Vor der Befreiung
Noch ein Buch über die alliierte Invasion am 6. Juni 1944 in der Normandie, die endlich das Ende der Naziherrschaft über Europa einläutete? Ist diese bis heute größte einzelne Militäroperation der Weltgeschichte nicht längst "ausgeschlachtet" in unzähligen Texten, Dokumentar- und Spielfilmen? Allein Google wirft über 500 Millionen Fundstellen aus, nur zum Stichwort "D-Day". Kann man darüber wirklich noch Spannendes, gar Neues erzählen?
Antony Beevor kann, und wie. Er ist nicht nur ein penibler Rechercheur, auf dessen Faktenmaterial Verlass ist - die Minimalbedingung. Er verhält sich auch erfrischend respektlos gegenüber Mythen und Tabus, egal wer sie pflegt und warum. In "Berlin 1945. Das Ende" hatte er sich nicht gescheut, den Siegeszug der Roten Armee entlang der Vergewaltigungen zu erzählen, sozusagen als "Leidfaden". Die russischen Archive, aus denen die Belege dafür stammen, sind seitdem wieder ein bisschen verriegelter.
In "D-Day. Die Schlacht um die Normandie" rückt Beevor Kriegsverbrechen von West-Alliierten in den Blick: Es gab sehr wohl Tötungen von Gefangenen, Verwundeten. Und Kriegsgegner - nicht nur die aus der Waffen-SS, die ihrerseits den Alliierten grausame Gemetzel geliefert hatten - wurden als menschliche Schutzschilde missbraucht. Das belegen lange bekannte, aber vor Beevor kaum zitierte US-Militärdokumente.
Beevor versteht es brillant, aus einem Tsunami von durchaus komplizierten Daten und Fakten Literatur zu machen. Für dieses Buch hat er nach eigener Aussage "tausende kopierte Seiten aus über 30 Archiven in einem halben Dutzend Ländern" herausgeholt und verarbeitet. Auch Briefe, Tagebücher und persönliche Erinnerungen von Zivilisten und Soldaten, Franzosen, US-Amerikanern, Kanadiern, Briten und Deutschen.
Er verwebt erschütternde, makabre, manchmal komische und oft grausige Details, er erspart einem nichts. Man hört förmlich das Dröhnen der Flugzeugmotoren in Südengland, wenn sich am 5. Juni kurz vor Mitternacht die Luftlandedivisionen startklar machen. Man sieht die zerschossenen Kirchtürme und die verwüsteten Landstriche in Nordfrankreich, und nicht nur, weil man so viele Bilder kennt.
Man riecht die Tierkadaver, die gar nicht so schnell begraben oder verbrannt werden können, wie sie verwesen. Man jubelt mit, wenn endlich, knapp drei Monate später Paris befreit ist, und bekommt eine sinnliche Vorstellung von dem Preis, den dieser vielbeschworene "letzte gerechte Krieg" gekostet hat: von der Sintflut an "Blut, Schweiß und Tränen" und dem Gebirge von Toten.
Genau das ist Beevors große Kunst: Er verklammert den Blick von unten und den von oben. Er holt Individuen aus dem Pulverdampf, dem fog of war, heraus und gewinnt aus ihnen mitreißende Klarheit über Mentalitäten und Kontexte. Wer hierzulande über Krieg nachdenkt und redet, kommt daran nicht vorbei.
Besprochen von Pieke Biermann
Antony Beevor: D-Day. Die Schlacht um die Normandie
Aus dem Englischen von Helmut Ettinger
C. Bertelsmann, München 2010
640 Seiten, 28 Euro
In "D-Day. Die Schlacht um die Normandie" rückt Beevor Kriegsverbrechen von West-Alliierten in den Blick: Es gab sehr wohl Tötungen von Gefangenen, Verwundeten. Und Kriegsgegner - nicht nur die aus der Waffen-SS, die ihrerseits den Alliierten grausame Gemetzel geliefert hatten - wurden als menschliche Schutzschilde missbraucht. Das belegen lange bekannte, aber vor Beevor kaum zitierte US-Militärdokumente.
Beevor versteht es brillant, aus einem Tsunami von durchaus komplizierten Daten und Fakten Literatur zu machen. Für dieses Buch hat er nach eigener Aussage "tausende kopierte Seiten aus über 30 Archiven in einem halben Dutzend Ländern" herausgeholt und verarbeitet. Auch Briefe, Tagebücher und persönliche Erinnerungen von Zivilisten und Soldaten, Franzosen, US-Amerikanern, Kanadiern, Briten und Deutschen.
Er verwebt erschütternde, makabre, manchmal komische und oft grausige Details, er erspart einem nichts. Man hört förmlich das Dröhnen der Flugzeugmotoren in Südengland, wenn sich am 5. Juni kurz vor Mitternacht die Luftlandedivisionen startklar machen. Man sieht die zerschossenen Kirchtürme und die verwüsteten Landstriche in Nordfrankreich, und nicht nur, weil man so viele Bilder kennt.
Man riecht die Tierkadaver, die gar nicht so schnell begraben oder verbrannt werden können, wie sie verwesen. Man jubelt mit, wenn endlich, knapp drei Monate später Paris befreit ist, und bekommt eine sinnliche Vorstellung von dem Preis, den dieser vielbeschworene "letzte gerechte Krieg" gekostet hat: von der Sintflut an "Blut, Schweiß und Tränen" und dem Gebirge von Toten.
Genau das ist Beevors große Kunst: Er verklammert den Blick von unten und den von oben. Er holt Individuen aus dem Pulverdampf, dem fog of war, heraus und gewinnt aus ihnen mitreißende Klarheit über Mentalitäten und Kontexte. Wer hierzulande über Krieg nachdenkt und redet, kommt daran nicht vorbei.
Besprochen von Pieke Biermann
Antony Beevor: D-Day. Die Schlacht um die Normandie
Aus dem Englischen von Helmut Ettinger
C. Bertelsmann, München 2010
640 Seiten, 28 Euro