Die Ausreisewelle aus der DDR

1984 wollte die SED Druck aus dem Kessel lassen und kam auf die Idee: Raus mit den unruhigen Leuten, damit endlich Ruhe herrscht. Die Zahl der genehmigten Ausreiseanträge aus der DDR schnellte in die Höhe. Was war die Konsequenz?
Historischer O-Ton DLF 1984: (Moderator) Frau Wecke, wie viele Ausreiseanträge haben Sie denn in diesen sieben Jahren gestellt? – (Wecke) Nicht ganz 40. – (Moderator) Nicht ganz 40? Und was hat man Ihnen geantwortet? – (Wecke) Naja, geantwortet eigentlich in sehr wenigen Fällen ein Nein, weil ich keine Antwort bekam, aber bei den anderen Vorladungen, die dann entstanden, da war es natürlich ein ganz klares Nein.
Ein ganz klares Nein – das kannten DDR-Bürger als Antwort auf einen Ausreiseantrag. Hier am Telefon im Dezember 1984 die Frau des acht Jahre zuvor geflüchteten Ruder-Nationaltrainers Rüdiger Wecke.
Historischer O-Ton RIAS, Karl Hermann Roehricht 1984: Ich habe gesehen, wie meine Familie kaputtgeht. Und das konnte ich nicht mehr ertragen.
... erklärte im selben Jahr der Maler und Schriftsteller Karl Hermann Roehricht.
Und darum hab ich 1981 den Staatsratsvorsitzenden der DDR gebeten, mich aus der Staatsbürgerschaft zu entlassen und habe auch profunde Gründe angeführt.
Alles authentisch zusammengefasst
"Fast alle Ausreiseanträge sind begründet worden, das ist eine hochinteressante Quelle, wenn man da rankommt",
sagt heute der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk.
"Damit sollten sich vor allen Dingen auch diejenigen beschäftigten, die daran zweifeln, dass die DDR ein Unrechtssystem war. Denn da wird das alles authentisch zusammengefasst."
Historischer O-Ton RIAS, Karl Hermann Roehricht 1984: "Wenn das Bremsseil durchgeschnitten ist, wenn man fünf, sechsmal Wasser im Tank hat, wenn die ganze Benzinleitung mit Zucker verschmort ist, wenn man einen Berg hinabfährt und kann nicht mehr bremsen, dann wird es doch ernster. Und wenn die Zufälle zu häufig und zu massiert passieren, kann man nicht mehr an Zufälle glauben."
Was Karl Hermann Roehricht dem RIAS-Reporter erzählte, dürfte auch so in seinem Ausreiseantrag gestanden haben, dem ebenfalls jahrelang nicht entsprochen wurde – bis Roehricht 1984 Knall auf Fall in den Westen durfte. Schaut man sich heute die Statistiken der bewilligten Ausreiseanträge an, sticht einem sofort eine Anomalie ins Auge: 1984 schnellte die Zahl der Ausreisegenehmigungen plötzlich in die Höhe, von deutlich unter 10.000 pro Jahr auf fast 30.000. Das führte allerdings nicht dazu, dass die Zahl der Ausreiseanträge zurückging.
Überdruckventil 1984
"1980 gab es 21.500 bestehende Ausreiseanträge, 1985 53.000 und 1987 100.000. Und deswegen hat 1984 die SED beschlossen, 20.000 Leute auf einen Schlag ausreisen zu lassen, in der Hoffnung gewissermaßen, das Ventil zu öffnen, Druck abzulassen und dann die Probleme irgendwie zu lösen. Aber das war ein Bumerang, weil bei 20.000 Leuten spricht sich das natürlich rasend schnell herum: „Aha! So geht das! Dann stell ich jetzt auch mal einen Ausreiseantrag.“ Und so gingen dann die Ausreiseantragzahlen sofort wieder nach oben und haben auch das Niveau der Jahre zuvor sehr schnell deutlich übertrumpft."
Überdruckventil – die SED-Führung brauchte 1984 dringend eine Entlastung.
"Honecker und sein Regime hatten akute Probleme zu der Zeit und waren auf massive Unterstützung der Bundesrepublik angewiesen, und da kam es zu mancherlei Zugeständnissen. Auch diese Ausreisewelle steht in diesem Kontext."
Die Aktion war riskant. Hatte die SED-Führung das Überdruckventil betätigt, braucht sie nun einen Trick, um die Sache irgendwie ins Positive zu wenden. Ihre Propaganda erfand daher die Westerfahrung als scheinbare Katharsis:
"20.000 Ehemalige wollen zurück" -
titelte das "Neue Deutschland" Anfang 1985. Doch Ilko-Sascha Kowalczuk hat nachgeforscht: Knapp 800 Leute stellten einen Rückkehrantrag, keineswegs ausschließlich Flüchtlinge aus der 20.000er-Welle, sondern auch Menschen, die viele Jahre lang im Westen gelebt hatten und dort nicht zurechtgekommen waren. Die Propagandalüge half nichts.
SED-Funktionäre hatten es nicht mehr im Griff
"Da gibt es eben einen sehr engen Zusammenhang zwischen dieser genehmigten Ausreisewelle 1984 und dann dieser Propagandawelle 1985, die dann eben initiiert worden ist, weil die SED-Funktionäre merkten, sie haben das alles nicht mehr im Griff. Statt Druck abzulassen, ist der Druck auf einmal im Kessel viel größer geworden."
Historischer O-Ton DLF 1984: (Moderator) "Frau Wecke, bis vorgestern noch in der DDR, wie denkt dort die Bevölkerung eigentlich über diejenigen, die sich in die Botschaften flüchten. Hat man dafür Verständnis? Oder überwiegt der Ärger, dass damit vielleicht anderen geschadet wird?" -
fragte der Deutschlandfunk-Moderator im Dezember 1984 eine der letzten offiziell Ausgereisten dieses Jahres. Parallel hatten sich bereits größere Menschenmengen in westdeutschen Botschaften im Ostblock angesammelt – Ausreisewillige, die nicht von der Welle profitiert hatten. Über 200 Ausreisen via Botschaftsbesetzung verzeichnete dieses Jahr 1984 auch. Das Überdruckventil, die genehmigte Massenausreise, nützte nichts, weil nicht die Ausreisewilligen das Problem waren, sondern die Verhältnisse, denen sie entfliehen wollten.