Voodoo-Riten in Benin

Wo die Toten nicht tot sind

10:26 Minuten
Ein Egoun steht auf einer Straße in Porto Novo: Ein Mann, in bunte weite Stoffe gewandet, die auch das Gesicht verhüllen.
Die sogenannten Egoun Egoun repräsentieren im Voodooglauben die Geister der Verstorbenen. © AFP / Yanick Folly
Von Katrin Gänsler · 07.08.2022
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Im westafrikanischen Benin ist der Voodoo-Glaube eine anerkannte Religion. Wie im Christentum und im Islam spielt das Jenseits dort eine große Rolle. Aber die Verstorbenen kommen nicht ins Paradies, sondern leben als Geister weiter.
Freitagabend in Fidjrosssé, einem beliebten Viertel in Benins Hafenmetropole Cotonou. Quer über die sandige Straße ist ein großes, offenes Zelt aufgebaut. Darunter stehen 100 weiße Plastikstühle. Aus den Boxen dröhnt Musik: französische Schlager, Popmusik und Trommelklänge.

Nachtwache für den Verstorbenen

In dem Haus, vor dem das Zelt steht, hat Anoumou Telesphore Akpla immer dann gewohnt, wenn er zu Besuch in Cotonou war. Er war zwar Beniner, seinen Wohlstand verdankte er aber seiner Arbeit in dem kleinen Ölstaat Gabun. Anges Acakpo hat ihn gut gekannt:
„Er ist ein Onkel von mir gewesen, der im Alter von 72 Jahren gestorben ist. Fast sein ganzes Leben hat er in Gabun verbracht. Er machte hier Urlaub, und kurz bevor er wieder zurückfahren wollte, ist er gestorben. Hier werden wir ihn beerdigen", erklärt Acakpo:

Bis zum frühen Morgen halten wir Totenwache mit Tänzen und Gesängen. Wir begleiten seinen Körper, der im Haus aufgebahrt ist.

Der Reihe nach gehen die Trauergäste in das Haus, um den fünf erwachsenen Kindern des Verstorbenen und vor allem seiner Witwe ihr Beileid zu bekunden. Die Augen der Frau sind verweint. Vorsichtig legt eine der Töchter ihre Hand auf die Schulter der Mutter, um sie zu trösten. Auf der Straße jedoch geht die Party los.

Im Tod das Leben feiern

Frauen verteilen Baguette, Suppe, Softdrinks und Bier. Ob die Gäste Anoumou Telesphore Akpla nun gekannt haben oder nicht: Alle bekommen etwas. Die Stimmung wird immer ausgelassener, und die ersten beginnen zu tanzen. Dass in Benin eine Beerdigung zur Party wird, ist normal, sagt Anges Acakpo:
„Man darf hier nicht traurig sein, sonst ist man auch dort traurig. Man braucht Freude im Leben. Wenn man geboren wird, weint man schon. Wenn man aber geht, dann sollte man doch lachen. Man muss mit dem Gefühl von Freude gehen, um die Eltern wieder zu treffen. Dann ist man mit sich im Reinen. Wir singen und tanzen, damit ein Mensch in Frieden geht, damit die Stimmung gut ist.“
Männer spielen verschiedene Instrumente.
Musiker ziehen durch den Geburtsort des Verstorbenen und begleiten den Sarg.© Deutschlandradio / Katrin Gänsler
Eine konkrete Vorstellung von einem Leben nach dem Tod – etwa die Vorstellung von einem Paradies wie im Christentum – gibt es nicht. Eins ist jedoch klar, mit dem Tod ist nicht alles vorbei, auch für den Onkel von Anges Acakpo nicht:

Er hat nur die Seite gewechselt. Sein Geist ist immer bei uns.

Dass die Ahnen stets präsent sind, hängt mit der Religion Voodoo zusammen. Während das Christentum erst 1860 mit den ersten Missionaren nach Benin kam, ist die Naturreligion tausende Jahre alt. Auf Fon – es ist die Süden des Landes am meisten gesprochene Sprache – bedeutet das Wort „Voodoo“ Gott oder Gottheit.

