Vor 70 Jahren

Als das Emsland polnisch war

Ein Flüchtlingslager 1945 in Schleswig-Holstein
Ein Flüchtlingslager in Schleswig-Holstein 1945. © picture alliance / dpa
Von Sten Martenson |
Maczkow – so hieß die Stadt, die es einmal im Emsland gegeben hat. Als Folge des Zweiten Weltkrieges überließ die britische Besatzungsmacht für wenige Jahre im Norden Westdeutschlands polnischen Streitkräften eine eigene kleine Besatzungszone.
Polnische Soldaten der 1. Panzerdivision und der 1. Selbständigen Fallschirmjägerbrigade befreien deutsches Territorium - fern der Heimat und unter britischem und kanadischem Kommando. Aus Kampftruppen wurden Besatzungstruppen im geschlagenen Nazi-Deutschland. Aber nicht irgendwo im ostdeutschen Raum, an Oder und Neiße, in der Oberlausitz oder Pommern.

Der polnische Historiker Jan Rydel, an der polnischen Botschaft in Berlin für Kultur und Wissenschaft zuständig, bringt es auf den Punkt, der diese Geschichte von allen anderen abhebt:

Rydel: "Es ist ein ungewöhnlicher Rollenwechsel in der deutsch-polnischen Geschichte. Polen als Besatzer in Deutschland. Dazu noch: es geht nicht um strittige Gebiete. Es geht um deutsches Kerngebiet."

Und Kerngebiet war der Nordwesten Deutschlands: das Emsland, die Gegend um Oldenburg, Leer und Meppen.

Die Geschichte hätte indessen nicht den Verlauf genommen, der in den Sommermonaten 1945 begann, wenn die Soldaten die einzigen Polen auf deutschem Boden gewesen wären.

In Haren, einem putzblanken Städtchen an der Ems, das nach dem Kriege eine deutsch-polnische Hauptrolle spielte, ist der pensionierte Lehrer Norbert Tandecki zu Hause. Ihn hat Harens Nachkriegsgeschichte fasziniert und er weiß, dass es natürlich nicht nur die polnischen Truppenverbände waren, die 1945 für drei Jahre Harens besonderes Schicksal besiegelten:

Tandecki: "Im gesamten nordwestdeutschen Raum sind über 250.000 Polen gewesen. Etwa in unserem Bezirk versuchten 25.000 Polen einmal von der polnischen Armee versorgt zu werden beziehungsweise in die Armee integriert zu werden."

Darunter waren Kriegsgefangene, unter ihnen mehr als 1700 Frauen, die im Warschauer Aufstand gekämpft hatten, es waren deportierte Zwangsarbeiter, die in der Landwirtschaft und im Torfabbau dieser Region eingesetzt gewesen waren. Ausländische heimatlose Flüchtlinge, die so genannten Displaced Persons.
Polen als Besatzungsmacht
Was konnte mit diesen Menschen geschehen? Jan Rydel berichtet, dass Briten und Kanadier willens waren für die Polen im nordwestdeutschen Raum, in dem sie militärisch agiert hatten, Gutes zu tun. Aber worin konnte Gutes bestehen? Noch während des Krieges waren viele Pläne gewälzt worden, ob und wie die Polen als Besatzungsmacht im niedergekämpften Deutschland eingesetzt werden könnten. Andererseits mussten die Alliierten davon ausgehen, dass ein großer Teil der Polen wieder zurück in ihre Heimat gehen wollte. Ungeachtet der veränderten innenpolitischen Machtverhältnisse in Polen.

Bis zum Herbst 1945 gab es allerdings überhaupt keine Transportkapazitäten, die es Tausenden von Polen möglich gemacht hätten, in ihr Heimatland zurückzukehren. Alles was Räder hatte war von den sowjetischen Besatzungstruppen in Ostdeutschland für eigene Zwecke beschlagnahmt worden. Jan Rydel:

Rydel: "Der Weg nach Polen war versperrt für die versprengten polnischen Displaced Persons, wie man sie nannte. Daher dachte man eine Konzentration der Polen. In einem Gebiet wollte man sie unter die Obhut der polnischen Truppen stellen, die sich um die Logistik kümmern sollten. Daher entstand die Idee im Emsland, wo scheinbar viele Wohnkapazitäten vorhanden waren in diesen berüchtigten Lagern. Man sprach sogar von polish colony, wo man vielleicht alle Polen aus der britischen Besatzungszone konzentrieren könnte. Es war auch logistisch eine Phantasie ... Trotzdem begann man mit der Umsiedlung der Polen aus Ostfriesland, aus dem Raum Oldenburg Richtung Emsland."

