Vordenker des interreligiösen Dialogs

Karl-Josef Kuschel im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 14.01.2012
"Leben ist Brückenschlagen", so heißt das kürzlich erschienene Buch des katholischen Theologen Karl-Josef Kuschel. Elf Vordenker des interreligiösen Dialogs stellt er darin vor, darunter so bekannte wie Mahatma Gandhi oder Martin Buber, aber auch unbekanntere wie den US-amerikanischen Mönch Thomas Merton.
Anne Françoise Weber: Die Geschichte des neuzeitlichen Dialogs der Religionen, so schreibt Karl-Josef Kuschel im Einführungskapitel, begann mit der Entdeckung Chinas und Indiens. Und das, obwohl doch schon seit Jahrhunderten in Europa Begegnungen zumindest zwischen Juden, Christen und Muslimen stattfanden. Ich habe vor der Sendung mit Karl-Josef Kuschel gesprochen und ihn gefragt, warum denn dann die Entdeckung Chinas und Indiens für den interreligiösen Dialog so wichtig war.

Karl-Josef Kuschel: Nun, mit der Entdeckung dieser riesigen Räume - Kulturräume, Welträume - kam auch das Christentum selber in die Defensive. Das Christentum hatte sich ja quasi bis in die Neuzeit hinein, bis ins 16., 17. Jahrhundert, als den Nabel der Welt betrachtet, als die allein selig machende Religion, und plötzlich tritt eine Religion, eine Kultur ins Zentrum - indischen Ursprungs, chinesischen Ursprungs -, die ja nicht nur eine religiöse Herausforderung war, sondern gleichzeitig auch eine große geistige und kulturelle Herausforderung. Das bedeutet, dass man mit diesen Kulturen in eine ganz neue Beziehung treten muss, denn die indische Kultur und die chinesische Kultur ist ja nicht primitives Heidentum. Das ist eine hochstehende Kultur seit Jahrtausenden, die mindestens auf der gleichen Höhe anzusiedeln ist eben wie die christliche. Und das bedeutet natürlich eine Erschütterung des christlichen Selbstbewusstseins und - positiv gesagt - eine Notwendigkeit, sich geistig mit diesen Kulturen auseinanderzusetzen.

Weber: Deutsche Philosophen wie Johann Gottfried Herder und Arthur Schopenhauer haben ja bei dieser Rezeption der asiatischen Religionen ganz entscheidend mitgewirkt. Prägt das unser Bild von Buddhismus, Konfuzianismus und so weiter bis heute?

Kuschel: Ja, ich denke schon, denn Herder hatte einerseits ein sehr positives Bild von Indien gezeichnet, Indien war für ihn die Wiege der Menschheitskultur, aber ein sehr negatives Bild von China. China war für ihn, der Ende des 18. Jahrhunderts seine großen Werke vorgelegt hat, vor allen Dingen seine Universalgeschichte, eine einbalsamierte Mumie, wie er sich ausdrückt, erstarrt in Tradition und Konventionen. Dieses Indienbild und Chinabild hat bis heute Wirkung gehabt. Und Schopenhauer ist vor allen Dingen dafür verantwortlich, dass der Buddhismus erstmals von deutschen Intellektuellen in dieser Form wahrgenommen wurde. Sein Werk "Die Welt als Wille und Vorstellung" enthält zahlreiche Auseinandersetzungen mit buddhistischen Texten, auch mit klassischen indischen Texten, und Schopenhauer hat ein bestimmtes Bild des Buddhismus festgeschrieben, nämlich Lebenspessimismus, Weltaskese, Weltflucht et cetera. Und dieses Bild steckt noch in vielen intellektuellen Köpfen. Buddhismus ist Weltflucht und nicht Weltgestaltung.

Weber: Hermann Hesse hat ja auch Schopenhauers Buddhismusbild einerseits übernommen, dann aber auch sich weiter mit asiatischen Religionen befasst - das ist auch keinem entgangen, der jetzt zum Beispiel "Siddhartha" gelesen hat. Aber woran liegt jetzt nun wirklich Hesses Bedeutung für den interreligiösen Dialog, warum nennen Sie ihn einen Vordenker?

