Neues Leben in verlassenen Dörfern
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Vorpommern zählt zu den ärmsten und am dünnsten besiedelten Regionen Deutschlands. Ein guter Nährboden für rechte Bewegungen. Doch es gibt auch die andere Seite: Die Region zieht junge Leute an, die Neues ausprobieren wollen.
Montagmorgen - im Waldkindergarten in Tückhude sind die Kinder gerade vom Frühstücken gekommen und bereiten sich jetzt darauf vor, Kirschen pflücken zu gehen. Das Gelände liegt mitten in der Natur, sogar ein kleiner Bach fließt durch das Grundstück.
"Dadurch, dass wir eine kleine Gruppe haben, haben wir gar nicht so viele Auflagen, an die wir uns halten müssen", sagt Alina Wander, Mitgründerin des Waldkindergartens WaWiKi. "Außer, dass die Kinder nicht in den Hütten zusammen spielen, sondern einfach nur draußen sind. Aber das sind sie eigentlich eh."
Eltern gründen einen Kindergarten
Alina Wander ist 30 Jahre alt und sehr froh darüber, dass der Kindergarten nach der Coronakrise wieder öffnen darf. Sie lebt seit vier Jahren mit ihrer Familie im Nachbarort.
"Ich bin hier aufs Land gezogen mit meinen zwei Kindern, die klein waren, und wir brauchten einen Kindergartenplatz." Die Kindergärten in der Umgebung seien sehr weit weg gewesen. Und begeistert seien sie von ihnen auch nicht gewesen. "Und dann dachten wir, wir gründen einfach hier einen Kindergarten."
So einfach, wie es klingt, war es natürlich nicht. Bevor der Kindergarten aufmachen konnte, brauchte es ein ganzes Jahr Vorbereitungszeit. Planung, Abstimmung mit den Ämtern, und und und.
"Man braucht viel Optimismus, Tatendrang und viel Durchhaltevermögen." Die Gemeinde habe die Idee sehr gut gefunden, sagt Wander, sei anfangs aber auch sehr skeptisch gewesen: "Weil, dann kommen da einfach junge Leute und wollen einen Kindergarten gründen. Das schaffen die doch gar nicht!" Heute seien alle sehr begeistert davon, dass sich etwas entwickle in eine naturnahe, ökologisch umweltbewusste Richtung. "Die finden das total schön, dass hier so ein toller Waldkindergarten ist, und dass auch Eltern in die Gemeinde ziehen, eben wegen dem Kindergarten."
Ein Viertel der Stimmen an die AfD
Vor Kurzem hat WaWiKi seinen ersten Geburtstag gefeiert. Eine Erfolgsgeschichte in einer Region, in der es um die öffentliche Infrastruktur nicht gut bestellt ist. Die Wege zu Kindergärten, Schulen und zum nächsten Supermarkt sind weit, ohne Auto geht nichts.
Vorpommern, einer der am dünnsten besiedelten Landstriche Deutschlands, hat keinen guten Ruf: Leer stehende Dörfer treffen auf Monokultur in der Landwirtschaft. Bei der Bundestagswahl 2017 stimmte fast ein Viertel der Wahlberechtigten für die AfD. Orte wie Anklam und Demmin haben seit Jahrzehnten ein Problem mit rechten Gruppierungen.
Aber es gibt auch andere Geschichten aus der Region: von Menschen, die ihr Leben in die Hand nehmen, Kindergärten und Firmen gründen, Häuser restaurieren und politisch etwas bewegen wollen.
"Ich lebe weit über 20 Jahre hier in dieser Region", sagt Susanne Wiest. Sie ist Aktivistin und Lokalpolitikerin und setzt sich seit vielen Jahren für das bedingungslose Grundeinkommen ein. Im vergangenen Jahr hat sie hier auch für den Bürgermeisterposten kandidiert.
Für sie sei die Region noch immer ein Freiraum, in dem gerade etwas entsteht, sagt Wiest. "Wir experimentieren hier: Wie kann Leben auf dem Lande aussehen, sodass es regional ist, dass es sich hier trägt?"