Aber diese Menschen mussten schließlich untergebracht werden. Die in der Region vorhandenen berüchtigten Emslandlager reichten nicht aus. Und so zog am 20. Mai 1945 der Ausrufer Otto Mecklenburg durch Haren und verkündete der deutschen Bevölkerung: "Auf Anordnung der Militärregierung ist der Ort von der Zivilbevölkerung zu räumen."

Die Briten begannen deutsche Ortschaften zu räumen, die Menschen zu zwingen innerhalb von wenigen Stunden ihre Häuser zu verlassen und irgendwo im Umland Unterschlupf für sich und ihre Familien zu suchen. Der noch junge Harener Bürgermeister Markus Honnigfort erinnert sich, dass auch seine Familie von dieser Räumaktion betroffen war und worin der Schock für die Harener Bürger bestand:

Honnigfort: "Die Harener haben die Kriegswirren fast unbeschadet überstanden und mussten dann im Mai 1945 sehr plötzlich ihren Ort binnen 24 Stunden räumen. Dass die Harener selbst das eigentlich nur als kurzzeitige Räumung ihres Ortes aufgefasst haben und daraus letztlich drei Jahre wurden, hat natürlich in den Köpfen der Harener Bürgerinnen und Bürger einen gewissen Eindruck hinterlassen."
Verdrängen der Schuld
Was der Bürgermeister so taktvoll umschreibt ist, dass die Harener es natürlich als blanke Ungerechtigkeit empfanden, was die Gefühle der damaligen Generation für die Polen nicht gerade positiv beeinflusste. Während rund um Haren daran gearbeitet wurde, die schlimmen Mangeljahre zu vergessen und sozusagen den Grundstein für das spätere Wirtschaftswunder zu legen, blieben sie davon ausgesperrt.

Dass sie in vielfacher Hinsicht in den Kriegsjahren von den polnischen Zwangsarbeitern, ohne die keine Landwirtschaft hätte betrieben werden können, profitiert hatten, dass sie wissen mussten, welch grausame Zustände in den Lagern geherrscht hatten und dass sie im Gegensatz zu Millionen ihrer deutschen Landsleute glimpflich durch die von Deutschland verschuldeten Kriegsjahre gekommen waren - das alles verdrängten sie.

Am Pfingstsonntag 1945 hatte der Exodus der Harener begonnen. Wenige Wochen später, am 24. Juni, erhielt Haren seinen neuen Namen, einen polnischen Namen: Maczkow. Namensgeber war der polnische General Stanislaw Maczek, der sich in den Kämpfen auf belgischem und holländischem Territorium mit seinen polnischen Verbänden einen Namen gemacht hatte.

Rydel: "Eine schillernde Persönlichkeit. Studierter Philosoph. Österreichischer k.u.k-Gebirgsjäger, ein sehr guter Stratege. Einer der besten polnischen Offiziere des 20. Jahrhunderts. Sehr beliebt durch die Soldaten."

Haren beziehungsweise Maczkow wurde eine durch und durch polnische Stadt. Nicht, dass die vertriebenen Harener gar nichts mitbekamen, was in der Stadt unter polnischem Regime geschah. Mit Passierscheinen durften sie die Stadt betreten, auch wenn sie dafür triftige Gründe vorweisen mussten. Medizinische zum Beispiel. Aber die St. Martinus-Kirche, ein gewaltiger neobarocker Kirchenbau aus dem ersten Jahrzehnt des 20.Jahrhunderts, auch der Dom des Emslandes genannt, blieb ihnen versperrt. Die Polen, selbst fromme Katholiken, nutzten das Gotteshaus allein für sich. Und sie führten penibel die Kirchenbücher. 479 Taufen, 289 Trauungen und 101 Beerdigungen sind in ihm beurkundet. Kein Zweifel ein pralles Gemeindeleben.

Aber Maczkows polnische Bürgerinnen und Bürger, die ihre wieder gewonnene Freiheit genossen, pflegten auch ein reiches Kulturleben. Norbert Tandecki spricht voller Respekt über die kulturellen Aktivitäten der polnischen Besatzer, von denen die ausgesiedelten Harener nur wenig wussten:

Tandecki: "Es gab zwei Theater, es gab eine ganze Menge Konzerte. Nicht nur Benjamin Britten und Yehudi Menuhin waren hier. Es war ein Dichter und Musiker Kazimir Swiela. Es war ein bekannter Organist Knips da. Es waren Chorkonzerte. Es war immer irgendein kultureller Kontakt, der die emsländische Bevölkerung ausschloss. Und so haben sie gar nicht mitbekommen, was in dieser kurzen Zwischenzeit hier in Haren alles so stattgefunden hat."
Und dem pensionierten Pädagogen imponiert noch heute:

