Von Trieben und Leidenschaften
Ob Gefühle eine Geschichte haben, wurde erstmals Anfang des 20. Jahrhunderts untersucht. Nun hat der Londoner Historiker Jan Plamper ein 500 Seiten starkes Grundlagenwerk vorgelegt, in dem er die Macht der Emotionen von der Antike bis in die Gegenwart beschreibt.
Im Januar 2007 empfing der russische Präsident Wladimir Putin Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Gesprächen auf seiner Regierungsdatscha in Sotschi. Merkel, die nach schlechten Erfahrungen Hunde normalerweise strikt meidet, wurde dabei auf Schritt und Tritt von der Labradorhündin Putins bewacht. Die Welt konnte daran teilhaben, wie Merkels Körpersprache auf diese "Verängstigungsstrategie" Putins reagierte. Trotz jahrelanger deutsch-russischer Freundschaft signalisierte er so, wer "der Herr im Hause ist".
Jan Plamper (Jahrgang 1970), Professor für Geschichte in London, fragt anhand etwa dieses Beispiels, was sich auf dem politischen Parkett emotional abspielt und inwieweit die Inszenierung von Gefühlen an der Geschichtsschreibung beteiligt ist. Sein neues Buch ist dem Verhältnis von Geschichte und Gefühl gewidmet - und damit einer Wissenschaft, die seit der Jahrtausendwende vor allem als Teil der Geschichtswissenschaft boomt: der Emotionsgeschichte.
Ob Gefühle eine Geschichte haben und inwieweit bestimmte Gefühle als kommunikative Äußerungen Geschichte machen, wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts von Soziologen und Kulturhistorikern wie Johan Huizinga und Nobert Elias untersucht. Doch erst jetzt, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, in einer Zeit der Hochschätzung von Gefühlen, rückt deren Handlungsmächtigkeit immer mehr ins Zentrum der Diskussion.
Am Beginn seiner 500 Seiten umfassenden Abhandlung verweist Plamper auf das Problem, dass weder Einigkeit über den Gegenstand noch über die Methoden herrscht. Plamper will Bilanz ziehen und versteht sein Buch als Kompendium, aber auch als "Navigationshilfe", um die "gefühlsgeschichtlichen Erkundungen" der Leser zu lenken. Seine zentrale Frage lautet: Wann und wo trägt wer und warum Emotionen öffentlich zur Schau?
Plamper interessiert auch, inwieweit Emotionen in verschiedenen Kulturen anders ausgedrückt werden und eine eigene Geschichte haben. Er geht etwa auf Studien der amerikanischen Emotionsethnologen Jean Briggs und Robert Levy ein, die aus den 1970er-Jahren stammen. Briggs untersuchte eine Verhaltensregel der Utkus (einer Gruppe kanadischer Eskimos), die lautet: "nie wütend zu werden". Wird ein Utku erwachsen, erwirbt er "ihuma", was Emotionskontrolle oder Vernunft bedeutet. Nur ein "Kind" oder "ein sehr kranker oder verrückter Mensch", so Briggs, hat kein "ihuma".
Plamper stellt viele Fragen, womöglich gar zu viele, und er interveniert oft am Ende eines Kapitels gegen die eigene Argumentationsweise. Dem Leser wird dadurch die Lektüre nicht leicht gemacht. Nach einer Vielzahl von historischen und theoretischen Exkursen und ethnologischen Fallbeispielen ist noch ein Anhang von ganzen 150 Seiten zu bewältigen. Das Gefühl der Verzweiflung gewinnt schließlich die Oberhand und signalisiert, dass auf dem Gebiet der Emotionsgeschichte noch viel zu tun ist.
Besprochen von Carola Wiemers
Jan Plamper, "Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte"
Siedler Verlag, München, 2012
480 Seiten, 29,99 Euro
Jan Plamper (Jahrgang 1970), Professor für Geschichte in London, fragt anhand etwa dieses Beispiels, was sich auf dem politischen Parkett emotional abspielt und inwieweit die Inszenierung von Gefühlen an der Geschichtsschreibung beteiligt ist. Sein neues Buch ist dem Verhältnis von Geschichte und Gefühl gewidmet - und damit einer Wissenschaft, die seit der Jahrtausendwende vor allem als Teil der Geschichtswissenschaft boomt: der Emotionsgeschichte.
Ob Gefühle eine Geschichte haben und inwieweit bestimmte Gefühle als kommunikative Äußerungen Geschichte machen, wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts von Soziologen und Kulturhistorikern wie Johan Huizinga und Nobert Elias untersucht. Doch erst jetzt, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, in einer Zeit der Hochschätzung von Gefühlen, rückt deren Handlungsmächtigkeit immer mehr ins Zentrum der Diskussion.
Am Beginn seiner 500 Seiten umfassenden Abhandlung verweist Plamper auf das Problem, dass weder Einigkeit über den Gegenstand noch über die Methoden herrscht. Plamper will Bilanz ziehen und versteht sein Buch als Kompendium, aber auch als "Navigationshilfe", um die "gefühlsgeschichtlichen Erkundungen" der Leser zu lenken. Seine zentrale Frage lautet: Wann und wo trägt wer und warum Emotionen öffentlich zur Schau?
Plamper interessiert auch, inwieweit Emotionen in verschiedenen Kulturen anders ausgedrückt werden und eine eigene Geschichte haben. Er geht etwa auf Studien der amerikanischen Emotionsethnologen Jean Briggs und Robert Levy ein, die aus den 1970er-Jahren stammen. Briggs untersuchte eine Verhaltensregel der Utkus (einer Gruppe kanadischer Eskimos), die lautet: "nie wütend zu werden". Wird ein Utku erwachsen, erwirbt er "ihuma", was Emotionskontrolle oder Vernunft bedeutet. Nur ein "Kind" oder "ein sehr kranker oder verrückter Mensch", so Briggs, hat kein "ihuma".
Plamper stellt viele Fragen, womöglich gar zu viele, und er interveniert oft am Ende eines Kapitels gegen die eigene Argumentationsweise. Dem Leser wird dadurch die Lektüre nicht leicht gemacht. Nach einer Vielzahl von historischen und theoretischen Exkursen und ethnologischen Fallbeispielen ist noch ein Anhang von ganzen 150 Seiten zu bewältigen. Das Gefühl der Verzweiflung gewinnt schließlich die Oberhand und signalisiert, dass auf dem Gebiet der Emotionsgeschichte noch viel zu tun ist.
Besprochen von Carola Wiemers
Jan Plamper, "Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte"
Siedler Verlag, München, 2012
480 Seiten, 29,99 Euro