmerksam Onkel Christians Rede lauschten."

Als Schmierentheater kam Anja Maier offenbar der Einfall Wulffs vor, ehrenamtliche Mitarbeiter einzuladen und ihnen für ihren selbstlosen Einsatz zu danken. Denn sie schreibt:

"Hätten nicht alle schon dagestanden, man hätte erwartet, dass um 20.15 Uhr der Volksmusikstar Florian Silbereisen hinter dem Baum hervorspringt und alle Mitwirkenden bittet, für das große Finale noch mal ganz schnell auf die Bühne zu kommen. Aber da waren sie ja schon."

Wer nicht da stand im Schloss Bellevue, obwohl er als Vorzeige-Immigrant gut hingepasst hätte, war Mehmet Scholl. Aber Mehmet Scholl hat Besseres vorgehabt, würde Danyal Bayaz schreiben. "Was sagt Mehmet Scholl zu Sarrazin?" fragt er in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG.

Doch zur Antwort gelangt der Feuilleton-Leser vorerst gar nicht, denn das Wort "Sarrazin" wirkt wie eine Schlaftablette. Zumal in dieser kalten Jahreszeit, in der die Lebkuchen die Bäuche blähen und die Stopfgans wieder zurück in die Speiseröhre schieben, in der man im kuscheligen Bett mit dem FAZ-Feuilleton im Arm einschlummert und ein sanftes Schnarchen von sich gibt, das klingt, als spräche man "Sarrazin" französisch aus.

Aber irgendwann ist jedes Winterschläfchen vorbei. Und dann öffnet man die müden Äuglein, blinzelnd, und der Blick fällt auf das Schlagwort in Danyal Bayaz’ Artikel in der FAZ: Mehmet-Scholl-Türken. Der Autor definiert sie so:

"Diese sind meist junge Leute mit Migrationshintergrund, haben aber keinerlei Bezug zu ihrer ursprünglichen Herkunft und sprechen die Sprache, die ihr Name suggeriert, nur schlecht oder gar nicht. So wie Mehmet Scholl eben."

Die Mehmet-Scholl-Türken, die hätte sich der Autor als Teilnehmer der Sarrazin-Debatte gewünscht. Aber die Mehmet-Scholl-Türken wollten überhaupt nicht "das öffentliche Bild der Diskussion prägen", so Bayaz weiter:

"Für einen Mehmet-Scholl-Türken stellt sich nicht die Frage, ob Merkel oder Erdogan, Deutschland oder die Türkei, sondern VfB Stuttgart oder Werder Bremen, Riester-Rente oder Bausparvertrag. Sie haben zwar irgendwo im Regal auch ein verstaubtes Grundgesetz herumliegen, viel eher aber googeln sie den Bußgeldkatalog der Straßenverkehrsordnung."

Das Internet wird in Zukunft nicht nur Bußgeldkataloge speichern, sondern unser gesamtes Leben, wenn man einigen Netzphantasten glauben darf. Astrid Herbold hat sich für den TAGESSPIEGEL kritisch mit der Vorstellung von der totalen Erinnerung im Internet auseinandergesetzt.

"Wird der Computer am Ende zum Erzähler unserer Lebensgeschichten? So wie früher die Mutter, wenn sie die Fotos fürs Familienalbum auswählte und mit ihren Kommentaren versah?"

fragt sie. Denn die Festplatten scheinen groß genug zu sein, um nicht nur die digitalen Urlaubsfotos bei Facebook zu speichern, sondern auch, dass unser Puls von 73 auf 88 stieg, als wir um 19.46 Uhr beim Italiener saßen und die Pizza Margherita geliefert wurde. Astrid Herbold zitiert den Mediensoziologen Stefan Selke:

"Die Frage wird sein: Passen sich die zahlreichen gesammelten Daten widerspruchslos in meine biografische Narration ein – oder wirken sie kontraproduktiv?"

Da gibt die Autorin ein Beispiel:

"Ach, das war damals gar nicht Liebe auf den ersten Blick? Und geheiratet haben wir damals nur wegen der Steuer? Nein, das kann nicht sein. Das lösch’ ich raus."