Ein radikaler Regelbrecher auf der Suche nach Erkenntnis
Leonardo da Vinci war ein Exzentriker, der alles hinterfragte: vom Lauf des Wassers über die Funktionsweise des menschlichen Körpers bis zum kanonisierten Regelwerk der Malerei. Seine "Mona Lisa" behielt er bei sich bis zum Tod – er starb am 2. Mai 1519.
"Die ungeheuren Umrisse von Leonardos Wesen wird man ewig nur von ferne ahnen können", schrieb der Historiker Jacob Burckhardt. Für ihn war Leonardo da Vinci ein Rätsel, und er ist es heute immer noch. "Das Faszinosum Leonardo ist eben, dass er so vieldeutig ist und natürlich als Vorläufer aller Meisteringenieure, aller Technologien unserer Zeit erscheint", sagt der Historiker Volker Reinhardt.
Reinhardt ist allerdings überzeugt davon, dass Leonardos Rätselhaftigkeit ein Produkt des Künstlers selbst ist. "Leonardo hat diese Rolle des Verblüffenden, des ganz neue Perspektiven Öffnenden bewusst gepflegt. Das war gewissermaßen sein Nischenplatz in der Gesellschaft."
Außenseiter aus Prinzip
Der 1452 geborene Leonardo da Vinci kam als uneheliches Kind auf die Welt, weshalb sein Vater für ihn keine klassische Schulbildung vorsah. Ein Makel, der an ihm nagte und den er zeit seines Lebens mit der größten Verachtung für die gelehrten Humanisten kompensierte. Und wie Historiker Walter Isaacson betont, ist das nicht der einzige "Makel". "Er ist Linkshänder, homosexuell, Vegetarier, Häretiker. Und trotzdem – die Florentiner lieben ihn in seinen lila und rosa Tuniken und Mänteln."
Leonardo war ein Exzentriker, der das Außenstehen zum Prinzip machte. Er hinterfragte alles, vom Lauf des Wassers über die Funktionsweise des menschlichen Körpers bis zum kanonisierten Regelwerk der Malerei. Während es kaum mehr als ein Dutzend Gemälde von ihm gibt, kann man bis heute über 6000 Zeichnungen aus seiner Hand bestaunen.
Darüber, über die Beobachtung, erschließt er sich die Welt, sagt Volker Reinhardt. "Malerei war für ihn mehr als Dekorationsübung im Auftrag und Interesse der Mächtigen. Malerei war für ihn praktische Philosophie. Er musste malen, um zu erkennen."
Das Handwerk dazu erlernte er in der Florentiner Werkstatt Andrea del Verrocchios. Nach den Jugendjahren in Florenz versuchte er sein Glück am Mailänder Hof von Ludovico Sforza, der, wie andere Machthaber auch, die Kunst für seine Propagandazwecke brauchte. Leonardo pries sich an – allerdings nicht als Maler, betont Volker Reinhardt:
"Leonardo verfasst am Anfang seiner Mailänder Zeit ein berühmtes Schreiben, in dem er sich übermenschliche Fähigkeiten als Kriegsingenieur zuschreibt. Also, das muss sich für Ludovico Sforza so gelesen haben, als wenn ein Star Wars-Krieger heutzutage so seine Dienste anbietet. Futuristisch und vollkommen utopisch und unmöglich."
Wundermaschinen und Zukunftsentwürfe
Ein "Uomo universale" wollte er sein, die Malerei galt ihm zwar als die höchste aller Künste, was ihn aber nicht abhielt, mit fantastischen Erfindungen weit in die Zukunft zu greifen. U-Boote, Flugzeuge, Druckerpressen, visionäre Stadtentwürfe – Leonardos Erfindergeist war grenzenlos, aber nichts davon wurde zu seinen Lebzeiten gebaut.
Funktionstüchtig waren seine Wundermaschinen ohnehin nicht, wie die Forschung später herausfand. Gefragt war er zu seiner Zeit als Künstler, nicht nur als Maler, sondern auch als Bühnenbildner für höfische Feierlichkeiten. Der Mann aus Vinci blieb auch hier Beobachter und inszenierte die Feste am Hof Ludovico Sforzas in Mailand als subtile Gesellschaftskommentare.
"Etwa wenn herausragende Aristokraten in phantastischen Tierkostümen erscheinen und auf diese Weise sehr viel bestialischer wirken, als sie eigentlich wirken wollen. Oder wenn plötzlich Gegenwelten in diese höfischen Reigen der Schönen und Reichen einbrechen, wenn plötzlich Bettler oder wilde Männer auftauchen", sagt Reinhardt.
Radikal modern
Gesellschaftliches oder kirchliches Regelwerk vernachlässigte er gerne auf der Suche nach Erkenntnis. Seiner Abendmahlgesellschaft, die er in der Mailänder Kirche Santa Maria delle Grazie entwarf, fehlen die eindeutigen Erkennungsmerkmale, sein Jesuskind in der "Heiligen Anna Selbdritt" bricht einem Lämmchen das Genick.
"Christus, der ein Lamm tötet, ist in keiner theologischen Abhandlung, in keinem theologischen Gleichnis vorgesehen", erklärt Reinhardt. "Hier wird ein traditioneller, verbürgter und verbriefter Bildinhalt radikal aufgebrochen, Christus ist ein ungebärdiger kleiner Junge im Trotzalter und mehr nicht. Und das ist wieder diese radikale Vermenschlichung eines sakralen Themas."
Das macht Leonardo auch radikal modern. Nach wechselnden Stationen in Rom, Venedig, Mantua, Florenz und Mailand verbrachte er seinen Lebensabend am Hof des französischen Königs Franz I. in Amboise.
Bis zu seinem Tod am 2. Mai 1519 behielt er die "Mona Lisa", "Johannes den Täufer" und die "Heilige Anna Selbdritt" bei sich – heute laufen täglich Hunderte an den Bildern im Louvre vorbei. Rätselhaft sind sie immer noch.