Vor 25 Jahren: Auf dem Weg zur Einheit - Zeitzeugenreihe

"Eine verpasste Chance"

Werner Schulz, bis 2014 Europaabgeordneter Bündnis90/ Die Grünen,
Werner Schulz, bis 2014 Europaabgeordneter Bündnis90/ Die Grünen, saß mit am Runden Tisch. © picture alliance / ZB / Karlheinz Schindler
Bürgerrechtler Werner Schulz im Gespräch mit Nana Brink |
Ein wichtiger Schritt zur Einheit war der Runde Tisch, an dem Regierung und Opposition nach der Wende über Monate zusammensaßen - und zum Teil heftig stritten. Am 12. März 1990 fand die letzte Sitzung statt. Grünen-Politiker und Bürgerrechtler Werner Schulz saß mit am Tisch - und beklagt einen verpassten wirklichen Neuanfang.
Nana Brink: Dieses Jahr gibt es ein großes Jubiläum für uns Deutsche, den 3. Oktober, den 25. Jahrestag der Einheit. Der Mauerfall knapp ein Jahr zuvor hatte die Nachkriegsordnung hinweggefegt, hier der Beginn eines rasanten Veränderungsprozesses in beiden deutschen Staaten, dessen Ende ja damals – und das muss man sich vielleicht heute immer noch mal klarmachen – ja nicht abzusehen war. Wir hier in Deutschlandradio Kultur sozusagen auch als Produkt der Einheit blicken noch mal auf diese Zeit zurück!
O-Töne: DDR-Hymne, Zitat Helmut Kohl: "Mein Ziel bleibt die Einheit unserer Nation!", Jubel, Rufe: "Stasi raus!", Radio: "Am 18. März entscheiden Sie über das Schicksal unseres Landes! Unterstützen Sie unseren Aufbruch in die Demokratie!", Ansage: "Vor 25 Jahren. Auf dem Weg zur deutschen Einheit."
Brink: Und ein wichtiger Markstein in dieser Zeit war der runde Tisch, an dem Regierung und Opposition nach der Wende über Wochen und Monate zusammensaßen. Bis heute vor 25 Jahren, also bis zum 12. März 1990. Und da fand die letzte Sitzung statt und da hören wir jetzt mal rein!
O-Töne: Mit diesem Glockenzeichen wird die 16. Sitzung des zentralen runden Tisches eingeläutet. Es ist zugleich das Signal für die letzte Runde unserer Beratungen. Zur Geschäftsordnung hatte sich Herr Gysi jetzt aber erst gemeldet. – Es ist aber, ich habe wirklich nur eine Frage. Ich wollte wissen: Sollen auch westdeutsche Manager zugelassen werden als Betriebsdirektor? – Wir müssten uns über die Umsetzung dann im Einzelnen dann noch auseinandersetzen. – Aber wenn Sie sagen, es soll ab sofort gelten, entschuldigen Sie, dass ich das so sage ... – Der runde Tisch kann doch keine Gesetzesvorlagen, das wissen Sie doch genauso gut wie ich!
Brink: Einer der Namen ist ja gerade gefallen, Gregor Gysi, den haben Sie vielleicht erkannt. Und der, mit dem er sich gestritten hat über das Betriebsverfassungsgesetz, der ist jetzt am Telefon. Werner Schulz, langjähriger Bürgerrechtler und Grünen-Politiker. Guten Morgen, Herr Schulz!
Werner Schulz: Ja, schönen guten Morgen!
Brink: Was bedeutete der runde Tisch für Sie?
Schulz: Der runde Tisch war die Konsequenz dieser friedlichen Revolution und in einer gewissen Weise eine Übergangsregierung. Man kann ja nicht nur den zentralen runden Tisch jetzt betrachten, sondern es gab ja viele runde Tische im gesamten Land, in den Kommunen und Städten. Und eigentlich ist dieses Land vom Herbst 89 bis zur ersten frei gewählten Volkskammer am 18. März von den runden Tischen aus regiert und gesteuert worden. Es war zugleich natürlich auch ein Aufklärungstribunal oder Aufklärungsforum zu verschiedensten Problemen und Fragen im Land.
Brink: Also, es war für Sie persönlich auch ein ganz wichtiger Meilenstein?
Schulz: Ja, selbstverständlich, das vergisst man sein ganzes Leben nicht, dass man plötzlich denen gegenübersitzt, die sich eigentlich einer Debatte oder Kontroverse ja immer entzogen hatten und die eher mit Gewalt gedroht haben oder mit Repressionen. Plötzlich saßen die Mächtigen von SED und Blockparteien einem gegenüber und mussten Rede und Antwort leisten.
