Vor der Europawahl

Politologin: Es gibt eine europäische Öffentlichkeit

Die Fahne der Europäischen Union
Um die europäische Integration steht es gar nicht so schlecht, sagt Cathleen Kantner. © picture-alliance/ dpa / Rene Ruprecht
Cathleen Kantner im Gespräch mit Christopher Ricke · 08.05.2014
Medienanalysen hätten ergeben, dass wichtige Themen in allen europäischen Ländern präsent seien, so die Professorin für Europäische Integration, Cathleen Kantner. Die Interpretation dieser Themen und die Mehrheitsmeinung unterscheide sich aber.
Christopher Ricke: Heute Abend, 20.15 Uhr, zweieinhalb Wochen vor der Europawahl, gibt es im ZDF das "TV-Duell", da treten die Spitzenkandidaten der beiden größten Parteien gegeneinander an, Martin Schulz von der Sozialdemokratischen Partei Europas, und Jean-Claude Juncker von der Europäischen Volkspartei. Die beiden werden miteinander diskutieren, das tun sie auch auf Deutsch, entsprechend wird dieses TV-Duell nur im österreichischen und im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Es gibt aber auch eine EU-weite Debatte mit deutlich mehr Kandidaten in einer Woche, die kann man sich dann auf Phoenix ansehen.
Ich sprach mit Cathleen Kantner, das ist eine Professorin für Internationale Beziehungen und Europäische Integration an der Universität Stuttgart. Und ich habe sie gefragt: Frau Kantner – Jürgen Habermas beklagt ja seit Jahrzehnten das Fehlen der echten europäischen Öffentlichkeit. Sind wir 2014 so weit, dass sich da etwas zum Besseren wandelt?
Cathleen Kantner: Den Befund, dass wir keine europäische Öffentlichkeit haben, würde ich so sowieso nicht gelten lassen.
Ricke: Aber es gab diesen Vorwurf, dass diese gemeinsame Öffentlichkeit fehlt. Ist das ein Vorwurf von gestern?
Kantner: Also, dieser Vorwurf wurde ja, seit die Diskussion eröffnet wurde über die Demokratisierung der Europäischen Union, - was eben halt schon mit dem Maastrichter Vertrag, mit den Verhandlungen vom Maastrichter Vertrag Anfang der 90er-Jahre, 1993 losging -, da wurde ja diese Diskussion begonnen. Und das war auch sehr wichtig und verdienstvoll, dass Habermas dort für eine Demokratisierung der Europäischen Union eingetreten ist und diese Diskussion maßgeblich vorangetrieben hat. Allerdings, finde ich, hat er an der Stelle, wo diese Prämissen dieser Diskussion diskutiert wurden, den Skeptikern, dass es möglich wäre, die Europäische Union zu demokratisieren, zu viel Entgegenkommen gezeigt und insbesondere eben in diesem Punkt einer mangelnden europäischen Öffentlichkeit.
"Das Spektrum von europäischen Themen, die in der Presse vorkommen, ist extrem breit"
Ricke: Ich bezweifle ja nicht, dass es Demokratie gibt, aber ich bezweifle durchaus, dass es eine Öffentlichkeit gibt, weil es ja doch unterschiedliche nationale Wahrnehmungen gibt. Also in Polen schaut man anders auf die Ukraine als in Portugal, und Frankreich diskutiert Atomkraft ganz anders als Deutschland.
Kantner: Also diese Diskussion wird weitgehend unabhängig von den empirischen Befunden dazu diskutiert und immer wieder reproduziert, immer mit dem gleichen Tenor. Natürlich haben wir unterschiedliche Wahrnehmungen, sind unterschiedlich stark von bestimmten Problemen betroffen, aber dass sozusagen jedes der 28 Mitgliedsländer der Europäischen Union in der Öffentlichkeit so seine eigene Sicht auf Europa hätte, auf jedes einzelne Thema – ich weiß nicht, bei mir reicht die Kreativität nicht aus, mir so viele sinnvolle Meinungen zu jedem Thema auszudenken.