Vermischung mit dem Christentum

Es gibt einen Schöpfergott. Da man mit ihm aber nicht kommunizieren kann, spricht man mit seinen Kindern. Von denen soll es mehr als 400 geben. Sie werden je nach Interpretation mal als Heilige, mal als eigene Gottheiten betrachtet. Offiziell praktizieren knapp zwölf Prozent der 13 Millionen Bürgerinnen und Bürger Benins Voodoo. Tatsächlich gibt es jedoch häufig eine Vermischung mit dem Christentum.
Trauernde und christliche Würdenträger stehen um ein Grab herum.
Christentum und Voodoo? In Benin ist das kein Widerspruch. Trotz mehr als 160 Jahren der Evangelisierung halten sich alte Traditionen. © Deutschlandradio / Katrin Gänsler
Am Samstagmorgen auf dem Weg nach Grand Popo. In der Stadt 80 Kilometer westlich von Cotonou wird Anoumou Telesphore Akpla beigesetzt. Doch bis die Trauergemeinde zum Friedhof fährt, werden noch Stunden vergehen, erklärt Anges Acakpo:
„Wir fahren zuerst in sein Heimatdorf, in dem die traditionelle Zeremonie stattfindet. Wir werden ihn in das Haus seiner Familie bringen und dort zeigen. In der katholischen Kirche waren wir heute Morgen schon in Cotonou. Alles, was mit Kirche zu tun hat, ist jetzt vorbei.“

Tote und Lebende bilden eine Gemeinschaft

Gbeffa ist eigentlich ein ruhiges Fischerdorf. Doch jetzt warten Hunderte Menschen auf die Ankunft des Leichnams, Musiker ebenso wie die Revenants, wie die Geister des Todes genannt werden. Sie tragen bunte Baströcke, wirbeln durch die Gegend und erinnern daran, dass Tote und Lebende eine Gemeinschaft bilden. Die Menschen unter den Gestellen sind nicht zu erkennen.
Eine Person läuft in einer komplett den Körper mit bunten Fransen verdeckenden Verkleidung über eine Straße.
Die Revenants, die Geister des Todes, fehlen bei keiner Zeremonie. © Deutschlandradio / Katrin Gänsler
Der Gesang der Frauen kündigt den Leichenwagen an, der endlich angekommen ist. Der Sarg wird aus dem Kofferraum gehoben. Jetzt beginnt die Prozession durch das Dorf. Auch sie ist ein wichtiger Teil des Abschiednehmens, erklärt Anges Acakpo:

Wir haben ihn in das Haus seines Vaters gebracht, anschließend für fünf Minuten in das Haus seiner Mutter. Das ganze Dorf sieht: Er ist wirklich tot, und die Familie weiß, dass er das Haus definitiv verlässt. Nur sein Geist kann wiederkehren.

Als die Prozession vorbei ist, werden lange Tischreihen aufgestellt. Ein LKW liefert Getränke an. Zwei Rinder sind geschlachtet worden. Diese Feier wird noch viel größer werden als die Totenwache. Doch bevor sie beginnt, fahren die nächsten Angehörigen zur eigentlichen Beisetzung.

Drei Priester und ein Voodoo-Geistlicher

Christliche und Voodoo-Rituale mischen sich. Hier ist doch noch einmal die katholische Kirche an der Reihe, und gleich drei Priester beten für den Verstorbenen. Nicht mit auf den Friedhof gefahren ist Comla Innocent Djablou, der als Voodoo-Priester den Namen Sodegbé II trägt. Dabei ist Anoumou Telesphore Akpla auch für ihn ein Onkel gewesen.
Ein Mann hält eine traditionelle Skulptur in der Hand.
Für Sodegbé II ist Voodoo eine Religion, die Menschen bei Krankheit heilt und die Probleme löst. © Deutschlandradio / Katrin Gänsler
„Er hat Jesus gekannt und war ein echter Christ. Deshalb haben wir den Leichnam auch in die Kirche gebracht. Bevor er aber Christ geworden ist, ist er irgendwoher gekommen", sagt Sodegbé II. Und er fügt hinzu:

Wir dürfen unseren Ursprung nicht vergessen. Es gibt aber Menschen, die ihre Wurzeln vergessen. Das ist nicht gut.

Sodegbé II führt durch sein Haus, das zwischen Grand Popo und Cotonou liegt. Überall sind kleine Altäre für verschiedene Gottheiten aufgebaut. Opfergaben stehen davor. Manchmal sind es ein paar Federn, manchmal Schnaps oder süße Getränke. Sie werden von Menschen mitgebracht, die ganz konkrete Probleme im Diesseits haben, beispielsweise, dass der Partner fremdgeht. Voodoo ist eine pragmatische Religion.
Ein mit einem Laken und Opfergaben bedeckter Altar.
Jede Gottheit hat einen eigenen Ort, an dem sie verehrt wird. © Deutschlandradio / Katrin Gänsler
Sodegbé II ist jedoch überzeugt: Gerade wenn bei einem Todesfall alte Traditionen nicht beachtet werden, ruft das böse Geister auf den Plan. Werden beispielsweise Zeremonien ausgelassen, können die Nachfahren deshalb auch Jahre später noch krank werden, Unfälle haben oder finanzielle Probleme bekommen.

