Vor zehn Jahren: Krawalle in Frankreich

Ohnmächtige Wut auf den Staat

Ein ausgebranntes Auto liegt auf dem Dach
Erst nach drei Wochen kehrte wieder Ruhe ein: vier Menschen mussten sterben, es gab Hunderte Verletzte, 500 öffentliche Gebäude wurden verwüstet und fast 10.000 Autos verbrannt. © picture alliance/dpa/Matthieu De Martignac
Von Vanessa Loewel |
Drei Wochen lang brannte es vor zehn Jahren in Frankreichs Vorstädten: Jugendliche zündeten Autos an und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Der ganze Frust, der sich in der Banlieue angestaut hatte, brach sich Bahn. Auslöser war am 27. Oktober 2005 der Tod zweier Jugendlicher.
Das ist hier wie im Bürgerkrieg, sagt ein französischer Polizist über seinen Einsatz in Clichy-sous-Bois. Autos, Telefonzellen und Bushaltestellen werden von Jugendlichen in Brand gesetzt, sie werfen Steine und Molotow-Cocktails. Die Polizei antwortet mit Gummigeschossen, Tränengas und Festnahmen.
"Eine zweite Nacht der Gewalt in Clichy-sous-Bois: Stundenlang standen sich Jugendliche und Polizei in Straßenkämpfen gegenüber", meldet die Nachrichtensprecherin des französischen Fernsehens.
Auslöser für die Unruhen ist der tragische Tod zweier Teenager am 27. Oktober 2005: der 15-jährige Bouna Traoré und der 17-jährige Zied Benna sind mit Freunden auf dem Nachhauseweg von einem Fußballspiel, als sie sich von einem Polizeiauto verfolgt fühlen. Sie haben sich nichts zu Schulden kommen lassen. Aber da sie keine Papiere bei sich haben, fürchten sie eine Kontrolle und rennen weg. Die Polizisten ordern Verstärkung. Die Jugendlichen verstecken sich in einer Umspannstation: Hier sterben Bouna und Zied an einem Stromschlag, ihr Freund Muhittin Altun wird schwer verletzt.
Noch in derselben Nacht brechen in der Vorstadt im Nordwesten von Paris Krawalle aus. Am nächsten Tag zieht die Bevölkerung in einem Schweigemarsch durch Clichy-sous-Bois, angeführt von den Eltern der beiden toten Jugendlichen. Der Bürgermeister fordert schonungslose Aufklärung und findet versöhnende Worte:
"Ganz Frankreich schaut auf uns. Lasst uns zeigen, dass wir hier zusammen leben können, trotz unserer Abstammung, trotz unserer Unterschiede."
Sarkozys "Null-Toleranz-Politik" heizt die Stimmung an
Die Situation entspannt sich kurzfristig. Doch dann explodiert eine Tränengasbombe in der Moschee von Clichy-sous-Bois: ein Geschoss der Polizei. Die Krawalle flammen wieder auf und greifen in den nächsten Tagen auf weitere Vorstädte von Paris über, dann auf die von Lille, Rennes, Toulouse, Marseille oder Dijon und schließlich auf ganz Frankreich.
"Diese Taten müssen mit aller Härte verfolgt werden."
Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy reagiert mit Großeinsätzen der Polizei und Festnahmen. Seine "Null-Toleranz-Politik" heizt die Stimmung nur noch mehr an. Ohnehin ist Sarkozy in den armen Vorstädten Frankreichs verhasst. Die Jugendlichen nannte er Gesindel, Abschaum, von dem man die Banlieue mit dem Hochdruckreiniger säubern sollte.
"Es ist doch ganz klar, was die Krawalle ausgelöst hat. Nach dem Drama in Clichy gab es überhaupt keine Aufklärung. Sarkozy hat sogar gesagt, die beiden Jugendlichen seien Kriminelle, obwohl das überhaupt nicht stimmt. Der Minister sollte mehr Acht geben, was er sagt. Er verletzt die Gefühle der Menschen hier",
sagt ein Jugendlicher aus der Pariser Vorstadt dem französischen Fernsehen. In einigen Städten muss der öffentliche Nahverkehr eingestellt werden, weil Busse attackiert und angezündet werden. Poststationen, Schulen und Kindergärten werden zerstört. Nicht nur Polizisten werden angegriffen, sondern auch Feuerwehrleute: Die Wut richtet sich gegen den Staat, von dem sich viele Menschen in der "banlieue" aufgegeben, vernachlässigt fühlen.
"Wir werden aussortiert"
Es ist kein neues Problem: Seit den 70ern entwickeln sich die Vorstädte zu sozialen Brennpunkten, in denen die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit immer wieder in Aggression umschlägt. In den grauen Wohnblocks leben mehrheitlich Familien aus den ehemaligen Kolonien, aus Marokko, dem Senegal oder Algerien, deren Einwanderung zwar gefördert wurde, nicht aber deren Integration. Die tristen Trabantenstädte sind oft nur schlecht an den öffentlichen Nahverkehr angebunden, die Sozialbauten verkommen, es gibt kaum Kinos, Sportanlagen oder Geschäfte; die Arbeitslosigkeit ist hoch.
"Seit 30 Jahren habe ich einen französischen Pass, aber wir werden aussortiert. Ich habe es wirklich satt. Ich habe x Bewerbungen geschrieben, aber mit meinem Namen, da bekomme ich noch nicht einmal eine Antwort."
Am 7. November 2005 erklärt die französische Regierung den Ausnahmezustand und verhängt Ausgangssperren. Erst nach drei Wochen kehrt wieder Ruhe ein: Vier Menschen mussten sterben, es gab Hunderte Verletzte, 500 öffentliche Gebäude wurden verwüstet und fast 10.000 Autos verbrannt. Die Regierung verspricht Geld, Sozialprogramme und Investition in den sozialen Wohnungsbau, um die Lebenssituation zu verbessern. Tatsächlich sind seitdem einige Vorstädte ansehnlicher geworden – doch das sind oft nur Fassaden. Die Probleme dahinter sind oft bis heute nicht gelöst.
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