Kuschel: Weil er die sinnliche, ästhetische Dimension dieses Dialogprozesses repräsentiert. Er ist Schriftsteller, er ist Poet, er ist also kein Mann, der Traktate geschrieben hat, Lehrbücher geschrieben hat, religionswissenschaftlich Korrektes von sich gegeben hat, und ungezählte, sicher Hunderttausende, wenn nicht Millionen Leser in aller Welt haben indische Geistigkeit über Hesses indische Dichtung "Siddhartha" kennengelernt. Hesse war ja geprägt von Indien schon von seinem Elternhaus im Schwarzwaldstädtchen Calw her. Seine Eltern waren Missionare in Indien gewesen, und gerade in diesem kleinen Schwarzwaldstädtchen, in diesem Elternhaus hat er indische Kultur aufgesogen - da waren Kleider, Bücher, Bilder, Schriften präsent. Und er hat das dann literarisch umgesetzt und für viele dann eben inspirierend gewirkt. Hesse war der Überzeugung, alle großen Religionen der Welt haben so etwas wie einen spirituellen Kern, die Religionen schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern man kann sich wechselseitig bereichern. Er ist eben ein Vordenker in dem, was wir heute komplementäres Denken nennen, also nicht konfrontatives Denken, sondern komplementäres, das heißt, sich gegenseitig ergänzendes Denken. Und "Siddhartha" ist eine wunderbare Dichtung, bis heute, um dieses sich ergänzende Denken aus christlichen Elementen, taoistischen Elementen, buddhistischen Elementen und indischen Elementen kennenzulernen.

Weber: Von so einer Ergänzung von Ost und West sprach ja auch Richard Wilhelm. Das war ein deutscher Missionar, der dann im Laufe seines Aufenthalts in China eigentlich zum Chinesen unter Chinesen wurde und dann zurückkam und im Grunde China-Missionar in Europa war. Erzählen Sie uns doch ein bisschen von ihm.

Kuschel: Ja, Richard Wilhelm ist eine grandiose Figur, viel zu wenig bekannt - also etwa im Unterschied zu Hermann Hesse oder eben einem Mahatma Gandhi oder einem Martin Buber. Aber er ist der stille Gigant, der stille Riese - so möchte ich ihn nennen -, weil er als Missionar eben nach China ging, 1899, in das damalige Pachtgebiet Tsingtau, was ja ein Beutestück des deutschen Kolonialismus war. Aber er hat von Anfang an begriffen, wer nach China geht, der kann diese Kultur nicht missionieren wollen. Ist das Christentum denn der großen chinesischen Kultur so weit überlegen, nicht wahr, dass man diese Kultur auslöschen müsste und durch das Christentum ersetzt? Nein, er war von vornherein der Meinung, China ist eine hochstehende Kultur, vor allen Dingen geprägt durch den Konfuzianismus, Neokonfuzianismus, und so begann er dann, die großen chinesischen Klassiker oft erstmals ins Deutsche zu übersetzen. Also schon noch vor dem Ersten Weltkrieg erschienen die Gespräche des Konfuzius, die "Lun Yü", dann Laotses "Tao Te King", und er hat dann, 20 Jahre später, noch das große Orakel- und Weisheitsbuch "I Ging" übersetzt. Er ist der Brückenbauer schlechthin zwischen China und Deutschland, und viele haben überhaupt erst über Richard Wilhelm die Bedeutung der chinesischen Klassiker wahrnehmen können, weil er die deutsche Sprache zur Verfügung stellte, mit denen man dann sich geistig mit diesen Strömungen auseinandersetzen konnte.

Weber: Also da ist jetzt ganz eindeutig verständlich, warum Sie ihn porträtieren mussten, aber trotzdem: Wie haben Sie diese Auswahl getroffen, wie haben Sie sich auf elf - Männer leider nur - festgelegt, die jetzt also diese Vordenker des interreligiösen Dialogs waren? Das ist doch bestimmt wahnsinnig schwer, oder?

Kuschel: Ja, die Auswahl ist auf der einen Seite schwer, weil man auch Kompromisse machen muss, bestimmte Figuren muss man schon auch aus Raumgründen außen vor lassen. Im Übrigen habe ich dieses Buch einer großen …

Weber: Frau gewidmet.

Kuschel: … Frau gewidmet, nämlich Katharina Mommsen, die große Goethe-Forscherin, die Überragendes getan hat für ein neues Gespräch zwischen Orient und Okzident, durch ihre Studien zu Goethe und die arabische Welt und ihren Kommentar zu Goethes einzigartiger Dichtung "West-östlicher Divan". Aber ich wollte in der Auswahl in jedem Fall alle Traditionen berücksichtigt haben. Ich wollte eben Indien repräsentiert haben durch die beiden großen Gestalten Vivekananda und Gandhi, ich wollte China eben mit hinein nehmen. Dann wollte ich vor allen Dingen des Buddhismus, einen bekennenden Buddhisten wie Thich Nhat Hanh, den vietnamesischen Buddhisten, der der große Pionier eines engagierten, also politisch engagierten Buddhismus ist, und Enomiya-Lassalle, Hugo Enomiya-Lassalle, der Jesuit, der Bahnbrechendes für ein neues Verhältnis von Zen-Buddhismus und Christentum getan hat. Und dann natürlich das Judentum und den Islam. Das Judentum ist bei mir repräsentiert durch Martin Buber und Abraham Joshua Heschel, und durch den großen Islamologen Louis Massignon ist die islamische Geistigkeit präsent, der mehr als andere getan hat, die islamische Mystik zu erschließen, also den Sufismus. Das waren die Kriterien, ich wollte alle Religionen einbeziehen, und natürlich dann auch die Köpfe, die wirklich Leuchttürme sind in dieser Landschaft.