Tandecki: "Es hat hier nicht nur ein Gymnasium, sondern ein Gymnasium-Lyzeum und ein technisches Gymnasium gegeben. Es hat der Direktor Tadeusz Nowakowski ... von hier aus ein fundiertes Schulwesen, in dem die so genannten Kombattanten und Zwangsarbeiter ihr Abitur machten. Wir wissen definitiv, dass 98 Schüler hier in Haren ihr Abitur, ihre Hochschulreife erworben haben."
Exzesse und Prügeleien
Es gab natürlich auch unschöne Vorfälle. Auch die eine oder andere Prügelei. Manche Bauernhöfe in der Umgebung von Haren wurden auch schon mal von polnischen Neusiedlern heimgesucht, die es mit "mein und dein" nicht so genau nahmen. Es gab Exzesse, wie Wilhelm Menke, der Vorsitzende des Harener Heimatvereins, es nennt. Gemeint sind dabei aber im Wesentlichen nur Fahrraddiebstähle. Aber auch Menke, dessen Heimatverein gerade sein 75-jähriges Bestehen gefeiert hat, zieht letztlich eine überraschende Bilanz dieser gut drei Jahre polnischer Besatzungszeit:

Menke: "Im Prinzip war es so, dass hier ein Gemeinwesen entstanden war, von dem die Harener keine Ahnung hatten, von dieser Qualität."
Nun hatten die polnischen Einwohner von Maczkow nicht nur intellektuelle oder seelsorgerische Bedürfnisse, die gestillt werden konnten. Die Stadt musste sich schließlich auch neu organisieren. Zunächst wurde sie in vier Stadtviertel unterteilt. An ihre Spitze rückten städtische Angestellte. Das Leben verlief in bemerkenswert geordneten Bahnen. Jan Rydel schreibt in seiner Geschichte dieser historisch ungewöhnlichen Episode, dass Maczkow geradezu zu einem Vorzeigeobjekt der 1. Panzerdivision wurde. Nirgendwo sonst funktionierte die Zusammenarbeit zwischen den polnischen Displaced Persons und den alliierten Besatzungsmächten so gut. Von Chaos keine Spur. Britische Offiziere waren voll des Lobes über ihre polnischen Unter-Verwalter.

Die deutschen Straßennamen waren verschwunden. Eine alte Karte aus dieser Zeit weist nur polnische Namen auf: ulica Lwowska, ulica Jagiellonska, ulica Zygmontowska. Dass Maczkow auf deutschem Territorium lag, ließ sich nur am unverfälschten Namen der Ems ablesen. Die Briten verwandten in ihren Dokumenten beide Stadtnamen. Und auch die polnischen Pfarrer benutzten in ihren Aufzeichnungen den deutschen wie den polnischen Namen der Stadt. So, als ob sie ahnten, dass Maczkow eine Episode bleiben würde.

Bis zum März 1946 schien alles im Lot zu sein. Das Hochwasser, das im Februar und März Maczkow überflutete, leitete eine zweite Phase in der Geschichte dieser polnischen Stadt auf deutschem Boden ein. Wer am Sockel der St. Martinus-Kirche die Hochwassermarke vom 11. Februar 1946 entdeckt, bekommt eine Vorstellung von dem fürchterlichen Ausmaß der Überschwemmung. Sie war zum Teil mitverantwortlich für das ramponierte Ansehen der polnischen Besatzer, die für Jan Rydel keine "edlen Besatzer" waren.

Die Häuser der Harener Bürger hatten unter ihren polnischen Bewohnern schwer gelitten. Nicht nur unter den Schäden durch das Hochwasser, die entweder gar nicht oder nur unzureichend beseitigt worden waren.

Rydel: "Alles kam zusammen, dass sie diese Stadt hinterher verwüstet vorfanden."
Keine dauerhaft polnische Enklave
In dieser zweiten Phase schwanden unter den Polen die Hoffnungen auf eine dauerhaft lebensfähige polnische Enklave in und um Haren respektive Maczkow. Die britischen Besatzungsbehörden drangen zunehmend darauf, die polnischen Displaced Persons nach Polen heimzuschicken. Viele emsländische Dörfer, viele polnische Siedlungen wurden von den Briten geräumt. Die Menschen wurden freilich nicht sogleich nach Polen repatriiert, sondern kamen zunächst in andere Lager außerhalb des Emslandes.

