Lesestoff, für alle erschwinglich
Generationen von Schülern definieren ihren - manchmal erzwungenen - Zugang zu den Klassikern der Weltliteratur über eine Farbe: Gelb. Die Büchlein wecken aber auch positive Emotionen - seit 150 Jahren: Am 10. November 1867 erschienen die ersten Bände von Reclams Universal-Bibliothek.
Zitat: "An einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes Schneiderlein auf der Landstraße nach Goldach, einer kleinen, reichen Stadt, die nur wenige Stunden von Seldwyla entfernt ist."
"Natürlich bin ich auch sozialisiert worden durch Reclam-Titel in der Schule. Ich kann die auch noch alle aufzählen. Das fing an mit "Kleider machen Leute", Gottfried Keller, dann natürlich das Amulett, Conrad Ferdinand Meyer, Lessing und dann ist natürlich Goethe dazu gekommen und Schiller."
Zitat: "Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr, wir wollen frei sein, wie die Väter waren, eher den Tod, als in der Knechtschaft leben."
"Das Gute ist ja tatsächlich, dass das, was man vielleicht auch unwillig als Schüler gelesen hat, dann doch weiter wirkt und man es später noch mal zu würdigen weiß. Ich nehme meine alten Reclam-Hefte immer wieder raus und lese darin."
Erinnerungsstücke an die Schulzeit
So wie dem Direktor des Düsseldorfer Goethe-Museums Christof Wingertszahn geht es vielen. Die broschierten Bücher im Hosentaschenformat sind Erinnerungsstücke an die Schulzeit.
Zitat: "Faust. Eine Tragödie von Goethe. Erster Theil. Leipzig. Verlag von Philipp Reclam Junior. Jeder Band ist einzeln für zwei Groschen käuflich".
So lautete das Titelblatt des ersten Bandes der Reclam-Universal-Bibliothek, der am 10. November 1867 auf den Markt kam.
"Das Konzept dieser Reihe, das ja bis heute trägt, besteht nach wie vor darin, für relativ wenig Geld hohe Literatur anzubieten, sodass eben nicht nur reiche Leute sich das leisten konnten, sondern, als die Reihe begann, zum Beispiel eben auch ein Dienstmädchen sich so etwas auch leisten konnte."
Der Germanist Hans-Jochen Marquardt ist leidenschaftlicher Sammler der Reclam-Hefte, die ihre Geburtsstunde einer Lockerung des Urheberrechts zu verdanken hatten.
"Es gab im Deutschen Bund im Jahr 1856 ein Gesetz, welches besagt hat, dass alle Autoren, die vor dem 9. November 1837 gestorben sind, 30 Jahre lang Schutzrechte genießen. Mit Auslaufen des 9. November 1867 erloschen diese Schutzrechte, sodass von diesem Zeitpunkt an Klassiker wie Goethe, Schiller, Lessing und viele, viele andere gemeinfrei geworden sind, sodass sie gedruckt werden konnten, ohne dass man Tantiemen bezahlen musste, an die Erben zum Beispiel."
Die Büchlein fanden von Anfang an reißenden Absatz
Viele Verleger witterten ein gutes Geschäft. Um seine Konkurrenten auszustechen, begann Reclam schon Monate vor Einführung der Gesetzesnovelle mit dem Druck und produzierte über 50 Buchtitel auf Vorrat.
Die Büchlein fanden reißenden Absatz. Goethes "Faust" zum Beispiel, mit einer für damalige Verhältnisse hohen Startauflage von 5.000 Exemplaren in den Handel gekommen, war innerhalb weniger Wochen vergriffen.
Die Geschäfts-Idee, die der Leipziger Verleger Anton Philipp Reclam mit seinem Sohn Hans-Heinrich entwickelt hatte, schloss eine Marktlücke.
"Das Neuartige an dem Konzept war dieses bildungspolitische Programm mit der Möglichkeit, sich selber eine eigene Bibliothek zusammenzustellen."
Neben den Klassikern brachte Reclam in seiner Reihe bald auch zeitgenössische Literatur, philosophische Werke, Gesetzessammlungen oder Opern-Libretti heraus und schuf damit Lese- und Lernstoff, der für alle erschwinglich war.
"Weder im Deutschen Bund, noch im Kaiserreich, noch in der Weimarer Republik, im Nazi-Reich, in beiden deutschen Staaten nach 1945 und heute im geeinten Deutschland gibt es wahrscheinlich kaum jemanden, der nicht irgendwann im Verlauf seines Lebens mit Reclams Universalbibliothek in Berührung gekommen ist. Das macht diesen Mythos aus und auch diese Faszination."
Bestseller sind nach wie vor die alten Werke
1908 umfasste der Katalog schon 5.000 Werke, die sogar mit Hilfe modernster Verkaufsautomaten vertrieben wurden. Bis heute hat Reclam annähernd 20.000 Titel verlegt, über 3.000 davon sind ständig lieferbar.
"Und insofern trifft eben nach wie vor dieser alte Spruch aus dem Jahr 1907 zu, den der Verlag sich ja selbst als Motto gegeben hat: Multa et Multum. Eben Vieles für viele Menschen zu bieten. Reclams Universalbibliothek ist heute die älteste noch existierende deutschsprachige Taschenbuchreihe."
Bestseller des Verlages, der heute in Stuttgart sitzt, sind nach wie vor die alten Werke: Schillers "Wilhelm Tell" mit einer Nachkriegsauflage von 5,4 Millionen, dicht gefolgt von Goethes "Faust" und Gottfried Kellers "Kleider machen Leute". An Schulen und Universitäten sind die Büchlein, die 1970 ihren markanten gelben Einband erhielten, auch im E-Book-Zeitalter unentbehrlich.