Auf die Mimik kommt es an
Für die Entwicklung von Kindern ist Vorlesen sehr wichtig - da sind sich Experten einig. Was aber ist mit Jungen und Mädchen, die nicht hören können? Einmal im Monat veranstaltet die Berliner Landesbibliothek eine Vorlesestunde für hörgeschädigte Kinder.
So ruhig ist es bei anderen Vorlesestunden meistens nicht. Immerhin sitzen hier ein Dutzend Kinder zusammen. Gebannt blicken sie nach vorne, auf das Gesicht und die Hände des Vorlesers. Wer einmal kurz wegschaut, verpasst, wie es mit dem "netten bösen Wolf" in der Geschichte weitergeht.
Denn hier in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin wird in Gebärdensprache vorgelesen. Einmal im Monat findet die Veranstaltung "LeseZeichen" statt. Sie richtet sich an gehörlose oder schwerhörige Kinder und an Kinder, deren Eltern gehörlos oder schwerhörig sind.
Die fünfjährige Hiranur ist schon aufgeregt: "Meine Mama liest heute ein Buch vor."
Beim "LeseZeichen" lesen auch gehörlose Eltern vor – heute zum Beispiel Nurcan Kar.
Sie reißt die Augen weit auf oder schaut empört
Vorher stellt Karen Gröning von der Bibliothek das Buch kurz vor. Eine Sprachvermittlerin übersetzt von der Lautsprache in Gebärdensprache.
"In der nächsten Geschichte geht es um Stoff." Karen Gröning zeigt den Kindern rote Stofffetzen, die immer kleiner werden. "Und die Nurcan wird das Buch jetzt erzählen und ihr werdet hören, warum ich so viele kleine Stückchen gezeigt habe."
Wenn Nurcan Kar beim Vorlesen die Arme in die Höhe streckt, klimpert das Armband an ihrem Handgelenk. Sie reißt die Augen weit auf oder schaut empört – ich verstehe keine Gebärdensprache, die Emotionen aber schon.
Die fünfjährige Hiranur erzählt mir, wie sie zu Hause mit ihrer Mutter in Gebärden kommuniziert.
"Ja, ich kann Gebärdensprache mit ihr zusammen."
"Und wie hast du das gelernt?"
"Meine Mama hat es mir einfach beigebracht."
"Und wenn ihr dann zusammen vorlest, wie funktioniert das dann, wie sitzt ihr dann so?"
"Dann sitzen wir auf dem Sofa und dann liest mir einfach meine Mama das vor."
"Und wie hast du das gelernt?"
"Meine Mama hat es mir einfach beigebracht."
"Und wenn ihr dann zusammen vorlest, wie funktioniert das dann, wie sitzt ihr dann so?"
"Dann sitzen wir auf dem Sofa und dann liest mir einfach meine Mama das vor."
Das Kind muss Blickkontakt haben
Auch Ilka Feierabend liest zu Hause teilweise in Gebärden vor. Sie ist schwerhörig, ihr siebenjähriger Sohn Theo gehörlos. Mit zwei Jahren hat er ein Cochlea-Implantat bekommen. Das ist eine Hörprothese. Dadurch hört Theo mittlerweile etwas und kommuniziert bilingual: in Lautsprache und in Gebärdensprache. Beim Vorlesen in Gebärden ist die richtige Sitzposition ganz entscheidend, erklärt Ilka Feierabend.
"Man muss auf jeden Fall darauf achten, dass das Kind immer Blickkontakt hat, ins Gesicht, auf die Lippen auf jeden Fall. Theo liest auch sehr viel ab. Und auf meinen Oberkörper und meine Arme, das muss frei sein. Wenn man in Gebärdensprache Geschichten vorliest, dann hat man die Kinder selten auf dem Schoß. Jedenfalls nicht, wenn sie älter werden, weil sie einen dann wirklich angucken müssen."
Nurcan Kar schaut beim Vorlesen kaum ins Buch. Sie hat die Geschichte "Weihnachten nach Maß" verinnerlicht und erzählt sie frei in Gebärden.
Die achtjährige Dilcan ist Nurcan Kars andere Tochter. Am besten hat ihr das Buch gefallen, das ihre Mutter heute vorgelesen hat:
"Und wie fandst du das?"
"Gut."
"Wieso, was hast du daran gut gefunden?"
"Die Gebärde."
"Sie ist ja auch sehr lebhaft."
"Das finde ich daran lustig."
"Gut."
"Wieso, was hast du daran gut gefunden?"
"Die Gebärde."
"Sie ist ja auch sehr lebhaft."
"Das finde ich daran lustig."
Nicht jeder Laut lässt sich in Gebärdensprache übersetzen
Die Bewegung und Mimik machen ihren Kindern beim Vorlesen in Gebärden besonders viel Spaß, erzählt mir Nurcan Kar– die Sprachvermittlerin Gabi Henrichs übersetzt das für mich von Gebärden- in Lautsprache.
Ilka Feierabend erklärt, warum die Emotionen beim Vorlesen in Gebärden so wichtig sind:
"Das hat was damit zu tun, dass Gebärdensprache 'ne komplett andere Grammatik hat. Manche Wörter, die wir in Lautsprache verwenden, so was wie 'Huch' oder 'Ach du meine Güte' kann man schlecht übersetzen. Dafür gibt es halt aber Mimikausdrücke und andere emotionale Ausdrücke in Gebärdensprache. Und die muss man dann halt dafür finden."
Bei der Vorlesestunde gehe es in erster Linie darum, den Kindern Lust auf Bücher und aufs Lesen zu machen, sagt Karen Gröning. Sie betreut das Projekt seit seinem Beginn vor mehr als zehn Jahren zusammen mit Gero Scholtz vom Gehörlosenverband Berlin.
Eintrittskarte in die Welt der Bücher
Nach der Vorlesestunde geht es oft noch runter in die Bibliothek, wo sich die Kinder auch etwas ausleihen und mit nach Hause nehmen können. Karen Gröning:
"Das ist, glaub ich, das Schöne, dass wir etwas geschafft haben in den zehn Jahren, dass wir Jugendliche mit Einzelfallhelfern treffen, die in die Bibliothek kommen, unten sitzen und lernen oder an den Computer gehen. Das gab es vorher nicht. Also so, dass man sagen kann, das hat auch eine Wirkung, dass man diese Bibliothek, diese Schwellenangst, sagen wir immer, überwinden kann."
Die Vorlesestunde schafft es, dass gehörlose Menschen die zunächst oft fremde Welt der Bücher kennenlernen.