Ein entscheidender Grund für den Sinneswandel der britischen Besatzer war die veränderte politische Großwetterlage. Norbert Tandecki erläutert:

Tandecki: "Mit der Anerkennung des Lubliner Komitees haben die alliierten Regierungen die polnische Exilregierung fallen gelassen... Ich glaube, das ist mit so die Ursache gewesen, dass man nicht mehr eine ausreichende Rückendeckung hatte, um hier einen eigenen Staat aufzubauen. Es ist ja für dieses Gebiet des Generals Klemens Rudnicki, wo diese DP-Lager lagen, sehr schnell in der Bevölkerung der etwas ironische Begriff aufgekommen, es ist das Fürstentum Rudnicki."
Was Maczkow betraf, waren die Vertreter der Vereinten Nationen, die auf die Displaced Persons ein sorgsames Auge hielten, ungehalten über die Verwüstungen in der Stadt. Sie forderten vom polnischen Bürgermeister Futa, die Schäden zu beseitigen, sonst drohte der Bevölkerung die Verlegung in ein Lager abseits der Stadt. Noch aber hielt der Kommandeur der 1. polnischen Panzerdivision General Rudnicki schützend seine Hand über die Stadt.
Dennoch, schon im Frühjahr 1947 wurden einige Häuser ihren deutschen Besitzern zurückgegeben. Handwerker konnten wieder in ihre Werkstätten. Dem deutschen Pfarrer und seinen Harener Schäfchen wurde der Zutritt zur Martinus-Kirche wieder gewährt. Die polnische Selbstverwaltung der Stadt wehrte sich zwar hinhaltend gegen alle Auflösungserscheinungen. Im Januar 1948 wurde noch einmal ein Aufschub erwirkt, weil sich für die beiden Maczkower Gymnasien noch keine neue Bleibe in einer anderen Stadt gefunden hatte.

Beim Wegzug der Schulen im Februar 1948 kam es zu tumultartigen Szenen, weil deutsche Bürger mit Gewalt zu verhindern versuchten, dass auch die Schulmöbel abtransportiert werden.

Am 10. September 1948 verließen die letzten 32 polnischen Familien die Stadt. In der Martinus-Kirche fand ein Dankgottesdienst statt.

Wer heute durch Haren geht, findet nichts, was an diese Zeit erinnert. Norbert Tandecki, lebt seit über 40 Jahren in Haren. Spuren?

Tandecki: "Nein... Es sind ja Gebäude requiriert worden... Die Schule ist heute wieder als Gymnasium erhalten geblieben. An der Emsbrücke oben das Haus, in dem sich eine Burse befand, steht auch noch. Aber es sind keine bezeichnenden polnischen Spuren zurückgeblieben."

Und es weisen auch keine Gräber auf die polnische Besatzungszeit hin. Der Friedhof befand sich ursprünglich direkt an der Kirche. Hier entsteht jetzt ein Park. Die polnischen Toten dieser Jahre, die Kirchenbücher haben 101 registriert, sind zu einem großen Teil auf Soldatenfriedhöfe im Umland umgebettet worden.

Auch Bürgermeister Honnigfort fallen keine polnischen Spuren ein:

Honnigfort: "An die Maczkow-Zeit selbst gibt es nichts Greifbares, was man anpacken kann, keinen Gedenkstein. Oder dergleichen. Das ist in Haren nicht vorhanden. Wir sehen den Schwerpunkt eher darin, dieses im Rahmen von Konferenzen, Seminaren, Zusammentreffen über die Bildungsträger, das man versucht es in diesem Rahmen in Erinnerung zu halten. Sollte man es in einem Rahmen festhalten, was fest ist, ist es für mich weniger lebendig."

Im Ratssaal, ein paar Türen entfernt vom Bürgermeisterbüro, sind ein paar Erinnerungsstücke an das Kriegsende und die ganz besondere Harener Nachkriegszeit ausgestellt. Da ist in einer Vitrine das weiße Betttuch drapiert, mit dem Schwester Kunigunde vom Turm der Martinuskirche am 8. April 1945 den anrückenden alliierten Truppen signalisierte, dass Haren kapituliert. Und da hängt der alte Stadtplan mit den polnischen Straßennamen, neben leicht vergilbten Fotos aus dem polnischen Maczkow.

Am 10. September 1948 verließen die letzten Polen die Stadt, die schon seit dem 04. August nicht mehr Maczkow, sondern wieder Haren hieß.

Literaturhinweis:
Jan Rydel: "Die polnische Besatzung im Emsland"
Fibre-Verlag, Osnabrück

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