Vor 25 Jahren: Auf dem Weg zur Einheit - Zeitzeugenreihe

"Er hatte immer den klaren Kompass"

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Steffen Reiche gehörte am 7. Oktober zu den Mitbegründern der Sozialdemokratischen Partei der DDR und war Mitglied des Vorstands. © picture alliance / dpa / Ralf Hirschberger
Steffen Reiche im Gespräch mit Ute Welty |
Die Entscheidung auf dem Gründungsparteitag der SPD in der DDR vom 22. bis 25. Februar 1990 für die schnelle Währungsunion sei richtig gewesen, meint Partei-Mitgründer Steffen Reiche. Die Ost-Sozialdemokraten hätten Willy Brandt vertraut, nicht Lafontaine.
"Der Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP, später SPD) und frühere Parteivorstand Steffen Reiche hat das stete Festhalten Willy Brandts am Weg zur Einheit gewürdigt und an den Mut zur Gründung der SPD in der DDR erinnert.
Wandel durch Annäherung
"Ich bin stolz darauf, dass wir damals - als Einzige übrigens in DDR-Zeiten – den Mut hatten, eine Partei zu begründen, und damit sozusagen die Partei wieder zu begründen, die der SED immer am gefährlichsten erschien," sagte Reiche im Deutschlandradio Kultur. Den auf dem ersten ordentlichen Parteitag der Sozialdemokratischen Partei in der DDR in Leipzig vom 22. bis 25. Februar 1990 zum Ehrenvorsitzenden ernannten Willy Brandt würdigte Reiche für sein stets Festhalten am Weg zur Deutschen Einheit: "Er hatte immer einen klaren Kompass zur Deutschen Einheit (...) und insofern vertrauten wir ihm," sagte Reiche, der am 7. Oktober 1989 zu den Mitbegründern der Sozialdemokratischen Partei in der DDR gehörte und Mitglied des Vorstands war. „Und das war insofern anders als Lafontaine, Engholm und Schröder, die auch öffentlich darüber 1988, 1989, sinniert hatten, ob man nicht, um den Wandel durch Annäherung zu bringen, die DDR-Staatsbürgerschaft anerkennen sollte. Das wäre der falsche Weg gewesen." Brandt habe auf dem Parteitag auch den wichtigen Satz geprägt ´Der Zug zur Deutschen Einheit rollt – und wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass keiner unter die Räder kommt.´
Grund für die Unterstützung der schnellen Einführung der D-Mark mit einem Kurs 1:1 bereits spätestens zum 1. Juli 1990 sei die Angst vor einer Massenabwanderung nach Westen gewesen. Außerdem sollten die DDR Bürger schon mit D-Mark in der Tasche in die Sommer-Ferien fahren können. "Damit die Leute, wenn sie das erste Mal im Urlaub in den Westen fahren können, dort nicht auch gleich bleiben. Denn die Bürger sagten damals, kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zur D-Mark. Und sie haben das so kategorisch klar gesagt, dass jeder spüren musste, dass sie das wahrmachen würden," erinnerte sich Reiche.
Die Idee für die Währungsunion mit einem Kurs 1:1 stamme ursprünglich von der sozialdemokratischen finanzpolitischen Sprecherin Ingrid Matthäus-Maier: "Ich habe sie damals für verrückt gehalten (...) und es stimmte ja, dass der Volkswirtschaftler Lafontaine und andere recht hatten", sagte Reiche. Der damalige Kanzler Helmut Kohl (CDU) habe aber staatsmännische und gesellschaftspolitische Überlegungen über volkswirtschaftliche gestellt: "Und da hat er gesehen, dass es zur Währungsunion einfach keine Alternative gab."
Bilanz der letzten 25 Jahre
Auch habe die CDU damals, unter anderem durch Aufnahme der Vertreter der Bürgerbewegung Demokratischen Aufbruchs in der "Allianz für Deutschland" für eine "große Bluttransfusion für die alte CDU" gesorgt. Als Bilanz der letzten 25 Jahre sagte Reiche: "Das Geschickteste, was der SPD in den letzten 25 Jahren gelungen ist, ist, die wichtigste Sozialdemokratin, die die Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, ins Kanzleramt zu schicken, als Vorstand einer anderen Partei. Und auf diese Weise über sie viele der sozialdemokratischen Ideen mitzugestalten und zu verwirklichen", sagte der Sozialdemokrat und heutige Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Berlin-Nikolassee.
