Vor 25 Jahren: Die Bündnisfrage

Die hochnervöse Gemengelage der Wiedervereinigung

Bundeskanzler Helmut Kohl und sein langjähriger Berater Joachim Bitterlich (l) unterhalten sich am 22. Mai 1996 im Bonner Kanzleramt.
Joachim Bitterlich (l) war mehr als elf Jahre enger Mitarbeiter von Bundeskanzler Helmut Kohl. © picture-alliance / dpa / Michael Jung
Joachim Bitterlich im Gespräch mit Miriam Rossius |
Kann ein vereintes Deutschland Vollmitglied der NATO sein? Die Weichen für die Bündniszugehörigkeit wurden im Mai 1990 gestellt. Auch dank der "Einsicht eines Gorbatschow", erinnert sich der Diplomat und damalige Kanzlerberater Joachim Bitterlich.
Der Diplomat und frühere Referatsleiter für die Europäische Einigung im Bonner Kanzleramt, Joachim Bitterlich, hat an das Ringen um die Bündniszugehörigkeit des vereinigten Deutschlands erinnert.
'"Es war eine hochnervöse Gemengelage damals und eine hochnervöse Stimmung", erinnerte sich der langjährige außenpolitische Berater Helmut Kohls im Deutschlandradio Kultur an die Ereignisse 1989 und 1990. "Die gesamte geopolitische Struktur Europas, der Nachkriegszeit stand auf einmal auf dem Prüfstand."
Weichen für NATO-Mitgliedschaft waren im Mai 1990 gestellt
Die Weichen dafür, dass auch ein vereintes Deutschland Vollmitglied in der NATO sein könne, seien im Grundsatz spätestens am 30. Mai 1990 bei dem Gipfeltreffen in Washington zwischen Michail Gorbatschow und George Bush gestellt worden. "Das Feingesponnene, das Feingestrickte eben und die endgültige Zusagen erfolgte dann am 15./16. Juli im Kaukasus", so Bitterlich. Zuvor habe es auch viele Gespräche zwischen dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und Gorbatschow gegeben. Man habe festgestellt, dass innerhalb der sowjetischen Führung über diese Frage diskutiert worden sei, aber kein klares Konzept dazu vorliege. "In Wahrheit gab es keine einheitliche klare Linie, kein Konzept insofern", erinnerte sich Bitterlich, der ab 1987 Leiter des Europareferats im Bonner Kanzleramt war und von 1993 bis 1998 Leiter der Abteilung Auswärtige Beziehungen, Entwicklungspolitik und Äußere Sicherheit im Bundeskanzleramt.
Angesichts der sowjetischen Truppenpräsenz im Osten Deutschland sei es zu Entgegenkommen wie der Reduzierung der künftigen Truppenstärke der Bundeswehr gekommen. Der frühere sowjetische Regierungschef Michail Gorbatschow habe erst im vergangenen Jahr bestätigt, dass Deutschland seine Zusagen voll eingehalten habe.
Großbritannien wesentlich zurückhaltender bei der deutschen Wiedervereinigung
Bitterlich erinnerte auch daran, dass in der generellen Frage der deutschen Wiedervereinigung andere Länder im Vergleich zur Sowjetunion weitaus zurückhaltender gewesen sei: "An der Spitze das Vereinigte Königreich und vor allem Premier Margret Thatcher. (...) Auf der anderen Seite stand die Einsicht eines Gorbatschows (...) der auch seine Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der DDR zunehmend hatte."

Versäumnisse bei der weiteren Gestaltung des europäisch-russischen Verhältnisses
Im Rückblick kritisierte der Diplomat und frühere Referatsleiter für Außenpolitik im Bonner Kanzleramt die Europäer für historische Versäumnisse bei der weiteren Gestaltung des Verhältnisses zu Russland. "An der Lage, die wir heute haben in Bezug auf Russland und die Ukraine, trifft uns alle eine gewisse Mitschuld." Nach der Wiedervereinigung sei es darum gegangen, stufenweise eine Partnerschaft zwischen Russland und Europa zu begründen und gleichzeitig die Mittel- und Osteuropäer in die EU und langsamer auch in die NATO zu integrieren. Einen Bruch mit dieser Politik habe es vor ungefähr zehn Jahren gegeben.
Damals hätten die Europäer es versäumt, das Verhältnis zu Russland auf eine umfassende vertragliche Grundlage zu stellen. "Damals stand die EU-Kommission nahe vor dem Abschluss eines umfassenden Vertrages mit Russland. Sie hat leider diese Chance nicht ergriffen. Von da an ging es in gewisser Weise bergab, erklärte Bitterlich. Zudem hätten die Europäer Wladimir Putin schlecht zugehört, als dieser 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz an die Europäer einen leidenschaftlichen Appell gerichtet habe, es doch in Europa nicht wieder zu Gräben, zu einem Bruch kommen zu lassen und vor allem Gemeinsamkeiten zu entwickeln. "Doch die Amerikaner waren nicht mehr auf dieser Linie unter Bush Junior, es war eine andere Zeit auch in Europa und man hat leider diese Chance vorüber gehen lassen."
