Vor 70 Jahren

In der Kirche niedergemetzelt

Von Peter Hölzle |
Am 10. Juni 1944 vernichtete eine SS-Kompanie den südfranzösischen Ort Oradour-sur-Glane. Die Bewohner wurden ermordet, die Häuser in Schutt und Asche gelegt. 1983 wurde einer der Täter in der DDR verurteilt, die anderen blieben unbehelligt.
"Als die SS alle Bewohner auf dem Kirmesplatz zusammengetrieben hatte, trennten sie die Frauen und Kinder von den Männern und brachten sie in die Kirche. Die Männer teilten sie in mehrere Gruppen und führten sie in verschiedene Scheunen und Garagen. Sie sagten den Männern, dass sie dort so lange festgehalten werden würden, bis sie ein Waffenlager gefunden hätten, das in der Kleinstadt versteckt sein sollte. Alle Männer wussten, dass sich in ihrem Ort keine Waffen befanden. Das hatte sie beruhigt. Sie glaubten, dass man sie danach wieder freilassen würde. Aber das war nur ein Vorwand. Als alle Einwohner an die für das Massaker vorgesehenen Plätze gebracht worden waren, hatte Kommandant Diekmann eine Detonation ausgelöst. Eine Granate, ein genügend lauter Knall, damit jedermann es hören konnte, das war das Signal für das Massaker."
Was Jean Lamot aus der Opferperspektive erzählt, ergänzt der frühere SS-Untersturmführer Heinz Barth vom Panzer-Grenadier-Regiment "Der Führer" aus Tätersicht:
"Es waren ja circa 150 Leute da, die ganze Kompanie. Und vom Bataillonsstab unter Führung des Bataillonskommandeurs Diekmann, der selbst die ganze Aktion leitete mit dem Hauptsturmführer Kahn zusammen, wurde doch die Angelegenheit durchgeführt. Und ich selber hatte den Befehl ja von dem verantwortlichen Kommandeur Diekmann erhalten, die Erschießung durchzuführen. Und das waren noch ungefähr 20 bis 25 Menschen, nur Männer. Und dann wurde auf einen bestimmten Befehl hin an allen Orten gleichzeitig geschossen."
Bundespräsident Joachim Gauck umarmt den ܜberlebenden und Zeitzeuge Robert Hebras im Beisein von Frankreichs Präsident Francois Hollande
Bundespräsident Joachim Gauck umarmt den ܜberlebenden und Zeitzeuge Robert Hebras im Beisein von Frankreichs Präsident Francois Hollande© picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm
Die geschilderten Einzelheiten einer Massenhinrichtung von 197 Männern vom 10. Juni 1944 waren erst der Anfang vom Ende des südfranzösischen Ortes Oradour-sur-Glane unweit Limoges. Es sollte noch schlimmer kommen:
Fast 500 Frauen und Kinder ermordet
"Sie brachten die Frauen und Kinder in die Kirche, fast fünfhundert Personen. Am Anfang wollte man sie ersticken. Nur die Rauch entwickelnde Kiste, die zwei Soldaten in die Kirche geschleppt hatten, zersplitterte beim Zünden die Fensterscheiben des Gotteshauses. Deswegen konnte der Rauch entweichen. Als die Männer merkten, dass das Ersticken nicht funktionierte, drangen sie in die Kirche ein und schossen in Salven. Danach legten sie Feuer. Es gelang einer Frau aus einem Kirchenfenster zu springen, ebenso einer Mutter mit ihrem Baby. Die Mörder entdeckten sie außerhalb der Kirche. Sie schossen ein zweites Mal und töteten die Mutter. Das Baby töteten sie, indem sie es gegen eine Mauer warfen. Die gerettete Frau wurde durch fünf Schüsse ins Bein verletzt. Die Frau fand man am nächsten Nachmittag. Sie war die einzige Zeugin, die berichten konnte, was in der Kirche passiert war."
Jean Lamot, der das alles erzählt, ist nur ein indirekter Zeuge der Auslöschung Oradours. Seine mit ihm hochschwangere Mutter war an jenem 10. Juni 1944 auf einer Hochzeit in einem Nachbarort und entging so mit ihm selbst dem sicheren Tod. Warum aber wurde ausgerechnet das friedliche Oradour, das bis dahin außerhalb der von den deutschen Besatzungstruppen gefürchteten Partisanenzone im Limousin lag, Schauplatz eines so barbarischen Kriegsverbrechens? Der ehemalige SS-Mann und Mittäter Heinz Barth:
"Es war eine Vergeltung für Angehörige, die von Partisanen angeblich umgebracht wurden. Nicht in Oradour ..."
Ein Teil des Dorfes Oradour, der nach dem Massaker durch die SS nicht wieder aufgebaut wurde.
Ein Teil des Dorfes Oradour, der nach dem Massaker durch die SS nicht wieder aufgebaut wurde.© picture alliance / dpa / Lachenaud Pascal
Eine "Vergeltung", die, wie so oft in diesem Krieg, die Falschen, die Unschuldigen traf und fast keine Sühne fand! Bis auf einen, den hier zitierten SS-Untersturmführer Heinz Barth, der 1983 in der DDR zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, entgingen alle übrigen Hauptverantwortlichen für die Vernichtung Oradours ihrer Strafe.
Bataillonskommandeur Diekmann fiel kurz darauf an der Normandiefront. Kompaniechef Kahn lud nach dem Krieg alle Verantwortung auf seinen toten Vorgesetzten Diekmann ab. Und dessen Chef, den Kommandeur der SS-Division "Das Reich", Heinz Lammerding, der nach 1945 in Düsseldorf als Bauunternehmer reüssierte, schützte die deutsche Justiz vor der Anklage, beziehungsweise der Auslieferung nach Frankreich. Damit nicht genug. Es brauchte fast siebzig Jahre, bis ein Gericht den Fall Oradour wieder aufnahm und sich ein Bundespräsident zu einem Bußgang an den Ort deutschen Grauens bereitfand. Am 4. September vergangenen Jahres holte Joachim Gauck das lange Versäumte endlich nach.
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