Von Viotti und Vivaldi bis Zelenka und Bernd Alois Zimmermann

"Die Musik in Geschichte und Gegenwart", kurz "MGG²" (was sie von der jetzt vollständig abgelösten ersten Auflage unterscheidet), gehört zu den wichtigsten Fachenzyklopädien der Welt. Ihr Abschluss, mit Band 17 des Personenteils "VIn- Z", ist ein Ereignis. Hier schreiben Leute, die nur die Spitze eines Eisbergs von Wissen zeigen. Insofern stecken in jedem Band noch einmal tausend Bücher mehr.
Es beginnt mit Facundo de le Viňa y Manteola (geboren 1876 in Gijon) und Benedetto Vinaccesi (geboren um 1666 in Brescia). Vinaccesi war einer der Hauptorganisten an San Marco, und doch ist hier wenig zu berichten:

"Sein Leben in Venedig verlief ereignislos."

heißt es im biographischen Teil. Aber auch die Würdigung des Werks beginnt mit der Feststellung, dass sich die Mehrzahl seiner opera nicht erhalten haben. Allerdings

"läßt sich aus dem vorhandenen Material schließen, dass er ein auffallend origineller Komponist war, der die Komplexität und Kunstfertigkeit des Kontrapunkts schätzte, musikalische Formen innovativ handhabte und das Unkonventionelle nicht mied."

Vielleicht wollten Sie ja nie wissen, dass Vinaccesi zwölfsätzige Kammersonaten verfasst hat. Vielleicht ist das sinnloses Wissen. Und doch, vielleicht auch nicht, und Vinaccesi, in dessen Leben nicht viel passiert ist und dessen Werke überwiegend verschollen sind, er begegnet Ihnen doch noch mal.

Und selbst wenn nicht: es vermittelt doch ein beruhigendes Gefühl, dass es einen Ort gibt, wo all das steht. Nüchtern, schnörkellos, gegründet auf Fakten, Daten, Kompetenz. Ein Gefühl in taubenblau. So sind, seit 1994 der erste Teil erschien, die soliden Handbuchbände umhüllt: eine Farbe, die Vertrauen schafft, unspektakulär und zuverlässig, und wenn Sie in irgendeiner großen Bibliothek, irgendwo auf der Welt, plötzlich das Sterbedatum von Karl Eduard Philipp Wackernagel (dem Kirchenliedhistoriker) brauchen: folgen Sie dem Taubenblau im Handapparat. Hier werden Sie geholfen.

"Die Musik in Geschichte und Gegenwart", kurz "MGG²" (was sie von der jetzt vollständig abgelösten ersten Auflage unterscheidet) gehört zu den wichtigsten Fachenzyklopädien der Welt. Ein Unternehmen, wie es heute kaum ein Verlag noch anpacken würde. Sein Abschluss, mit Band siebzehn des Personenteils, "VIn- Z" ist ein Ereignis, aber naturgemäß eines von den stillen. Musikwissenschaftler sind keine lauten Leute.

Allerdings, in diesem Fall, hat es sogar ein bisschen Krach gegeben. Denn Ludwig Finscher, der Hauptherausgeber, der das Unternehmen von Anfang an leitete, hat, dramatisch kurz vor Abschluss des großen Ganzen und, wie es heißt, aus Ärger über zwei Beiträge ausgerechnet im letzten Band, sein hohes Amt niedergelegt.

Der Leser, der mit Ehrfurcht durch die 1612 Spalten wandert, fragt sich staunend, welche das wohl gewesen sein können. Denn im schlimmsten Fall ist ein Artikel langweilig, vielleicht weil im Leben des Komponisten nichts passiert ist und seine Werke verschollen sind, er aber wegen zwölfsätziger Sonaten doch irgendwie merkwürdig und einen Eintrag wert ist.

Aber immer hat man den starken Eindruck: Hier schreiben Leute, die, weil sie uns eiligen Handbuchbenutzern nicht die Zeit stehlen wollen, nur die Spitze eines Eisbergs von Wissen zeigen. Insofern stecken in jedem Band noch einmal tausend Bücher mehr. Wer mehr will, kann sie finden, denn die Spezialliteratur ist aktuell und akribisch verzeichnet. Auch das schnöde Konzept des Werkverzeichnisses wird ernst genommen: Bei den größeren Namen sind sie vollständig.

Und überhaupt: an großen Namen ist der letzte Band nicht arm: Viotti und Vivaldi, Weber und Webern, bis Xenakis und Zelenka und Bernd Alois Zimmermann. Da liest man Artikel von fast monographischen Ausmaßen. Der längste gehört, natürlich, Richard Wagner.

Sven Friedrich, der den biographischen Teil, und Martin Geck, der Werk und Wirkung bearbeitet hat, ihnen gelingt, angesichts der ausufernden Dimension von Leben, Werk und Rezeptionsgeschichte ein Meisterstück der Verdichtung. Wagners Welt, seine Gründe und Abgründe, in achtzig enggedruckten Spalten, und was das Gute ist: das alles bleibt lesbar. Dazu trägt bei, dass sich beide Autoren nicht auf die Pseudo-Objektivität des Handbuchstils zurückziehen.

"Bereits mit 12 Jahren wollte Wagner durchaus Dichter werden","

schreibt etwa Friedrich

""und verfasste eine Rittertragödie mit so bemerkenswerten Passagen wie dem geängstigten Ausruf eines Burgfräuleins 'Ich höre schon den Ritter trabsen'"."

Nun wissen wir das auch. Und Martin Geck gelingen, noch aus dem nötigen Abstand der Vogelperspektive, lebendige Formulierungen, differenzierte Einschätzungen, wo auf dem Kampfplatz Wagner die Frontverläufe unübersichtlich werden.

Natürlich gibt es auch Lücken, Fehler (ich fand nur kleine), Problematisches. Dazu gehören die von den mit einem Eintrag Geehrten selbst verfassten Stücke, wo sich dann ein Autor lapidar bescheinigt, ein "Standardwerk" geschaffen zu haben.- Schön, dass Stevie Wonder einen Eintrag hat. Brauchte auch Konstantin Wecker einen? Dafür "Wolf-Ferrari": viel zu kurz. Auch "Zappa, Frank", zumal hier genauere Hinweise auf die Berührungsflächen des Rockrebells mit Varèse, Strawinsky und Co. fehlen. Und so weiter. Irgendwas fehlt immer.

Es endet übrigens mit Otto M. Zykan,

""der eine glänzende Karriere als Pianist begründete; sie gipfelte in der ersten Gesamteinspielung von A.Schönbergs Klavierwerk. [ ... ] Auch Kompositionen Zykans erhielten Preise, sahen aber die Jury auch oft fassungslos über die in ihnen herrschende Verulkung des Akademismus."
Und wir erfahren, dass Zykans erste Oper "Singers Nähmaschine ist die beste" hieß. Am 25.Mai 2006 ist er gestorben, so passte sein Todesdatum gerade noch in den letzten Artikel der MGG. Es ist vollbracht. Und wird noch lange bleiben.


Rezensiert von Holger Noltze


Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart
Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begründet von Friedrich Blume.
Zweite, neubearbeitete Ausgabe. Band 17, Personenteil.
Bärenreiter Kassel, Metzler Stuttgart 2007, 203,50 Euro