Von wegen behindert

Von Susanne Burkhardt · 16.11.2011
Auf dem Festival "No Limits" zeigen 200 behinderte und nicht-behinderte Künstler an acht Berliner Spielstätten, wie aufregend und erfrischend Theater sein kann - wenn es die Grenzen zwischen normal und unnormal vergisst.
"Hast Du jemals einen Hotdog gegessen?" - "Nein." - "Einen Hamburger?" - "Nein." So beginnt ein Gespräch zwischen zwei Frauen. Jung, übergewichtig, beide in hautengen goldfarbenen Gymnastiktrikots. Down-Syndrom-Gesicht die eine - die andere mit sturem bösen Blick. "Food Court" heißt das Stück des australischen Back to Back-Theaters.

Aus dem scheinbar harmlosen Dialog übers Essen wird später eine Gewaltorgie: Als eine dritte junge Frau, gehbehindert, die Szene betritt, richten sich die Aggressionen der beiden auf sie. Hier geht es nicht mehr ums Essen, sondern um die Frage von Macht und Kontrolle:

"Du riechst wie Scheiße, wie Tierscheiße. Du bist ein Tier. Ich töte Dich. Sie kann wirklich brutal werden. Du bist nicht gut für Deine Familie. Du hast Angst ... Geh mir aus dem Gesicht. Verschwinde aus meinem Leben ..."

Regisseur Bruce Gladwin hat ein belauschtes Pausengespräch seiner Schauspieler übers Essen zur Grundlage des Stücks gemacht und dann durch Improvisationen weitergesponnen. Zu den faszinierend-beklemmenden Bildern auf der Bühne, Waldszenen, die durch aufwendige Folien wie im Nebel wirken, spielt live die australische Band "The Necks". Vertont die bedrückende Atmosphäre zu einem Klangteppich, der an die Nerven geht und das Unbehagen des Zuschauers angesichts der Gewalt auf der Bühne subversiv verstärkt.

Bruce Gladwin erzählt die Geschichte einer Demütigung - und spiegelt damit eine erfolgsgetriebene Gesellschaft, in der jeder der Beste sein will. In der es wichtig ist, zu gewinnen - all das dargestellt von behinderten Schauspielern:

"Behinderte Menschen werden oft als Opfer dargestellt. Oder als unschuldig. Wir fanden es spannend, die Behinderten als Menschen zu zeigen, die in der Lage sind, etwas Böses und Gemeines zu tun. Denn diese Fähigkeit, böse zu sein, die steckt in jedem von uns. Zu sagen: Du kannst nichts Böses tun - heißt also soviel wie: Du bist kein Mensch. Auf fast perverse Weise zeigen wir hier: Behinderte Menschen können gleichzeitig sadistisch und Menschen sein."

Seit mehr als 15 Jahren arbeitet das Back to Back-Theater mit professionellen Schauspielern, die geistig oder körperlich behindert sind. Als eines der wenigen Vollzeit-Ensembles dieser Art in Australien. Nicht die Behinderung steht im Vordergrund ihrer Arbeit - sondern das Anliegen, tolles Theater zu machen. Dafür werden sie international gefeiert. Ihre aufwendige Großproduktion war Auftakt und gleichzeitig erster Höhepunkt des Festivals "No Limits".

Ein imposantes Programm haben die Veranstalter in die Hauptstadt geholt. Neben alten Hasen der Berliner Szene - wie dem Theater Rambazamba oder Theater Thikwa - etwa zwei Inszenierungen aus Belgien.

Die Frage "Darf man über Behinderte lachen?", wurde beim Cirque Ouille aus Lüttich imperativ mit "Man muss" beantwortet. Hinreißend, wie die Clowns hier einfachste alberne Tricks zeigen und dabei so sehr bei sich sind, dass sich das Absurde des Moments, das eigene Staunen und der eigene Spaß ganz auf die Zuschauer überträgt.

Ganz anders dagegen das Stück "Poppemie" aus Antwerpen. Es thematisiert verstörend und sehr berührend die Sehnsucht nach Liebe. Behinderte und nichtbehinderte Akteure erzählen mit einfachen Mitteln und fast wortlos von Sex und Gefühlen, davon, wie es ist, wenn man sich ein Kind wünscht und weiß, dass dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen darf.

Nicht alle Beiträge funktionieren wie dieser - es gibt auch Ausrutscher ins Didaktische, wie ein Dokumentartheater-Beitrag aus Italien. Der Regisseur Herbert Fritsch hatte dagegen den Wahnsinn zum Inszenierungsprinzip erhoben und sich mit Zürcher Schauspielstudenten "Ibsen, die Sau" vorgeknöpft.

Auch in Ausstellungen und Symposien wurde die Frage nach dem Anderssein thematisiert. Während die einen sich selbst als behindert wahrnehmen, ist für andere diese Bezeichnung völlig irrelevant - oder sie nennen sich, wie eine Gruppe aus Dresden: "Club der anders begabten Bürger". Genau in dieser Bandbreite spielt das Festival "No Limits" mit einer Vielfalt der Sichtweisen: darauf, was Behinderung eigentlich ist, wer wen zu Behinderten macht und welche Ängste vor dem Anderen in uns lauern.

Bruce Gladwin: "Ich arbeite gern mit behinderten Schauspielern - sie haben ein ganz anderes Verständnis von unserer Welt, andere Menschen. Das liegt vermutlich daran, dass sie außerhalb aller Institutionen stehen, mit denen wir zu tun haben. Kaum einer der Schauspieler denkt daran, eine Universität zu besuchen, Theater zu studieren, zu heiraten oder eine Anstellung zu bekommen. So gesehen sind sie großartige Kommentatoren dieser Institutionen, die unsere Gesellschaft prägen."

Gestern eröffnete die britische Band Tiger Lillies ein Episodenprojekt zum "Prinzip Struwelpeter". In den kommenden Tagen verraten Künstler in Theaterskizzen, warum das umstrittenste Kinderbuch der Welt mit seinen albtraumartigen Bestrafungspädagogik-Szenarien auch als Lehrbuch für Regelverstoß und Eigensinn gelesen werden kann.

Anne Tismer: "Bei 'No Limits', da macht es den einzelnen Gruppen sehr viel Spaß, das alles so zu zeigen. Und jetzt seh' ich's halt noch mal mit anderen Augen. Wahrscheinlich ist das nicht so ganz ernst zu nehmen, das Buch. Man muss das irgendwie anders sehen."

Anders sehen - wie die Aktionskünstlerin Anne Tismer, die die Geschichte von der fliegenden Roberta erzählen wird und mit Künstlern aus Togo auftritt. Oder wie Festivalleiter Andreas Meder, der sich wünscht, dass man sein Festival irgendwann einmal gar nicht mehr braucht - weil die Trennung von behinderten und nicht-behinderten Künstlern dann vielleicht gar nicht mehr existiert:

"Schauspieler von Stadttheatern sagen ja immer, wenn sie mal als Gast in einer Produktion mit geistig behinderten Menschen mitgewirkt haben, dass es für sie eine ganz großartige Erfahrung war, weil sie einfach diese Unmittelbarkeit sonst nicht erleben und auch diese Wachheit nicht haben müssen, um spontan zu reagieren, wenn etwas nicht ganz so läuft, wie man es gedacht hat. Und von daher kann man von dieser unmittelbaren Ausdrucksfähigkeit behinderter Menschen auf der Bühne viel lernen."