Am 3. Oktober feiert Deutschland den 25. Jahrestag der Einheit. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten knapp ein Jahr nach dem Mauerfall markierte 1990 das Ende eines rasanten, teils dramatischen Prozesses, dessen Ausgang anfangs nicht absehbar war.
Die Monate bis zum 3. Oktober 1990 waren geprägt von Reformvorschlägen, Unsicherheiten und einem politischen Vakuum. Zunächst existierte noch der Wunsch, eine andere, eine demokratische DDR zu gestalten. Später hofften viele, einer geeinten und veränderten Bundesrepublik neue Impulse geben zu können.
Deutschlandradio Kultur dokumentiert diese Entwicklung in diesem Jahr anhand wichtiger Daten in Gesprächen mit Zeitzeugen.
Vom 22. – 25. Februar 1990 trafen sich in Markkleeberg bei Leipzig 524 Delegierte zum ersten ordentlichen Parteitag der am 7. Oktober 1989 in Schwante gegründeten Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP, ab Januar 1990: SPD).
Steffen Reiche wurde am 27. Juni 1960 in Potsdam geboren. Er studierte Theologie und war als Pfarrer tätig, ehe er sich der Bürgerbewegung in der DDR anschloss. Reiche zählte zu den Mitbegründern der Sozialdemokratischen Partei in der DDR SDP – ab Januar 1990 SPD. Der gebürtige Potsdamer zog in die letzte DDR-Volkskammer ein und war nach der Wende als SPD-Politiker aktiv. Von 1994 bis 1999 war er Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur und von 1999 bis 2004 Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg. Von 2005 bis 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages. Nach seinem Ausscheiden arbeitet er wieder als Pfarrer. Steffen Reiche ist verheiratet und hat drei Töchter
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Das Interview im Wortlaut:
Willy Brandt: Dieser Parteitag wird seine Aufgabe dann erfüllt haben, wenn durch das, was von ihm ausstrahlt, viel neues Vertrauen begründet wird, damit die Menschen spüren: Es lohnt, hierzubleiben! Und es lohnt, neu anzufangen! Und es macht keinen Sinn, einen großen Teil Deutschlands leerlaufen zu lassen, um ihn späterer Neukolonisierung anheim zu geben.
Ute Welty: Willy Brandt vor 25 Jahren, als sich Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik auf dem Weg zur Einheit befinden, die dann am 3. Oktober 1990 vollzogen und gefeiert wird. Aber bis dahin ist viel zu tun und viel zu besprechen, so treffen sich die Sozialdemokraten in Leipzig, und mit dabei war damals Steffen Reiche, heute Pfarrer in Berlin. Guten Morgen!
Steffen Reiche: Guten Morgen, ich grüße Sie!
Welty: Können Sie sich noch daran erinnern, mit welchem Gefühl Sie damals wach geworden sind?
Reiche: Na, der heftigste Schock, den ich an dem Tag bekam, war auf dem Weg: Wir hatten auch schon Plakate geklebt und an den Bäumen hängen. Aber was ich dann in Sachsen sah, hat mich wirklich überrascht.
Welty: Warum?
Reiche: Da war wirklich alles zugepflastert mit Plakaten der Allianz für Deutschland, und als ich das sah, spürte ich den Wandel. Und die, die aus dem Süden zum Parteitag kamen, also aus Thüringen und Sachsen, die sagten uns, dass es bei ihnen in den Regionen noch viel stärker war. Hier war Kohl also wirklich etwas Grandioses, Kluges gelungen: Er hatte mit einer großen Bluttransfusion für die alte CDU, die er alleine nicht in den Kampf um die deutsche Einheit schicken konnte, mit der Transfusion von dem demokratischen Aufbruch, also einer Bürgerbewegung und der DSU, einer Partei, gegründet kurz nach dem 9. November, seine Partei sozusagen neu belebt.
Welty: Der damalige Kanzler Helmut Kohl hatte der DDR die Währungsunion angeboten. Das war auch auf dem Parteitag ein großes Thema, und da gab es durchaus unterschiedliche Ansichten dazu.
Markus Meckel: Die Einführung der D-Mark zu einem möglichst frühen Zeitpunkt: Ich teile die Auffassung, dass dies, wenn irgend machbar, bis spätestens zum 1. Juli 1990 erfolgen sollte
Ibrahim Böhme: Umstellung aller Ersparnisse von Ostmark auf D-Mark im Verhältnis eins zu eins.