_____________________________________________

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Miriam Rossius: In unserer Reihe geht es heute um eine Frage, die ganz besonders heikel war und bei der es dann auch mächtig hakte in all den Verhandlungen: Welchem Bündnis soll ein vereintes Deutschland angehören? Ist für Gesamtdeutschland eine Vollmitgliedschaft in der NATO denkbar? Wir haben mal zusammengeschnitten, was Anfang 1990 Gorbatschows Berater Valentin Falin, Außenminister Genscher und Helmut Kohl gesagt haben.
Valentin Falin: Wir glauben, die Zeit der provisorischen Regelungen ist vorbei. Und NATO-Mitgliedschaft oder Mitgliedschaft in beiden militärischen Blocks wäre noch eine und nicht die optimale Lösung. Und deswegen plädieren wir für eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur.
Hans-Dietrich Genscher: Ich glaube, dass die Sowjetunion – und das ist gut für den Erfolg der bevorstehenden Gespräche – ihre Position noch nicht abschließend formuliert hat. Das lässt auch Gesprächsraum offen, den wir dringend für die Lösung einer so schwierigen Frage brauchen.
Helmut Kohl: Ich sage Ihnen voraus, am Ende wird es einen vernünftigen Ausgleich mit der Sowjetunion geben, der auch das wiedervereinigte Deutschland in der NATO sieht.
Das also die Positionen noch im April 1990, aber dann kam der 30. Mai. Michail Gorbatschow reist in die USA und trifft Präsident Bush. Der erklärt, ein vereintes Deutschland soll auf jeden Fall Vollmitglied der NATO werden – die Haltung war eigentlich bekannt –, aber das Entscheidende dabei: Gorbatschow stand daneben und er widersprach nicht, und das auf einer offiziellen Pressekonferenz. Joachim Bitterlich war damals hoher Beamter für Außenpolitik im Kanzleramt und Vertrauter von Helmut Kohl. Ich grüße Sie, herr Bitterlich!
Joachim Bitterlich: Guten Tag in Berlin!
Rossius: Wir haben ja eben noch mal die Prophezeiung Ihres damaligen Chefs gehört, schon vor dieser Pressekonferenz Ende Mai – hätten Sie sich träumen lassen, dass Helmut Kohl so schnell recht bekommt?
"Kohl hatte bereits seit dem Gorbatschow-Besuch Juni 89 in Bonn das Gefühl dafür, dass sich diese damalige Sowjetunion nicht gegen eine deutsche Wiedervereinigung sperren würde"
Bitterlich: Im damaligen Zeitpunkt Mai 1990 ja. Es lief alles darauf hinaus, und man muss einfach zurückschauen, wie sich diese Lage entwickelt hat in diesem wahnsinnig kurzen Zeitraum. Kohl hatte bereits seit dem Gorbatschow-Besuch Juni 89 in Bonn das Gefühl dafür, dass sich diese damalige Sowjetunion nicht gegen eine deutsche Wiedervereinigung sperren würde. Das war zunächst ein entscheidender Punkt. Wir hatten in Europa andere, die in der Beziehung weitaus zurückhaltender waren. An der Spitze das Vereinigte Königreich, vor allem Margaret Thatcher. Die Franzosen hatten eine eigene Haltung.
Rossius: Also im Umfeld von Gorbatschow – das war da nachzulesen – war man stinksauer wegen dieser Pressekonferenz in den USA, und ein Berater nannte Gorbatschows Verhalten auch amateurhaft. Haben Sie es eher als unausweichlich empfunden – so klang das eben, was Sie sagten im Rückblick?
"In Wahrheit gab es keine einheitliche klare Linie, kein Konzept"
Bitterlich: Für mich, wenn Sie einfach nehmen Kohl-Gorbatschow-Gespräche im Juni 1989, dann Kohl-Gorbatschow-Gespräche im Februar 90, dann Kohls Gespräche in Washington an diesem berühmten Wochenende Camp David im Februar 1990, dann Beginn der Zwei-plus-Vier-Gespräche, so hatten wir durchaus festgestellt, innerhalb der sowjetischen Führung wurde darüber diskutiert, aber in Wahrheit gab es keine einheitliche klare Linie, kein Konzept insofern. Und daher spielte man mit verschiedenen Gedanken, das war diese ominöse Frage der gesamteuropäischen Sicherheitsordnung, nämlich eine Umwandlung der KSZE in eine wirkliche europäische Sicherheitsorganisation. Nur dafür war wieder die Zeit reif, nur das wäre damals in der Kürze der Zeit die richtige Antwort gewesen. Und daher lief es für uns letztlich auf die NATO-Zugehörigkeit hinaus, und das Einzige, die einzige offene Frage galt letztlich damals allein dem Territorium der Noch-DDR, also den dann neuen Bundesländern.
Rossius: So wie Sie das jetzt schildern, Herr Bitterlich, ist das ja doch eine recht andere Wahrnehmung als das, was ich, glaube ich, so bei den meisten von uns als der große Durchbruch eingebrannt hat, das sind nämlich, denke ich, die Bilder von dieser gemütlichen Landpartie in Strickjacke im Kaukasus. Da hieß es dann oft, das war jetzt der endgültige Durchbruch, auch was den NATO-Beitritt anbelangt. Aber offensichtlich war das eigentlich längst entschieden.
