Ein Meister der Wortmusik
Gezeichnet von schwerer Krankheit wirkte Eduard Graf von Keyserling schon im Alter von 45 Jahren wie ein Greis. Und dennoch schrieb der deutsch-baltische Schriftsteller wohl die leichteste, zarteste und eleganteste deutsche Prosa seiner Zeit.
"Abendliche Häuser" - mit diesem Titel hatte Eduard von Keyserling für die Stimmung seiner schriftstellerischen Welt den schönsten Ausdruck gefunden. Das Buch spielt in der alten kurländisch-livländischen Adelsgesellschaft:
"‘Dem Gesicht des alten Warthe würde ich es gönnen, sich einmal eine Stunde lang nach Herzenslust verziehen zu dürfen, um sich von der ewigen Würde zu erholen.‘ Tja, so hatte sich Diez von Egloff geäußert. Er liebte es, von älteren Herren respektlos zu sprechen. Auch die anderen jungen Leute lachten, wenn sie unter sich waren, über von der Warthe, den Baron auf Paduren, nannten ihn den ‚Baron Missbilligung‘.
Auch Eduard Graf von Keyserling liebte es, respektlos über die Welt seiner Herkunft zu sprechen. Das Gut Paduren hieß in Wirklichkeit Schloss Paddern, im Kurland, westlich der heutigen lettischen Hauptstadt Riga gelegen, wo Keyserling 1855 als Sohn eines Landrats geboren wurde. Während des Jura-Studiums an der Universität in Dorpat passierte eine dunkle, nie aufgeklärte Geldgeschichte, die zu Keyserlings gesellschaftlicher Ächtung führte. Aber das hat ihn nicht sonderlich gestört, denn er war längst auf einem anderen Lebensweg und entschlossen, den allmählichen Zerfall der deutsch-baltischen aristokratischen Gesellschaft zu protokollieren.
Augenblicke einer scheinbar stillstehenden Zeit
Oft mit Theodor Fontane verglichen, habe Keyserlings Werk allerdings den "nervöseren Puls", befand Thomas Mann:
"Der Blick auf das Leben ist kälter geworden, die Ironie geistiger, das Wort präziser, der Gesamthabitus ungemütlicher, künstlerischer und weltläufiger - man spürt die Europäisierung der deutschen Prosa seit 1900."
Keyserling konnte eine zarte, verspielte Wortmusik erzeugen, mit leise flutenden Sätzen das Flirren der Gegenwart abbilden, Augenblicke einer scheinbar stillstehenden Zeit zum Beispiel in der Hitze eines sommerlichen Tages in der baltischen Landschaft:
"Draußen sengte die Sonne auf die Blumenbeete nieder. Der Duft der Lilien, der Rosen drang heiß zu mir herein, benahm mir den Kopf wie ein süßes, warmes Getränk. Dabei leuchtete alles so grell. Die Gladiolen flammten wie Feuer, die Scholtias waren unerträglich gelb. Der Kies flimmerte. Alle standen sie unbeweglich in der Glut, müßig und faul unter dem schläfrigen Summen, das durch die Luft zog."
Gesundheitlicher Niedergang
Am reinsten findet sich Keyserlings Wortmusik in dem Prosastück "Wellen", einer an der Ostsee spielenden Liebesgeschichte, die am Ende zerbirst. Als das Buch 1911 erschien, war der Autor allerdings seit vier Jahren erblindet und hatte den Text seinen beiden Schwestern, mit denen er in einer Drei-Zimmer-Wohnung in der Münchner Ainmillerstraße 19 zusammenlebte, diktieren müssen. Die früh diagnostizierten Krankheiten - Syphilis und Rückenmarksschwund - waren schon weit fortgeschritten, als Lovis Corinth 1900 Keyserling malte. Man sieht einen auf einem Stuhl sitzenden und ins Leere blickenden, verwelkten Greis mit aufgedunsenem Gesicht, rot geränderten, hervortretenden Augen und geschwollenen Lippen - dabei war Keyserling gerade erst 45 Jahre alt. Als er sein fertiges Porträt zum ersten Mal sah, bekannte er:
"Es mag, trotz der Brutalität, die drinsteckt, gut gemalt sein, und gut unterhalten hat er mich dabei. So aussehn möchte ich aber lieber nicht."
Unbändige Vorstellungskraft
Nach der Erblindung blieb ihm nichts anderes übrig, als die Bilder zu beschwören, die seine Augen früher gefilmt hatten und die er in seinem Gedächtnis gespeichert hatte. In den letzten Lebensjahren großenteils ans Bett gefesselt, diktierte er wie in einem Rausch ein Buch nach dem anderen - jedes ein Endspiel, aber jedes zugleich in quellender Sinnlichkeit. "Fürstinnen" hieß Keyserlings letztes Buch, 1917 erschienen, ein Jahr vor seinem Tod am 28. September 1918:
"‘Prinzessin Marie!‘ hörte sie es hinter sich herrufen, aber sie kümmerte sich nicht mehr darum … Die Nacht um sie her war samtschwarz; schaute sie empor, dann flimmerten die Sterne so unruhig, dass ihr schwindelte. Von der Dorfstraße kam noch ein leises Singen und Lachen herüber, ein Wagen fuhr auf der Landstraße, durch die nächtliche Stille hörte man lange sein Rollen, und es gab Marie das Gefühl einer unendlichen, dunklen Weite. Ja, wenn die anderen einen verlassen, dann ist man allein in einer unendlichen, dunklen Weite."