Vor Gericht
Das Buch trägt den schlichten Titel "Verbrechen". Auch die Überschriften der einzelnen Kapitel – "Das Cello", "Der Igel", "Notwehr", "Grün" "Liebe" – lassen nicht erahnen, welche geballte Ladung Schicksale sich dahinter verbirgt. Es geht um Mord, um Totschlag, um Raub, um Tierquälerei, aber auch um Enttäuschung, um Vertrauen, um Liebe, um Verzweiflung. Also der Stoff, aus dem Kriminalromane sind.
Aber Ferdinand von Schirach hat sich für die kurze Form entschieden, und das war eine gute Entscheidung. Denn so kann er gleich mehrere Varianten von kriminellen Geschichten erzählen, jede mit ihrer eigenen menschlichen Dramatik, mit und ohne Happy End.
Elf Fälle, die der Berliner Strafverteidiger erlebte, hat er verfremdet – wegen der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht – und dann aufgeschrieben. Eine junge Frau, die ihren Bruder aus Liebe umbringt, ein junger Mann, der Schafe tötet und ihnen die Augen aussticht, ein Museumswärter, der fremden Menschen Reißzwecken in die Schuhe steckt, ein Bankräuber, der sich nicht bereichern will.
Die Geschichten erzählen von den kleinen Kriminellen, die das ganz große Geschäft wittern und dabei beinahe selbst ermordet werden. Folter- und Mordszenen der übelsten Art werden dem Leser nicht erspart. Aber von Schirach erzählt sie so, dass sie einen zwar in aller Wucht treffen, ohne jedoch voyeuristisch zu sein. Von Schirachs Stil ist knapp, anschaulich und ergreifend. Kaum ein Kapitel ist länger als 20 Seiten. Jede der elf Geschichten ist atemberaubend spannend, wirkt trotz aller Glaubwürdigkeit so unglaublich, dass man sie atemlos sofort zu Ende lesen muss.
Das Juristische tritt dabei zunächst völlig in den Hintergrund. Aber dann kommt es doch vor und spielt auch eine wichtige Rolle. Zum Beispiel der Umstand, dass Angeklagte schweigen dürfen. Dass sie, wenn die Beweise nicht ausreichen, freigesprochen werden, auch wenn ziemlich sicher ist, dass sie die Täter sind. Das ist der Grundsatz "In dubio pro reo", im Zweifel für den Angeklagten. Von Schirach gelingt es, in seinen Geschichten das Strafrecht gleich mit zu erklären, ohne den Erzählfluss zu unterbrechen. Er liefert Literatur, die erzählt, wie Verbrechen entstehen können, dass jede Straftat ihre eigene Geschichte hat und dass Täter nicht immer aus dem kriminellen Milieu stammen. Er schreibt über extreme Taten, ohne die Zwischentöne zu vergessen. Dabei erklärt der Anwalt schwerelos und fast nebenbei komplizierte juristische Zusammenhänge. Die vielschichtige Rolle des Strafverteidigers, der oft im Hintergrund agiert und dessen Auftritte vor Gericht nur einen kleinen Teil seiner Arbeit ausmachen, wird in diesem Buch deutlicher als in mancher juristischen Abhandlung. Von Schirachs Geschichten beschäftigen einen noch, wenn das Buch längst aus der Hand gelegt wurde. Ein kleines Meisterwerk!
Besprochen von Annette Wilmes
Ferdinand von Schirach: Verbrechen
Piper Verlag, München 2009
208 Seiten, 16,95 Euro
Elf Fälle, die der Berliner Strafverteidiger erlebte, hat er verfremdet – wegen der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht – und dann aufgeschrieben. Eine junge Frau, die ihren Bruder aus Liebe umbringt, ein junger Mann, der Schafe tötet und ihnen die Augen aussticht, ein Museumswärter, der fremden Menschen Reißzwecken in die Schuhe steckt, ein Bankräuber, der sich nicht bereichern will.
Die Geschichten erzählen von den kleinen Kriminellen, die das ganz große Geschäft wittern und dabei beinahe selbst ermordet werden. Folter- und Mordszenen der übelsten Art werden dem Leser nicht erspart. Aber von Schirach erzählt sie so, dass sie einen zwar in aller Wucht treffen, ohne jedoch voyeuristisch zu sein. Von Schirachs Stil ist knapp, anschaulich und ergreifend. Kaum ein Kapitel ist länger als 20 Seiten. Jede der elf Geschichten ist atemberaubend spannend, wirkt trotz aller Glaubwürdigkeit so unglaublich, dass man sie atemlos sofort zu Ende lesen muss.
Das Juristische tritt dabei zunächst völlig in den Hintergrund. Aber dann kommt es doch vor und spielt auch eine wichtige Rolle. Zum Beispiel der Umstand, dass Angeklagte schweigen dürfen. Dass sie, wenn die Beweise nicht ausreichen, freigesprochen werden, auch wenn ziemlich sicher ist, dass sie die Täter sind. Das ist der Grundsatz "In dubio pro reo", im Zweifel für den Angeklagten. Von Schirach gelingt es, in seinen Geschichten das Strafrecht gleich mit zu erklären, ohne den Erzählfluss zu unterbrechen. Er liefert Literatur, die erzählt, wie Verbrechen entstehen können, dass jede Straftat ihre eigene Geschichte hat und dass Täter nicht immer aus dem kriminellen Milieu stammen. Er schreibt über extreme Taten, ohne die Zwischentöne zu vergessen. Dabei erklärt der Anwalt schwerelos und fast nebenbei komplizierte juristische Zusammenhänge. Die vielschichtige Rolle des Strafverteidigers, der oft im Hintergrund agiert und dessen Auftritte vor Gericht nur einen kleinen Teil seiner Arbeit ausmachen, wird in diesem Buch deutlicher als in mancher juristischen Abhandlung. Von Schirachs Geschichten beschäftigen einen noch, wenn das Buch längst aus der Hand gelegt wurde. Ein kleines Meisterwerk!
Besprochen von Annette Wilmes
Ferdinand von Schirach: Verbrechen
Piper Verlag, München 2009
208 Seiten, 16,95 Euro