Für die Bestattung gelten feste Regeln

Initiierten, die manchmal über Jahre in die Praxis des Voodoo eingeführt wurden, passiert das jedoch nicht. Sie werden nach festgelegten Regeln bestattet. „Wenn jemand wirklich Voodoo praktiziert, reicht eine Zeremonie wie die bei Grand Popo natürlich nicht", erklärt Sodegbé II:

Zum Beispiel muss die Person statt am Tag abends beerdigt werden. Die Zeremonien dauern lange. Ich habe hier verschiedene Gottheiten. Für jede einzelne müssen die entsprechenden Riten beachtet werden.

Für Männer dauert eine Beerdigung deshalb neun Tage, für Frauen sieben. Jede Gottheit hat sogar eigene Todesklänge. Sodegbé II kann am Spiel der Trommeln erkennen, welche Gottheit für den Verstorbenen von besonderer Bedeutung war. Wer nicht initiiert ist, hat jedoch keine Möglichkeit, an einer solchen Beerdigung teilzunehmen.

Schicksalsfragen an das Fa-Orakel

Kpotohozin-Noundehessi Hounwadan sitzt in Adjarra im Südosten von Benin wie in Trance vor zwei Ketten, die jeweils aus acht kleinen Scheiben aus Nussschalen bestehen. Um ihn herum liegen Steine, getrocknete Früchte und der Schädel eines kleinen Vogels.
Ein Mann sitzt auf dem Boden und hantiert mit vielen Zutaten, die in kleinen Schüsseln um ihn herum aufgestellt sind.
Kpotohozin-Noundehessi Hounwadan bereitet eine Opferzeremonie vor, wie es das Fa-Orakel verlangt.© Deutschlandradio / Katrin Gänsler
Rhythmisch schlägt er die alte Metallglocke und spricht etwas auf Fon. Dann wirft er wieder vier Kaurimuscheln auf den Boden. Der hagere Mann ist Bokonon, also ein Priester des Fa-Orakels. Das Orakel ist fester Bestandteil im Voodoo und wird bei zahlreichen Schicksalsfragen zu Rate gezogen, auch wenn jemand gestorben ist. Hounwadan erklärt:

Hinterbliebene kommen zu mir und wollen wissen, warum jemand gestorben ist. War es Gottes Wille oder hat jemand den Tod provoziert?

Ist die Antwort gefunden, findet eine Zeremonie mit Opfergaben statt. Jede ist individuell. Sie soll die Trauer lindern und Versöhnung sowie Heilung bringen. Gerade bei Fragen rund um den Tod gibt es aber auch Tabus, sagt der Bokonon: „Das Fa-Orakel antwortet nicht auf die Frage, an welchem Tag man stirbt.“

Täglicher Kontakt mit den Ahnen

Viele Menschen stehen in ständigem Kontakt mit ihren Ahnen und bitten jeden Morgen um deren Segen, damit sie sicher das Haus verlassen können. Solche Rituale gehören auch für Noel Agossou zum Alltag. Er hat in Adjarra ein Museum aufgebaut, das Masken und Skulpturen aus West- und Zentralafrika zeigt.
Agossou selbst hat an zahlreichen Voodoo-Zeremonien teilgenommen. Einige ermöglichen den Hinterbliebenen, ins Gespräch mit den Verstorbenen zu treten. „Dabei gibt es Verbote", erklärt er:

Man darf weder weinen noch lachen. Man hört zu. Der Voodoo-Priester wird die Person rufen, und sie wird sprechen. Die Kinder werden sagen: "Das ist die Stimme meines Vaters. Das ist die Stimme meiner Mutter." Man sieht sie aber nicht. Das Ganze dauert nur kurz, bis sie wieder gehen.

Noel Agossou ist deshalb sicher: Die Verstorbenen haben großen Einfluss auf die Lebenden und sind allgegenwärtig: „Die Toten sind doch nicht tot: Sie sind überall, im Wasser, in der Luft.“
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