Was wir gemacht haben, sind Untersuchungen, also zunächst erst mal, dass wir auf der theoretischen Ebene geprüft haben: Auf welche Prämissen bauen denn eigentlich diese Diskussionen auf, diese Behauptungen, die so leichtfertig immer wieder wiederholt werden? Und wir haben uns angeschaut: Ist es denn eigentlich so, dass wir wirklich nicht über Ländergrenzen politisch kommunizieren können? Ist es so, dass die Bürger innerhalb eines Nationalstaates alle die gleichen Medien benutzen, alle die gleichen Perspektiven haben? Nein. Für die nationale Öffentlichkeit würden wir so eine Frage überhaupt nicht stellen, weil das völlig klar ist. Wir sind gewohnt, mit Pluralismus zu leben. Natürlich benutzen wir unterschiedliche Medien. Wir suchen uns die selektiv aus, eben nach unseren politischen Vorlieben, nach unseren präferierten Themen und auch nach der Zugänglichkeit oder dem Stil dieser Medien. Aber trotzdem können wir uns gerade am Wahltag treffen, weil wir uns in der Zwischenzeit Meinungen zu den wichtigen Themen gebildet haben und dann diese Meinungen einfließen lassen über unsere Wählerstimmen in den politischen Prozess.
In der Europäischen Union ist das ganz genauso. Also wir haben dann auch das empirisch umgesetzt und haben eben über viele Jahre, jetzt mittlerweile 15 Jahre, immer wieder empirische Analysen durchgeführt, wo wir die nationalen Mediendebatten jetzt insbesondere in den Qualitätstageszeitungen analysiert und verglichen haben. Und erstaunlicherweise kam raus, dass das Spektrum von Themen, von europäischen Themen, die in der Presse vorkommen, extrem breit ist. Also man kann sich über viele, viele Themen, über alle möglichen Themen eine Meinung bilden, die sind präsent, in unterschiedlichem Grade, aber sie sind da, die wichtigen Themen konzentrieren sich auch zu wichtigen Fokuspunkten in der Diskussion. Die Themenzyklen zu diesen Debatten sind in den verschiedenen Ländern ganz genauso oder sehr, sehr ähnlich. Und dann ist das noch so, dass die Deutungsmuster dazu, also die Aspekte, unter denen so ein Thema dann interpretiert wird, und dieses Spektrum, innerhalb dessen dann unsere unterschiedlichen Meinungen sich formieren, auch nicht so stark abweicht zwischen den einzelnen europäischen Ländern. Nun mag es sein, dass die Mehrheitsmeinung oder der Tenor, die stärkste Fraktion dann sich von Land zu Land unterscheidet, aber das Spektrum ist in den unterschiedlichen Ländern präsent. Also wir kennen auch die Gegenargumente.
"Wir können wirklich einen Unterschied machen für die Politik in Europa"
Ricke: Es klingt so, als ob Europa in den letzten Jahren wirklich gereift ist, und dann haben wir jetzt dieses Ereignis Europawahl: Ist das ein transnationales, europäisches Ereignis, hinter dem wir uns in der gesamten EU versammeln können?
Kantner: Also zum einen denke ich, dass diese transnationalen Debatten schon sehr, sehr lange laufen und dass es uns eigentlich ganz selbstverständlich ist. Wenn ich als Bürger die Zeitungen lese, die Nachrichten schaue im Fernsehen, dann ist es mir eigentlich egal, ob da ein Fähnchen dran hängt, das ist jetzt national oder das ist europäisch, sondern ich möchte, dass über die wichtigen Themen kompetent gesprochen wird, und ich achte gar nicht darauf. Das tun wir als Wissenschaftler, wenn wir Medieninhaltsanalysen durchführen, dann achte ich darauf: Auf welcher Ebene bewegt sich denn das? Aber als Bürger gucke ich doch da nicht hin, da will ich einfach sehen, dass die wichtigen Zusammenhänge erläutert werden, dass die wichtigen Alternativen transparent werden und dass ich mir dann überlegen kann: Was fände ich richtig?
Und insofern ist es gerade jetzt mit der kommenden Europawahl ein ganz, ganz wichtiges Ereignis, dass wir erstmals nach den neuen rechtlichen Möglichkeiten und demokratisierten Möglichkeiten ein neues Europaparlament wählen und mit unseren Meinungen, damit wirklich einen Unterschied machen können für die Politik in Europa in den nächsten fünf Jahren.
Ricke: Cathleen Kantner, sie ist Professorin für internationale Beziehungen und europäische Integration an der Uni Stuttgart. Vielen Dank und einen guten Tag!
Kantner: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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