Kinokritiker Althen als zwanghafter Nachtarbeiter
Drei Filme um Kämpfe gegen äußere und innere Dämonen: Eine Haftentlassene gerät in eine obskure Parallelwelt, Kinder kämpfen gegen finstere Mächte und Dominik Graf porträtiert einen berühmten, verstorbenen Kritiker mit Hang zur Obsessivität.
"Agnieszka"
Die junge Frau mit Strickmütze und Narbe an der Lippe wird aus dem Gefängnis entlassen. So trist es drinnen aussieht – als Agnieszka in die kaum weniger triste Freiheit tritt, will sie am liebsten gleich wieder zurück. Warum sie eingesperrt war, erfährt man nicht. Sie schaut kurz in der schäbigen Elternwohnung vorbei und verspricht dem kleinen Bruder, ihn nachzuholen. Dann steigt sie in den Bus, der sie von Polen nach München bringt. Der erste Weg führt in ein zwielichtiges Etablissement, das von einer alten Dame geführt wird.
"Haben Sie jemand in München, der auf sie wartet? – Nein. – Keine Familie, keine Freunde, kein Job. Warum kommt man hierher? – War der erste Bus, der gefahren ist. Will arbeiten. – Das wollen viele. Warum soll ich bei Ihnen eine Ausnahme machen? – Warum nicht? – Sehen Sie Jazek dahinten? Hauen Sie ihm eine runter. Dann bekommen sie Arbeit."
Agnieszka bekommt den Job. Und der besteht darin, wohlhabenden Kunden erotische Domina-Fantasien zu erfüllen. Regisseur Tomasz E. Rudzik malt seinen Film "Agnieszka" in grauen Tönen, macht aus der Geschichte aber kein fatalistisches Sozialdrama. Vielmehr nimmt Agnieszka ihr Schicksal selbst in die Hand, auch als sich ein Junge in sie verliebt, der sie aus Neugier zu ihren Kunden fährt. Nie ist in den wechselvollen Beziehungen ganz klar, wer wen manipuliert.
Rudzik inszeniert seinen mit dem bayerischen Nachwuchsregiepreis ausgezeichneten Film mit einer formalen Strenge und – nicht selten plakativer – Stilisierung, die an Filme der Berliner Schule erinnert. Das wirkt spröde, aber Figurenzeichnung und Atmosphäre lassen den Film dann doch spannungsvoll vibrieren.
"Trash"
In "Trash" erleben wir die soziale Misere nicht als trist, sondern als explosiv. Der brasilianisch-britische Film beginnt auf einer riesigen Müllhalde, auf der es wie im Ameisenhaufen wimmelt. Raphael und Gardo, zwei Jungs aus den Favelas von Rio de Janeiro, wühlen im stinkenden Dreck, um Verwertbares zu finden. An diesem Tag haben sie Glück: Eine prall gefüllte Brieftasche. Aber der Fund erweist sich als tickende Zeitbombe, die Polizei fahndet fieberhaft danach, und als sich herumspricht, dass die Jungs etwas wissen, geraten sie in tödliche Gefahr. Hilfe suchen sie bei einer amerikanischen Missionarin:
Filmausschnitt: "Wir brauchen Dich. Wir wollen Dich um Gefallen bitten. – Die Polizei kommt her, nimmt eine Knarre, legt ihn um. Rapha ist in Gefahr. – Wozu braucht ihr jetzt mich? – Du bist doch Amerikanerin. Du bist weiß. – Du weiß, er schwarz. – Ich sehe arm aus."
Die Jungs haben in ein Wespennest gestochen und sich die korrupte Polizei zum Feind gemacht. Aber sie wissen sich mit List gegenüber ihren mächtigen Gegnern zu wehren:
Der Brite Stephen Daldry hat "Trash" als furiosen Favela-Krimi inszeniert. Wie in seinem Kinoerfolg "Billy Elliot" ist es auch hier die Kombination von gut beobachteter Milieuschilderung und grandios geführten Jungdarstellern, die den Reiz des Films ausmacht. Die kleinen Laiendarsteller behaupten sich neben Schauspielern wie Martin Sheen bestens. Daldry erzählt eine rasante Abenteuergeschichte, ohne dabei die brutale soziale Situation der Kinder zu verharmlosen. Das gibt dem Film eine ansteckende utopische Kraft.
"Was heisst hier Ende?"
Von Utopien erzählt auch der neue Film von Dominik Graf. "Was heisst hier Ende?" nennt der Regisseur sein filmisches Porträt über den hochgeschätzten, 2011 mit nur 48 Jahren verstorbenen Filmkritiker Michael Althen. Filmemacher wie Wim Wenders und Kritikerkollegen äußern sich bewundernd über den originellen cineastischen Blick des gebürtigen Münchners:
Filmausschnitt: "Da ist ein neuer Film, der ist gar nicht so toll, aber diese fünf Minuten, dieses Klavier bei 'Chamissoplatz' oder was, wie sie ihn anguckt. – Der Michael hat das schon verstanden, da kleine Ewigkeiten draus zu machen, aus so Kristallpunkten in einem Film den ganzen Überbau herzustellen."
Die Bewunderung wird zwar arg ausgewalzt, aber man erlebt in den Schilderungen auch einen Getriebenen und fast zwanghaften Nachtarbeiter, der auf Selbstzweifel mit einem obsessiven Arbeitsstil zu reagieren schien. Und man erfährt nicht nur viel über Eitelkeiten und Selbstbewogenheit eines recht exklusiven Betriebs von Großkritikern, sondern auch über die Entwicklung und Wechselwirkung von Kino und Kinokritik seit den Achtzigerjahren, die im interessantesten Teil der Dokumentation kritisch reflektiert wird. Dominik Grafs Porträt wird damit zum Requiem auf eine verlorene Kino- und Feuilletonkultur.
Filmausschnitt: "Der große Nachruhm, den Michael jetzt erfährt, hängt glaube ich mit der Beschreibung der Trostlosigkeit des aktuellen Zustandes des Journalismus zusammen."