Vor der Europawahl

Gepflegte Vorurteile

Eine Gemüsehändlerin zeigt am 30.06.2009 auf dem Isemarkt in Hamburg zwei krumme Gurken in Herzform.
Die berüchtigte EU-Vorschrift zum Krümmungsgrad der Gurke ist längst Geschichte. © picture-alliance / dpa / Kay Nietfeld
Von Andreas Rinke |
Die Suche nach einem falschen Sündenbock kennzeichne die erregte Debatte um Europa, meint der Journalist Andreas Rinke. Tatsächlich beruhten viele kritisierte EU-Vorschriften auf regionalen und nationalen Interessen.
Europa müsse vom Kopf auf die Füße gestellt werden. So heißt es ziemlich weit vorne im Wahlprogramm der CSU, davon spricht auch der Spitzenkandidat der europäischen Sozialisten. Dabei schwingt darin alles mit, was an Vorurteilen gegenüber der europäischen Einigung über Jahrzehnte gepflegt worden ist.
"Die da" weit weg in Brüssel sind verantwortlich für eine Politik, die man nicht will. Und "wir" zu Hause müssen dies erdulden. Also brauche es eine neue EU, so der kurze Schluss. Die Realität aber sieht anders aus.
Etliche Entscheidungen der Brüsseler Administration mögen unsinnig sein. Sie sind es aber nicht häufiger als in nationalen Hauptstädten, in Regionalregierungen und Rathäusern. In Wahrheit sind sogar die meisten Fehlentwicklungen hausgemacht, mitnichten nicht von der EU. Und deshalb gehört vor allem die Debatte über Europa vom Kopf auf die Füße gestellt.
Fragwürdige Beispiele
Reden wir von der Krümmung der Gurke oder von offenen Olivenöl-Kännchen in Restaurants, die zu Symbolen einer abgehobenen, bürokratischen Regelungswut geworden sind. Ausgangspunkt fast jeder Vorschrift der EU-Kommission sind regionale Forderungen von Handelsverbänden, Industrien oder Verbraucherschutzorganisationen – vermittelt von nationalen Regierungen, nicht selten an deren Parlamenten vorbei.
Übrigens bleibt die gerade oder krumme Gurke noch immer ein beliebtes Beispiel, obwohl die Einteilung der Handelsklassen von Lebensmitteln 2009 wieder abgeschafft worden ist. Und das Verbot offener Olivenöl-Kännchen ist nie beschlossen worden.
Oder reden wir von der Banken- und Schuldenkrise. In vielen EU-Staaten haben rechts- und linkspopulistische Parteien Zulauf, weil sie der EU oder der Eurozone vorwerfen, die Haushaltspolitik bis hinunter zu den Städten und Gemeinden zu "diktieren". Doch keine der europäischen Regeln zur Finanzpolitik wurde von "Brüssel" gemacht. Es sind einstimmige Entscheidungen des Europäischen Rates oder der Eurozone, getroffen von den Regierungschefs der Mitgliedsstaaten der Union.
Verschleierte Debatte
Bemerkenswert ist dabei, wie sehr in der Debatte verschleiert wird, dass Schulden ohnehin nur vor Ort, in den Hauptstädten und in der Provinz gemacht werden. Die EU-Kommission selbst darf nicht in rote Zahlen geraten oder Kredite aufnehmen. Es sind die nationalen Kollektive, die sich nicht an die Regeln halten, die sie selbst gemeinsam beschlossen haben.
Reden wir von europäisch geförderten Bauruinen. Was da Brüssel angelastet wird, ist meist verantwortungslos auf kommunaler oder regionaler Ebene geplant worden. Nicht gelobt wird dagegen, dass EU-Mittel helfen, marode Infrastruktur zu erneuern und regionale Egoismen zu überwinden. Wer anders als Brüssel nimmt Geld in die Hand, um Stromnetze oder Gas-Pipelines grenzüberschreitend auszubauen - Investitionen, nach denen in Krisenzeiten laut geschrien wird.
Eher schon sollte das europäische Beihilferecht verschärft werden, angesichts vieler Regionalflughäfen in Deutschland, die sich als nicht lebensfähig erwiesen haben.
Und reden wir zu guter Letzt vom Verbraucherschutz, den Brüssel angeblich einem transatlantischen Handelsabkommen opfern will. Warnungen mögen ja berechtigt sein, aber ebenso ist es die Wahrheit, dass viele Standards zugunsten der Bürger erst von Brüssel durchgesetzt wurden, nachdem nationale Regierungen im Ringen mit mächtigen Interessengruppen kläglich scheiterten.
Erinnert sei an die Abschaffung der Roaming-Gebühren beim mobilen Telefonieren, die Entschädigung von Reisenden für nicht eingehaltene Fahrpläne oder die Pflicht der Banken, jedem Bürger auf Wunsch ein Konto einzurichten.
So viel zum Kopf und zu den Füßen.


Andreas Rinke, Jahrgang 1961, ist ausgebildeter Historiker und hat über das Schicksal der französischen "Displaced Persons" im Zweiten Weltkrieg promoviert. Er hat als politischer Beobachter bei der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" und dem "Handelsblatt" gearbeitet. Heute ist er politischer Chefkorrespondent der internationalen Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.
Mehr zum Thema