Oskar Lafontaine: Bei einer Währungsunion muss man sehr gründlich und sehr zeitraubende Vorarbeiten leisten, und da ist es besser, ein paar Monate mehr in diese schwierige Aufgabe zu investieren, damit das Ergebnis auch dauerhaft wirkt, anstatt alles zu überstürzen und zu sagen: Übermorgen gibt es die neue Währung.
Welty: Sie selbst gehörten eher zu den Befürwortern. Warum?
Reiche: Die Idee für die Währungsunion eins zu eins, und zwar vor dem Sommer, damit die Leute nicht alle im Sommer, wenn sie das erste Mal im Urlaub in den Westen fahren können, dort auch gleich bleiben – denn die Bürger sagten damals, kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zur D-Mark, und sie haben es so kategorisch und klar gesagt, dass jeder spüren musste, dass sie das wahr machen würden –, die Idee zur Währungsunion kam von Ingrid Matthäus-Maier, der sozialdemokratischen finanzpolitischen Sprecherin. Ich habe sie damals für verrückt gehalten. Und es stimmt ja: Der Volkswirtschaftler Lafontaine hatte da recht, genau wie Pöhl und andere recht hatten. Aber die politische Verantwortung in der Zeit trug der Kanzler, und der musste nicht nur volkswirtschaftliche Dinge bedenken, sondern der musste Gesellschaftspolitik machen, der musste staatsmännisch handeln – und da war er halt einfach klüger: Er hat gesehen, dass es zur Währungsunion keine Alternative gab.
Welty: Im Gegensatz dazu sollten sich Lafontaine und Brandt am Ende über die Einheitsfrage entzweien, was ja schon so anklingt in der Auseinandersetzung über die Währungsunion. Inwieweit spielte das schon in Leipzig eine Rolle?
Reiche: Eine ganz zentrale. Wir vertrauten als ostdeutsche Sozialdemokraten unendlich viel mehr Willy Brandt. Wegen ihm waren wir in die SPD ja auch eingetreten beziehungsweise hatten sie begründet. Ihn respektierten wir, er hatte immer einen klaren Kompass zur deutschen Einheit und war insofern anders als Lafontaine, Engholm und Schröder, die ja auch öffentlich darüber schon 1988, 1989 sinniert hatten, ob man nicht, um den Wandel durch Annäherung voranzubringen, die DDR-Staatsbürgerschaft anerkennen sollte. Das wäre der falsche Weg gewesen. Und insofern vertrauten wir Willy Brandt, der da einen ganz klaren Kompass hatte und der auf dem Parteitag auch ganz klar gesagt hatte – und das ist sozusagen für uns sein zweitwichtigster Satz in diesen ganzen Jahren gewesen –, nach dem „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört", hat er dort den Satz geprägt: „Der Zug zur deutschen Einheit rollt, und wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass keiner unter die Räder kommt."
Welty: Vor diesem Hintergrund: Was prägt Ihren Blick auf die SPD heute?
Reiche: Ich bin stolz, dass wir damals – als einzige übrigens in DDR-Zeiten – den Mut hatten, eine Partei zu begründen und damit sozusagen die Partei wieder zu begründen, die der SED immer am gefährlichsten erschien, und ich bin froh, dass die SPD in dieser großen Koalition auf Bundesebene nun zum zweiten Mal mit Verantwortung trägt. Und vor allem kann man noch sagen: Das Geschickteste, was in den letzten 25 Jahren der SPD gelungen ist, ist, die wichtigste Sozialdemokratin, die die deutsche Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, ins Kanzleramt zu schicken als Vorsitzende einer anderen Partei, und in dieser Weise über sie viele der sozialdemokratischen Ideen mit zu gestalten, mit zu verwirklichen, in den Friedensprozess jetzt, in diesen leidenschaftlichen Kampf dieser großartigen Kanzlerin für den Frieden in Europa mit einzubringen. Das hat meinen ganz großen Respekt, und da bin ich dankbar, dass die Sozialdemokratie diese Regierung mit trägt.
Welty: Vor 25 Jahren gründet sich die sozialdemokratische Partei in der DDR, mit dabei damals Steffen Reiche. Ich danke sehr für dieses Gespräch!
Reiche: Ich danke auch Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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