Der Zentrale Runde Tisch der Parteien und Bürgerbewegungen der DDR am 22.01.1990 im Berliner Schloss Niederschönhausen.
Der Zentrale Runde Tisch der Parteien und Bürgerbewegungen der DDR am 22.01.1990 im Berliner Schloss Niederschönhausen.© picture alliance / dpa / Foto: Peter Zimmermann
Brink: Das ist ja sehr interessant. Weil, wenn ich mir das so vorstelle: Man saß ja zusammen an einem runden Tisch, bewusst die Form gewählt, und da saßen die Erzfeinde zusammen!
Schulz: Ja, wir hatten ... Das war ja so ein Revolutionsmöbel, was wir aus Polen von Solidarnosc importiert hatten, wenn man so will. Das war ja zuerst in Polen aufgestellt. Die polnische Solidarnosc hatte dann dort praktisch auch – zwar etwas eingeschränkt – freie Wahlen errungen, und das war bei uns ein ähnliches Anliegen, dass man zumindest die führende Rolle der SED streitig macht und freie demokratische Wahlen erringt. Dass wir natürlich dann noch eine Verfassung am runden Tisch konzipiert haben, das war noch eine Besonderheit.
Brink: Auf die Verfassung möchte ich später noch mal zurückkommen. Noch ein bisschen zu dieser Stimmung: Interessant – Sie haben es erwähnt – ist ja die Form des Möbels, da saßen also verschiedene Vertreter, das haben Sie aber auch erwähnt, Sie haben das ein bisschen abgeguckt aus Polen. In Westberlin hat man diese Erfahrungen auch gemacht, da versuchte man also, die Konflikte mit den Hausbesetzern auf diese Weise zu lösen. Ist der runde Tisch so etwas wie die Vorschule zur Demokratie? Das ist ein sehr schönes Zitat, das hat einer der Moderatoren des runden Tisches, der katholische Pfarrer Karl-Heinz Ducke mal gesagt.
Schulz: Ja, Monsignore Ducke. Ich kann das eigentlich nur bestätigen. Natürlich ist das eine Übung gewesen zur Demokratie. Wir waren ja, wie das später dann zur Volkskammer behauptet wurde, alles Laienspieler, also nicht geübt in diesen demokratischen Abläufen und Ritualen und verfahrenstechnischen Regeln. Und insofern hat man am runden Tisch sich aneinandergetastet und natürlich auch gerieben, es waren ja nun wirklich auch Auseinandersetzungen am runden Tisch. Das Besondere war, dass das live im Fernsehen übertragen worden ist, und das mit einer extrem hohen Einschaltquote. Also, die Leute im Land haben unmittelbar erlebt, wie ihre ureigensten Probleme behandelt werden, wie darum gestritten und wie darum gekämpft und gerungen wird, Probleme zu lösen.
Brink: War das für sie auch so eine Art von Genugtuung, wenn Sie sagen, da saß mir jemand gegenüber, der war in der Defensive? Also dass Sie ihn in die Enge getrieben haben? Oder waren das Gefühle, die keinen Platz hatten?
Schulz: Es war nicht unser Bedürfnis nach Revanche oder dass man die Leute jetzt fertigmacht oder in die Enge drängt. Es war eher der Versuch, wie kommen wir raus aus dieser Enge dieser DDR, wie soll es weitergehen. Wir waren um Konsens bemüht letztendlich, aber um Klarheit. Das ist schon wahr. Also, es war ja vieles so verschwiemelt in dieser DDR, dass man zunächst erst mal Aufklärung gebraucht hat. Und deswegen gab es einschneidende und scharfe Fragen an diejenigen, die das Desaster jahrzehntelang angerichtet hatten. Und insofern war da also keine Schonung angesagt. Und dennoch, wir waren nicht davon beseelt, diese Leute jetzt ins Gefängnis zu bringen oder zu verbieten, im Gegenteil, wir waren uns bewusst: Wir müssen gemeinsam aus diesem Schlamassel raus, auch die, die uns reingebracht haben.
Das Hauptanliegen: freie und geheime Wahlen
Brink: Man war ja nicht gewählt an diesem runden Tisch. War es damit auch klar, dass dieser runde Tisch sein Ende haben würde? Das Datum ist ja schon öfter mal gefallen, Volkskammerwahlen am 18. März, am 12. März tagte der runde Tisch zum letzten Mal.