Bitterlich: Im Grundsatz war die Richtung vorgegeben, spätestens durch den Besuch von Gorbatschow in den USA im Mai. Ich sag mal, aber das fein Gesponnene, das fein Gestrickte letztlich und die endgültige Zusage erfolgte dann am 15./16. Juli, vor allem am 16. Juli im Kaukasus.
Rossius: Also ganz offensichtlich stand der Wind ja sehr günstig für die Bundesregierung. Lag das vor allem an den Beteiligten, eher an der allgemeinen politischen Situation oder dem Gespür der Beteiligten für den historischen Moment? Wie haben Sie diese ganze Gemengelage empfunden?
"Es war eine hoch nervöse Gemengelage"
Bitterlich: Es war eine hoch nervöse Gemengelage damals, mit einer hoch nervösen Stimmung, denn die gesamte geopolitische Struktur Europas der Nachkriegszeit stand auf einmal auf dem Prüfstand, vor einer grundlegenden Veränderung. Und auf der einen Seite versuchte, ich sag mal, stand die Einsicht eines Gorbatschow, der auch seine Zweifel in die Zukunftsfähigkeit der DDR zunehmend hatte, mit seiner Mannschaft um ihn herum, und auf der anderen Seite stand hinter Helmut Kohl der, ich sag mal, in Deutschland letztlich eine Minderheit repräsentierte in Sachen deutscher Einheit, standen die Amerikaner, stand George Bush und Baker unverbrüchlich hinter ihm, auch mit der klaren Aussage, jawohl, dieses Deutschland wird wiedervereinigt, soll wiedervereinigt werden, friedlich, demokratisch, und dieses Deutschland muss und soll Mitglied der NATO bleiben, und wir werden einfach in Bezug auf die Tatsache, dass ja noch im Osten Deutschlands sowjetische Truppen standen, müssen wir ein gewisses Entgegenkommen zeigen. Das ist dann daraus geworden, die vier Jahre bis zum endgültigen Abzug der sowjetischen, dann russischen Truppen. Dann ferner die Frage der Reduzierung der Größe der Bundeswehr auf 370.000 – worauf es dann gewisse Meinungsverschiedenheit auch innerhalb der Bundesregierung damals gab, und auch die Frage der Stationierung von NATO-Truppen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, inkompatibel mit dem Noch-Vorhandenensein von sowjetischen Truppen. Übrigens Gorbatschow hatte uns letztes Jahr noch mal klar bescheinigt, dass Deutschland insoweit seine Zusagen alle voll eingehalten hat.
Rossius: Zwischen damals und heute liegen aber ja Welten, in jeder Hinsicht. Hätten Sie sich vorstellen können, dass wir 2015 Einreiseverbote haben für deutsche Politiker, Einreiseverbote nach Moskau?
Die EU hat Chancen nicht wahrgenommen
Bitterlich: Ich sag's sehr offen: Ich habe nicht damit gerechnet, denn wir waren, ich glaube, in den 90er-Jahren immer mit einem Auge darauf beachtet, Russland in dieser schwierigen Übergangszeit nach dem Ende der Sowjetunion zu helfen und auch das Land nicht zu überfordern, das heißt, stufenweise eine Partnerschaft zwischen Europa und Russland zu begründen – das war die Politik Helmut Kohls –, auf der anderen Seite die Mittel- und Osteuropäer in die EU und auch, aber nur langsamer, in die NATO zu integrieren. Das war gemeinsame Politik. Und wir haben, ich sag mal, erst einen Bruch vor ungefähr zehn Jahren erlebt, als die EU die Chance nicht wahrgenommen haben, das Verhältnis zu Russland auf eine umfassende vertragliche Grundlage zu stellen. Aber es stand die EU-Kommission da vor dem Abschluss eines umfassendes Vertrages mit Russland, sie hat leider diese Chance nicht ergriffen, und ich sag dann, von dort an ging es in gewisser Weise bergab, wenn man so will. Und leider haben die Europäer einem Wladimir Putin wohl etwas schlecht zugehört, als er 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz an die Europäer einen leidenschaftlichen Appell richtete, doch bitte nicht es wieder in Europa zu Gräben, zu einem Bruch kommen zu lassen und vor allem Gemeinsamkeiten zu entwickeln. Und das war damals ... Die Amerikaner waren nicht mehr auf dieser Linie unter Bush Junior, es war eine andere Zeit, auch in Europa, und man hat leider diese Chance vorübergehen lassen. Und ich sag es heute etwas sehr hart vielleicht: An der Lage, die wir heute haben in Bezug auf Russland und die Ukraine, trifft uns alle eine gewisse Mitschuld, nämlich die Amerikaner, die Europäer, die Russen und die Ukrainer selbst.
Rossius: Der Diplomat Joachim Bitterlich über den Weg zur deutschen Einheit und zur NATO vor 25 Jahren. Danke schön!
Bitterlich: Gerne geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema