"Vor allem in Schulen werden junge Menschen diskriminiert"

Boris Dittrich im Gespräch mit Christian Rabhansl |
Inzwischen ist die Ehe von gleichgeschlechtlichen Paaren auf fünf Kontinenten durchgesetzt, sagt der niederländische Menschenrechtsaktivist Boris Dittrich. Doch die homophoben Tendenzen und Gesetze in Osteuropa bereiten ihm Sorge.
Deutschlandradio Kultur: In den Niederlanden gilt er als "Vater der Ehe für alle", denn er hat als Parlamentarier dafür gesorgt, dass die Niederlande als erster Staat der Welt die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet haben. Das war zur Jahrtausendwende. Ein Jahr später gleich sein nächster Erfolg: das Adoptionsrecht für Lesben und Schwule, wenn sie denn verheiratet sind. Nach zwölf Jahren als Abgeordneter im niederländischen Parlament ist er nach New York gezogen, im Jahr 2007, um im Namen der Menschenrechts-Organisation Human Rights Watch für die Gleichstellung von Homosexuellen zu arbeiten, und zwar weltweit.

Herzlich willkommen, Boris Dittrich!

Boris Dittrich: Danke sehr!

Deutschlandradio Kultur: Wir sitzen hier aber nicht in New York, sondern in Tacheles, Deutschlandradio Kultur - Original-Interview mit Boris Dittrich(MP3-Audio) Ihrem sonnigen Büro in Berlin. Sie haben Ihre Arbeit nämlich vor ein paar Wochen aus New York nach Berlin verlegt. Warum ausgerechnet hierher?

Boris Dittrich: Ich möchte gerne in Berlin wohnen, weil das eine sehr schöne Stadt ist. Und sie ist relativ nahe bei Russland und der Ukraine und Osteuropa, wo viele Entwicklungen stattfinden, die negativ sind. Wir bei Human Rights Watch spüren, dass wir die Entwicklungen gerade in diesem Teil der Welt stärker verfolgen sollten, um mehr Einfluss zu haben.

Deutschlandradio Kultur: Über diese Entwicklungen in Osteuropa werden wir noch sprechen. Ich springe jetzt aber erst einmal 30 Jahre zurück. Sie sind nämlich in diesem Frühjahr von der niederländischen Regierung ausgezeichnet worden für 30 Jahre Kampf für die Rechte von Lesben und Schwulen. Vor 30 Jahren – wann haben Sie da zum ersten Mal gemerkt: Die Welt ist ungerecht, ich muss jetzt aufstehen, ich muss auf die Straße gehen, ich muss etwas tun?

Boris Dittrich: Ich habe das schon als kleiner Junge gemerkt. Mein Vater war ein Flüchtling aus der Tschechoslowakei, er floh 1948. Und wir durften meiner Großmutter hinter dem Eisernen Vorhang nicht einmal Briefe schreiben. Das fand ich schon als Kind sehr ungerecht, und so fing mein Streben nach Gerechtigkeit an. Als mir dann bewusst wurde, dass ich schwul bin, wollte ich ein Vorbild sein. Zu der Zeit arbeitete ich als Anwalt in Amsterdam und nahm vor allem Fälle an, in denen es um Diskriminierung ging.

Deutschlandradio Kultur: Sie waren Rechtsanwalt, Sie waren auch Richter, und sind später als Abgeordneter der linksliberalen Partei D66 ins Parlament gezogen. Ist Gerechtigkeit Ihr Lebensthema?

Boris Dittrich: Ja. Als Parlamentarier kümmerte ich mich um Fälle von Diskriminierung gegen Frauen oder Patienten in der Psychiatrie und Menschengruppen, die es in unserer Gesellschaft schwer haben.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind 1994 ins Parlament eingezogen. Im selben Jahr ist in Deutschland gerade einmal die Strafbarkeit von Homosexualität endgültig abgeschafft worden. Wie sind Sie von Ihren Parlamentskollegen begrüßt worden?

Boris Dittrich: In meiner Wahlkampagne habe ich gesagt, dass die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender, kurz: LGBT, dass diese Rechte Teil der politischen Diskussion sein sollten. Als offen schwulem Mann war mir das wichtig. Viele sagten zu mir: "Rede nicht darüber, dass du schwul bist. Das kostet uns viele Wählerstimmen. Das Land ist noch nicht bereit für einen offen Schwulen im Parlament". Darauf antwortete ich immer: "Ihr wollt, dass ich ein Volksvertreter bin, aber ich soll nicht einmal mich selber repräsentieren? Damit bin ich nicht einverstanden." Ich bin also mit meiner sexuellen Orientierung immer sehr offen umgegangen und habe festgestellt, dass das von den Leuten auch respektiert wird.

Deutschlandradio Kultur: Nun haben die Niederlande schon lange einen sehr liberalen Ruf. Zur Jahrtausendwende kamen wie gesagt die Ehe und dann auch gleich noch das Adoptionsrecht. Waren Sie überrascht, wie schnell das ging?

Boris Dittrich: Nein, überhaupt nicht. Es hat sogar sehr lange gedauert. Ich habe die Ehe für alle und das Recht auf Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare zum ersten Mal 1994 vorgeschlagen. Das Parlament stimmte zwar dafür, aber die Regierung lehnte es ab. Sie meinten, die Niederlande würden sonst zu einer isolierten Insel auf der Welt, während die gleichgeschlechtliche Ehe nirgendwo sonst legitimiert sei. So mussten wir den Koalitionsvertrag nach den nächsten Wahlen bemühen, um dieses Gesetz dort zu verankern.

Deutschlandradio Kultur: Das war also um die Jahrtausendwende. Im Sommer 2006 haben Sie dann selbst Ihren langjährigen Freund geheiratet. Erst einmal herzlichen Glückwunsch, Sie haben in diesen Tagen Ihren siebten Hochzeitstag, wenn ich das richtig gerechnet habe …

Boris Dittrich: Ich habe nicht einmal nachgerechnet! Wir haben am 6.6.2006 geheiratet. Wir haben aber ehrlich gesagt im Juni unseren Hochzeitstag vergessen, weil wir hier in Berlin das Leben und die Stadt so sehr genossen, dass wir nicht daran gedacht haben.

Deutschlandradio Kultur: Nun, als ich diese Zahl gelesen habe: 2006, da habe ich mich gewundert. Sie haben so lange und so hart für die gleichgeschlechtliche Ehe gekämpft. Warum haben Sie nicht sofort geheiratet?

Boris Dittrich: Weil ich immer sage, es sollte das Recht eines jeden Menschen sein zu heiraten oder auch nicht. Aber mir persönlich und meinem Partner ist die Ehe nicht so wichtig. Aufgrund bestimmter Umstände wollten wir dann aber nach ein paar Jahren den rechtlichen Schutz haben und sagten: Okay, lass uns heiraten.

Deutschlandradio Kultur: Und das war nicht das Einzige, was zu diesem Zeitpunkt geschah, sondern Sie haben das niederländische Parlament verlassen und sind nach New York gezogen, um für Human Rights Watch zu arbeiten. Als Politiker konnten Sie doch selbst Ihre Ideen umsetzen. Warum wollten Sie künftig lieber andere Politiker davon überzeugen, Ihre Ideen umzusetzen?

Boris Dittrich: Zunächst wollte ich nach über zwölf Jahren etwas in meinem Leben verändern und etwas Neues tun. Und Human Rights Watch ist eine internationale Menschenrechtsorganisation mit sehr viel Einfluss. Als niederländischer Parlamentarier konnte ich in meinem Land etwas bewirken, aber jetzt bei Human Rights Watch bin ich überall auf der Welt und rede mit Politikern und kann Druck auf Regierungen ausüben, dass sie Gesetze und Rechte ändern. Als internationale Nichtregierungsorganisation haben wir einen großen Einfluss.

Deutschlandradio Kultur: Ihre Aufgabe bei Human Rights Watch hat einen etwas, tja, umständlichen Titel. Sie sind Advocacy Director des Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Rights Program. Fasse ich das richtig zusammen, wenn ich sage, Sie unterstützen und beraten Aktivisten in der ganzen Welt und organisieren die Aktionen von Human Rights Watch? Ist das richtig, vereinfacht gesagt?

Boris Dittrich: Wir unterstützen vor Ort Aktivisten und ihr Engagement für Gleichheit und Nicht-Diskriminierung. Wir bringen ihre Fälle auch vor die UNO. Wir arbeiten mit UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zusammen und versuchen auch international und regional unseren Einfluss bei der EU oder der Afrikanischen Union auszuüben, aber natürlich in einigen Ländern auch auf lokaler Ebene.

Deutschlandradio Kultur: Sie erwähnten gerade den UN-Generalsekretär Ban Ki Moon. In der Tat haben Sie daran mitgearbeitet, ihn zu überzeugen, erstmals öffentlich Homophobie zu verdammen. Wie haben Sie das geschafft?

Boris Dittrich: Indem ich ihn und seine Mitarbeiter erst einmal kontaktierte. Es gab mehrere Meetings. Bei dem ersten Treffen sagte Ban Ki Moon: "Ich bin ein älterer Mann aus Südkorea. Wir sind es nicht gewohnt, über Sexualität und oder gar Homosexualität zu reden." Aber er war sehr offen für den Gedanken, dass er die Menschenrechte für alle Menschen verteidigen sollte. Also luden wir ihn zu einem großen Treffen ein, dass Human Rights Watch und andere Menschenrechtsorganisationen planten. Er eröffnete dieses Meeting mit einer wunderbaren Rede. Es war ein Meilenstein und wir berufen uns noch heute darauf, weltweit.

Deutschlandradio Kultur: Das sind ein paar Ihrer Erfolge aus der Vergangenheit. Jetzt sind Sie seit einigen Wochen in Berlin. Wir bleiben in dieser Region und blicken nach Frankreich. Das Land hat schon seit vielen Jahren den Zivilen Solidaritätspakt, bei dem Menschen egal welchen Geschlechtes einen Vertrag miteinander schließen können, und damit hatte das Land nie ein Problem. Jetzt aber, da es darum geht, ob die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet wird, gehen Hunderttausende auf die Straßen. Haben Sie mit so einer Wut gerechnet?

Boris Dittrich: Nein! Das war eine totale Überraschung, auch für die französischen Aktivisten. Ich habe sie nach den Gründen für den Massenprotest gefragt. Die Antwort lautete, dass hier ganz unterschiedliche Interessensgruppen zusammenkamen. Einige waren gegen die sozialdemokratische Regierung, andere gegen die Gleichstellung bei der Ehe, manche aus religiöser Überzeugung, und andere wiederum wollten randalieren und einfach nur gegen etwas sein. Es ging also nicht nur um die Ehe für alle. Interessanterweise haben wir nach den ersten beiden Hochzeiten in Montpellier bemerkt, dass der ganze Widerstand langsam verschwand. Viele wollten sich dagegen aussprechen, aber jetzt, da die Ehen geschlossen werden, haben die meisten kaum noch ein Problem damit.

Deutschlandradio Kultur: Zeigt das Beispiel trotzdem, dass Minderheiten sich nie zu sicher sein sollten, selbst wenn scheinbar schon viele Rechte erkämpft sind?

Boris Dittrich: Ja, denn es gibt immer neue Wahlen. Das haben wir in Spanien erlebt, wo die Konservativen im Wahlkampf versprochen hatten, das Gesetz für gleichgeschlechtliche Ehen wieder aufzuheben. Nach ihrem Wahlsieg fragten sie beim Verfassungsgericht nach, aber die Richter haben das Gesetz für verfassungskonform erklärt, und so haben die Konservativen das Gesetz nicht aufgehoben. Wir leben in einer Demokratie. Manche Regierungen unterstützen die Rechte von sexuellen Minderheiten, andere Regierungen können sie entziehen.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir an den geografischen Rand von Europa blicken, nach Russland, da hat die Duma gerade erst ein Gesetz verabschiedet, das so genannte Homosexuellen-Propaganda unter Strafe stellt. Haben Sie schon Aktivisten getroffen? Was erzählen die, wie hat sich das Leben verändert?

Boris Dittrich: Wir hatten am Abend vor dem Berliner Christopher Street Day eine öffentliche Diskussion mit russischen Aktivisten. Leider hat die Duma dieses Gesetz verabschiedet. Jetzt ist es unmöglich, sich öffentlich positiv über LGBT-Rechte zu äußern, vor allem wenn Minderjährige anwesend sind. Man ist der Meinung, Jungen oder Mädchen könnten mit Homosexualität "infiziert" werden. Das sind ein sehr homophobes Gesetz und eine sehr homophobe Regierung. Wir von Human Rights Watch unterstützen Aktivisten vor Ort, bringen dieses Gesetz vor den Europarat, unterstützen Gruppen, die die russische Regierung vor den Europäischen Gerichtshof bringen, und versuchen Druck auf die Regierung auszuüben.

Deutschlandradio Kultur: Nun ist es gleichzeitig so, dass in Russland internationale Organisationen als "ausländische Agenten" gebrandmarkt werden. Wenn Sie nun Aktivisten in Moskau helfen – schaden Sie denen vielleicht sogar dadurch?

Boris Dittrich: Wir müssen ja irgendwie zusammenarbeiten und reagieren normalerweise auf deren Anfragen. Aber eine Organisation wie "Coming Out" in Sankt Petersburg erhielt bereits eine Geldstrafe, weil sie als "ausländischer Agent" gilt. Dieses Vokabular erinnert an Spionage und suggeriert Aktivitäten gegen das eigene Land. Wir müssen also vorsichtig sein. Auch unser Moskauer Büro von Human Rights Watch wurde schon von Beamten der Regierung gestürmt.

Deutschlandradio Kultur: Was erwarten Sie von der deutschen Regierung und von den europäischen Staats- und Regierungschefs. Müssen die mehr Druck ausüben?

Boris Dittrich: Ja, es ist wichtig, dass sich Kanzlerin Merkel oder der niederländische Premierminister bei Besuchen von Putin auch öffentlich gegen diese homophoben Gesetze aussprechen. Er scheint davon zwar nicht besonders beeindruckt zu sein, aber kein Regierungsmitglied mag es, kritisiert zu werden. Also sollte man dauerhaft Druck auf die russische Regierung ausüben.

Deutschlandradio Kultur: Sie sagen "sollte". Sind Sie schon zufrieden mit dem, was die Europäer tun?

Boris Dittrich: Nein, denn leider ist Russland sehr einflussreich und wichtig, weil es über Öl und Erdgas verfügt. Es gibt viele wirtschaftliche Gründe, aus denen europäische Politiker Russland nur ungerne kritisieren. Aber diese Kritik ist notwendig und Organisationen wie Human Rights Watch werden sich immer für diesen Druck auf Russland einsetzen.

Deutschlandradio Kultur: Russland ist nicht das einzige Land, das Ihnen Sorgen machen dürfte. In etlichen arabischen Ländern und auch in großen Teilen Afrikas wird die Lage für Lesben und Schwule immer schwieriger. Fast 80 Länder weltweit machen Homosexuelle per Gesetz zu Kriminellen. Und in einigen Staaten droht ihnen auch die Todesstrafe, zum Beispiel im Iran, im Sudan, in Teilen Nigerias und in Teilen Somalias.

Ein weiteres Beispiel ist Uganda. Dort planen einige Parlamentarier nicht nur die Todesstrafe, sondern sie wollen auch durchsetzen, dass, wenn jemand eine Lesbe oder einen Schwulen kennt und den nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden anzeigt, dass ihm dann selber Gefängnis droht. Woher kommt so viel Hass?

Boris Dittrich: Gute Frage, schwierig zu beantworten. In einem Land wie Uganda haben rechtsradikale, christliche Gruppen aus den USA einen starken Einfluss, die über viel Geld verfügen und Kirchen in Uganda übernommen haben. Sie schicken Missionare, die behaupten, der Westen und seine Regierungen seien in einem Zustand des moralischen Verfalls, weil Homosexuelle über so viel Macht und Einfluss verfügten. Und deshalb sei Uganda von Gott auserwählt, um rein zu sein und rein zu bleiben.

Viele Menschen in Uganda wissen rein gar nichts über Homosexualität, weil darüber nicht öffentlich geredet wird, und glauben diesen Unsinn. So ist dieses Land sehr schwulenfeindlich und das wird von ugandischen Politikern noch angeheizt, die vor Wahlen die Ängste vor Homosexuellen ausnutzen. Damit lenken sie von den echten Problemen wie Armut oder Korruption ab. Aber wenn man behauptet: "Die Homosexuellen sind unter uns und rekrutieren unsere Kinder!", dann bekommen die Menschen Angst und unterstützen diese Politiker, die nicht mehr erklären müssen, warum das Land so korrupt ist. Das sind die Hauptgründe, warum das Land so homophob ist, und leider sind auch Journalisten in diesem Land nicht gut informiert.

Deutschlandradio Kultur: Manche evangelikalen Prediger aus den USA sind bereits von Aktivisten aus Uganda verklagt worden, und zwar in den USA. Sie würden Einfluss auf die Gesetzgebung in Uganda nehmen. Das ist noch nicht entschieden. Welche Hoffnungen haben Sie bei so einem Prozess?

Boris Dittrich: Ich habe mit den Anwälten der ugandischen Aktivisten gesprochen, die gegen Scott Lively klagen, einer dieser Missionare. Dieser Fall wird sich noch Jahre lang hin ziehen. Psychologisch interessant ist, dass Herr Lively, der immer nach Uganda flog, dort sein Ding machte, nach Hause flog und dann alles vergaß, nun an seiner eigenen Türschwelle mit den Folgen seiner Taten in Uganda konfrontiert wird. Das könnte bedeuten, dass diese Menschen vorsichtiger werden, was sie in Ländern wie Uganda sagen. Ich weiß nicht, wie aussichtsreich der Fall juristisch ist. Aber die Klage schweißt die Aktivisten in Uganda zusammen, weil sie sich jetzt nicht mehr machtlos fühlen gegenüber diesen amerikanischen Hasspredigern, die in ihr Land kommen und dann wieder verschwinden.

Deutschlandradio Kultur: Nun stecken Sie als Menschenrechtler in der Zwickmühle. Scott Lively argumentiert, er predige ja nur seinen Glauben. Und Religionsfreiheit ist etwas, für das Sie ebenfalls eintreten.

Boris Dittrich: Das ist immer ein schmaler Grat. Meinungsfreiheit bedeutet, dass man auch gegenteilige Meinungen ausdrücken kann. Das ist richtig so. Aber wenn es zu Hass wird und Leute aufstachelt, dann ist eine Grenze überschritten und wird zu einer kriminellen Handlung. Das muss dann ein Richter entscheiden. Aber wenn es sich um Aufhetzung handelt, fordern wir die Verantwortlichen und Regierungen auf, das zu stoppen.

Deutschlandradio Kultur: Das ist bei vielen religiösen Gruppen ähnlich: Egal ob die Evangelikalen oder die Orthodoxe Kirche in Russland oder die ultraorthodoxen Juden in Israel oder strenggläubige Muslime, auch die Katholische Kirche hat nicht gerade ein entspanntes Verhältnis zu Homosexualität. Wie kommt das? Sind alle Religionen mit Schwulen und Lesben auf dem Kriegspfad?

Boris Dittrich: Kriegspfad ist zu stark, aber es stimmt, dass sie sich beim Thema homosexuelle Beziehungen unwohl fühlen. Sie sind der Meinung, Gott schuf den Mann und die Frau und beide sollten sich vermehren. Andererseits muss ich erwähnen, dass der neue Papst Franziskus als Erzbischof in Argentinien mit homosexuellen Menschen in Verbindung stand und mit ihnen kommunizierte. So etwas haben wir bei früheren Päpsten nicht gesehen.

Human Rights Watch lädt deshalb die Katholische Kirche zu neuen Initiative mit dem neuen Papst ein, um zu sehen, wo es Gemeinsamkeiten gibt. Denn auf unsere Anfrage hin gab der Heilige Stuhl schon 2009 vor den Vereinten Nationen ein Statement ab. Darin forderte der Vatikan alle Staaten auf, Homosexualität zu entkriminalisieren. Keine Frau und kein Mann sollte mehr wegen seiner sexuellen Orientierung inhaftiert oder diskriminiert werden. Das war bereits ein großer Schritt. Denn viele Politiker in den Ländern, die Schwule und Lesbe als Kriminelle verfolgen, benutzen die römisch-katholische Kirche als Argument. Und das ist gegen die Sichtweise des Heiligen Stuhls.

Deutschlandradio Kultur: Dass es zu dieser Verlautbarung der Kirche kam, daran haben auch Sie persönlich gearbeitet. Wie um Himmels Willen haben Sie das geschafft?

Boris Dittrich: (lacht) Ganz einfach. Ich habe mich so geärgert. Ich bin katholisch erzogen und kenne den Glauben und die Bibel und fragte mich: Warum predigen so viele Bischöfe und Erzbischöfe Hass und sagen sogar in der Kirche: "Wenn ihr Homosexuelle kennt, ruft die Polizei. Sie müssen verhaftet werden." Also habe ich einen Brief an den Vatikan geschrieben, weil es dort ja eine Regierung und auch einen Beauftragten für Menschenrechte gibt. Sie haben den Brief beantwortet und sagten, wir sind sowieso in New York, wir sollten uns treffen. Sie kamen dann zu uns ins Büro und der verantwortliche Minister des Vatikans meinte: "Wir sind doch gegen die Kriminalisierung von Homosexuellen und gegen ihre ungerechtfertigte Diskriminierung." Da sagte ich: "Es ist wunderbar, dass Sie das mir hier in meinem Büro sagen. Aber Sie sollten das vor den Vereinten Nationen erklären." Darauf antwortete er, wir werden aber niemals dazu eingeladen. Ich dankte ihm und versprach, dafür zu sorgen. 2009 nahmen sie die Einladung an, kamen am Internationalen Tag der Menschenrechte zur UNO nach New York und gaben diese Erklärung ab. Und die verwenden wir bis heute.

Deutschlandradio Kultur: …für viele eine große Überraschung. Es scheint mir auffällig zu sein, dass in letzter Zeit in weiten Teilen der Welt die Verfolgung von Lesben und Schwulen eher zunimmt. Wir haben jetzt einige Länder besprochen. Gleichzeitig scheint in Westeuropa und Nordamerika die fast schon völlige Gleichstellung nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Wie erklären Sie sich diese Auseinanderentwicklung?

Boris Dittrich: Das ist nicht nur in Westeuropa der Fall. Inzwischen ist die gleichgeschlechtliche Ehe in Ländern auf fünf Kontinenten möglich. Nächste Woche stimmt in Großbritannien das Oberhaus ab und alle gehen davon aus, dass man auch dort das Gesetz annimmt. Es gibt also positive Entwicklungen. Aber wenn eine Minderheit plötzlich sichtbarer wird, dann werden auch jene sichtbarer, die dagegen sind. Das ist ein Trend und historisch immer so gewesen. Als die Frauenrechte vor 30 Jahren immer bedeutender wurden, gab es eine große Opposition dagegen. Heute ist sie quasi inexistent, aber das ist eine Phase, die wir durchstehen müssen.

Deutschlandradio Kultur: Zum Ende der Sendung möchte ich in Ihre Heimat zurückkehren, in die Niederlande. Denn da hat es scheinbar nicht zu dieser Gegenbewegung geführt, sondern es scheint inzwischen fast völlige Normalität und Gleichheit zu herrschen. Wenn Sie mit Ihrem Mann über die Straße gehen – dreht sich dann überhaupt noch jemand um?

Boris Dittrich: Das stimmt so nicht. Man denkt immer, in Ländern, wo es die Ehe für alle gibt, herrsche keine Diskriminierung mehr. Leider gibt es immer wieder Vorfälle, von denen die niederländische Presse berichtet, bei denen man schwule oder lesbische Paare aus ihrem Haus vertrieben hat, weil sie von den Nachbarn nicht akzeptiert wurden. Vor allem in Schulen werden junge Menschen diskriminiert und leider ist die Selbstmordrate unter jungen Menschen, die schwul, lesbisch, bisexuell oder transgender sind, höher als bei anderen Gleichaltrigen. Es gibt also noch viel zu tun, um eine komplette Gleichstellung zu erzielen und keine weitere Diskriminierung zu erlauben.

Deutschlandradio Kultur: …also weiter eine weltweite Arbeit für die Rechte von Lesben und Schwulen. Vielen Dank, Boris Dittrich, dass Sie zu Gast bei uns waren!

Boris Dittrich: Es war mir ein Vergnügen.
Boris Dittrich, als er noch Politiker der linksliberalen Partei D66 war
Boris Dittrich 2003, als er noch Politiker der linksliberalen Partei D66 war. Geboren 1955 in Utrecht, Jurist und Menschenrechtsaktivist. In den Niederlanden gilt Dittrich als "Vater der Ehe für alle", da er als Parlamentarier dafür gesorgt hat, dass die Niederlande im Jahr 2000 als erster Staat der Welt die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet haben. Seit 2007 ist er Advocacy Director des "Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Rights Program" von Human Rights Watch.© dpa / picture alliance / epa anp Juinen
Vincent Autin (r) und sein Partner Bruno Boileau nach ihrer standesamtlichen Hochzeit in Montpellier
Vincent Autin (r) und sein Partner Bruno Boileau nach ihrer standesamtlichen Hochzeit in Montpellier© picture alliance / dpa / Gerard Julien/Pool
Papst Franziskus bei den Pfingstfeierlichkeiten auf dem Petersplatz
Papst Franziskus© picture alliance / dpa / Evandro Inetti