Schulz: Das war uns klar. Das Hauptanliegen war ja, einen Wahltermin zu erreichen, also freie und geheime demokratische Wahlen, und ein entsprechendes Wahlgesetz dafür zu schaffen. Das ist ja am runden Tisch dann geschehen. Wir haben uns nicht als demokratisch legitimiert betrachtet, das will ich wohl vorausschicken, sondern wir haben uns eher ... Wir haben uns als Vertreter der Revolution, der friedlichen Revolution gesehen, und das ist eine besondere Situation. Das ist eine revolutionäre Situation gewesen, aber eben so eine, wo kein Blut geflossen ist. Deswegen ja auch friedliche Revolution. Wir haben versucht, uns mit unseren Unterdrückern zu verständigen.
Brink: Ich möchte noch mal auf das zurückkommen, was Sie schon erwähnt haben in dem Gespräch, nämlich die Ausarbeitung einer Verfassung. Das wollte der runde Tisch ja eigentlich tun, eine eigene Verfassung erarbeiten. Herausgekommen ist nur ein Entwurf. Warum?
Schulz: Ja gut, wir wollten natürlich keine fertige Verfassung vorlegen, sondern auch einen demokratischen Prozess zu dieser Verfassung einleiten. Wir haben im Dezember damit begonnen und haben wirklich in fieberhaften Tagen und Nächten diese Verfassung erarbeitet, haben sehr viele Verfassungsrechtler aus ganz Europa eingeladen, viele aus der Bundesrepublik, um vor allen Dingen eine Verfassung zu schreiben, die kompatibel mit dem Grundgesetz ist. Es war ja absehbar, dass es einen Weg zur deutschen Einheit geben muss, und den wollten wir eigentlich nach Artikel 146 beschreiten, also durch eine verfassungsgebende Versammlung und eine Volksabstimmung. Und vorgesehen war eigentlich, dass über den Verfassungsentwurf des runden Tisches am 17. Juni 1990 hätte abgestimmt werden sollen. Das war ja lange Zeit – das haben viele mittlerweile leider vergessen – der Tag der Deutschen Einheit.
Eine Nationalhymne, die es nicht gab: Brecht und Beethoven
Brink: Aber das ist ja eigentlich komplett schiefgegangen, also in Ihrem Sinne, sondern man hat sich dann für einen Beitritt der DDR nach Artikel 23 entschieden.
Schulz: Ja, das war ein sehr undemokratischer Akt. Das wurde in der Volkskammer ... Wir haben ja diesen Verfassungsentwurf noch in die Volkskammer eingebracht, da gab es ja sogar einen Verfassungsausschuss, aber der wurde bereits in der ersten Lesung grundweg abgelehnt und für erledigt erklärt. Daran haben CDU-Blockpartei und auch SPD gemeinsam doch sehr fragwürdige Anteile.
Brink: Wenn Sie das jetzt so erzählen, dann höre ich heraus, dass Sie das auch als Niederlage empfinden?
Schulz: Ja, also, was heißt als Niederlage ... Ich halte es für eine verpasste Chance. Wissen Sie, wir haben eigentlich keine Gründungslegende für dieses wiedervereinigte Deutschland, keinen Mythos, der damit verbunden ist. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass die Deutschen in Ost und West darüber abstimmen, dass sie zusammen wollen, das wäre gut gegangen, das war klar, es war auf beiden Seiten die große Bereitschaft erkennbar, und dass wir eine gemeinsame Verfassung abgestimmt hätten. Wir haben ja heute noch ein Grundgesetz. Heute noch steht in diesem Grundgesetz, dass es so lange gilt, bis das deutsche Volk über eine Verfassung abstimmt.
Das heißt, wir haben noch immer keine Verfassung, und viele andere Fragen, die damals daran geknüpft waren ... Wir wollten eine neue Nationalhymne haben und nicht die, die wir jetzt haben, wo die erste Strophe nicht gesungen wird, allenfalls von der neuen Rechten in diesem Land, die das dann im Fußballstadion grölt, sondern nur die dritte Strophe, wir hatten das schon in der DDR erlebt, dass man am Ende den Text nicht mehr sagen konnte, sondern nur noch die Melodie hatte. Und wir wollten eigentlich den Text von Bertold Brecht, die "Kinderhymne", und die Melodie von Beethoven zusammenbringen. Also Beethoven und Brecht, das Beste, was uns in Deutschland passieren kann!
Brink: Werner Schulz, langjähriger Bürgerrechtler und Grünen-Politiker. Danke für das Gespräch!
Schulz: Bitte schön!
Brink: Und wir haben uns unterhalten über die letzte Sitzung des runden Tisches am 12. März 1990, überhaupt über den runden Tisch an sich. Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.