Weber: Sie sagen ja wirklich, es sind Vordenker. Man merkt auch an der Arbeit, die Sie da beschreiben von diesen Menschen, dass die viel eben an Kulturtransfer geleistet haben, an Übersetzung, an Bekanntmachen. Ist im Grunde diese Zeit jetzt vorbei, weil das meiste uns mittlerweile zugänglich ist, auf Deutsch übersetzt ist, Möglichkeiten bestehen, da ranzukommen, und ist jetzt vielleicht die Zeit der Graswurzelarbeit gekommen, also der Arbeit in Schulen, in Gemeinden, da die anderen Religionen bekannt zu machen?

Kuschel: Ja, das kann man so sagen. Die Pionierarbeit ist geleistet, und jetzt muss das weiter runter vermittelt werden, auf die Ebene der Curricula, nicht wahr, der Lehrpläne, der Lehrangebote. Denn interreligiöser Dialog entsteht nicht von selbst, es braucht einen Erziehungsprozess, und Erziehungsprozess läuft nach Regeln ab. Wir brauchen also bis auf die Ebenen der Universitäten in der Theologenausbildung, auf die Ebene der Schulen im Religionsunterricht und auf der Ebene der Gemeinde in den verschiedenen Gesprächskreisen brauchen wir jetzt so etwas wie interreligiöse Gesprächskultur. Das setzt ja auch Wissen voraus, das setzt Teilhabe voraus. Wir brauchen also einen Erziehungsprozess der Wahrnehmung des anderen. In vielen Schulen ist ja die Situation völlig neu, da sind Schülerinnen und Schüler anderer Kulturen und Religionen präsent. Ich bin da nicht blauäugig, ich bin da nicht naiv, ich weiß, dass es auch erhebliche Schwierigkeiten gibt, aber gleichzeitig ist das auch eine ungeheure Chance, den kulturellen Reichtum des jeweils anderen auch kennenzulernen. Die Vordenker, die Pioniere, die Leuchtturmgestalten sind ja Zeichen der Hoffnung. Trotz aller Widerstände ist es möglich, diesen Lernprozess fruchtbar zu gestalten.

Weber: Sie schreiben auch einige Kriterien für Dialogkompetenz auf am Anfang Ihres Buches, ich nenn die mal: Das heißt, Sachkenntnis erwerben, in die Rolle des anderen sich versetzen, Selbstkritik üben, Strukturanalogien zeigen und sich am Ethos der Humanität orientieren. Das ist eine ganz schön lange und anspruchsvolle Liste, wenn man jetzt so an ein Schuldialogprojekt denkt. Ist das überhaupt umsetzbar, und kann man Dialog nur führen, wenn man all diese Kompetenzen besitzt?

Kuschel: Nun, das ist idealtypisch gesprochen. Das ist erhoben aus einer langen Beobachtung: Wo ist eigentlich interreligiöser Dialog passiert und nach welchen Kriterien richtet man interreligiösen Dialog aus, also was verdient eigentlich den Namen interreligiöser Dialog? Oft wird dieses Wort ja inflationär gebraucht und oberflächlich gebraucht - nicht alles, was unter diesem Etikett erscheint, ist auch Dialog. Nein, deshalb sage ich ausdrücklich, auf den Ebenen der Schulen zum Beispiel beginnt es nicht mit intellektuellem kognitivem Informationswissen, es geht da nicht darum, zunächst einmal Bibel und Koran zu vermitteln, sondern eine Wahrnehmung des anderen. Warum nicht die Feste der anderen? Ramadan oder Chanukka oder Pfingsten - so ansetzen, dort, wo Menschen sozusagen die Religion erleben und erfahren, da kann man ansetzen. Und dann kann man Lernprozesse anstoßen.

Weber: Und genau dazu haben wir gleich noch einen Beitrag in der Sendung, in dem eben muslimische und christliche Schüler gemeinsam erst den Dom und dann eine Moschee in Osnabrück besuchen. Vielen Dank, Karl-Josef Kuschel, Professor für katholische Theologie an der Universität Tübingen. Das Buch "Leben ist Brückenschlagen - Vordenker des interreligiösen Dialogs" ist beim Patmos-Verlag erschienen, hat 608 Seiten und kostet 38 Euro.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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