Unter freiem Himmel ist Platz zum Leben. Doch das ist natürlich nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite: fehlende Arbeitsplätze, Landflucht, Verödung der Infrastruktur – das war die bittere Realität in den 90er-Jahren und sie ist es zum Teil bis heute. Wie ließe sich das ändern?
Durch diese Frage sei sie auf die Idee gekommen, sagt Wiest: "Wenn wir freier wären in unserer Einkommenssituation hier, dann könnten wir die Dinge entwickeln, die wirklich vor Ort notwendig sind." Vor Ort gebe es keinen Friseur, keinen Laden, keinen Kindergarten. "Vielleicht könnte man auch eine Bäckerei aufmachen. Da gibt es Möglichkeiten, und dazu bräuchte man aber Einkommenssicherheit und einen Freiraum von der Gesellschaft."
Grundlegende Veränderung für das Landleben
Susanne Wiest stieß auf ein neues Konzept: das bedingungslose Grundeinkommen. Seit 15 Jahren setzt sie sich nun schon dafür ein. Wiest ist sich sicher: Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde das Leben nicht nur auf dem Land, aber vor allem dort grundlegend verändern.
Neben der großen Politik ist Susanne Wiest auch im Gemeinderat aktiv. Vom Rechtsruck in der Gesellschaft hat sie dort nicht viel mitbekommen. Aber, sagt sie: "Ich weiß, dass das hier Thema ist." Sie habe von einem Rentner gehört, der sehr genervt gewesen sei, "dass seine Bedürfnisse gar nicht gehört werden politisch, der überhaupt nicht weiß, wo er das anbringen kann", sagt Wiest. "Nach der Wende schon alle Parteien einmal ausprobiert, sozusagen. Nie hat sich an dieser Situation hier vor Ort, was die Lebensqualität betrifft oder auch die Wertschätzung des Lebens hier, irgendetwas zum Positiven geändert."
Nächster Stopp meiner Vorpommern-Rundreise: Hohenbrünzow. Der Ort hatte im 19. Jahrhundert seine goldene Zeit. Damals lebten hier 170 bis 200 Menschen. Geprägt ist Hohenbrünzow maßgeblich durch ein großes Schloss und eine Gutsanlage. Vor sechs Jahren hat ein Investor den alten Gutshof gekauft, ist hierher gezogen und hat auch seine drei jungen Neffen mitgebracht. Die wohnen jetzt hier und entwickeln diese ehemalige Gutsanlage weiter.
"Als ich das erste Mal hergekommen bin, da war dieser Hof im Prinzip eine einzige Wiese", sagt einer der Neffen, Thorin Wäschle. Es sei alles sehr baufällig gewesen und habe nicht gerade traumhaft ausgesehen. Sie hätten immer wieder diese Gedanken im Kopf gehabt von einem Ort, an dem man alle Pläne verwirklichen kann - Gastronomie, Werkstätten, Atelier, großer Garten, Tiere. "Keiner von uns hat als erstes an Mecklenburg-Vorpommern gedacht."
Wie ein Berliner Start-up oder eine Parallelwelt
Und dann war da auf einmal dieser alte Gutshof. Ihr Onkel war auf einer Immobilienauktion und ersteigerte spontan die Gutsanlage in Hohenbrünzow – ungesehen, wohlgemerkt. Zwei große Scheunen, ein Wohnhaus, alles baufällig. Dazu 15 Hektar Land.
"Es war eher vielleicht so eine belächelnde Skepsis da am Anfang bei vielen", sagt Wäschle. So in die Richtung: "Vor euch waren auch schon welche da. Ihr seid ja nicht die ersten, die so etwas versuchen, mit euren Träumen." Es habe dann einfach gedauert. "Es kommen wirklich oft Leute vorbei, die diesen Ort von früher kennen, und die jetzt sehen, dass wieder was passiert. Das führt dann doch zu Wohlwollen und Anerkennung."
Seit zwei Jahren stecken die drei Brüder jede freie Minute in das Gelände. Am Bebauungsplan wird gefeilt, mit Freunden soll eine Firma für Strohballenhäuser gegründet werden. Auf einer der Scheunen ist ein Atelier mit Glasfenstern entstanden, davor eine Dachterrasse mit Sonnensegel.
Es wirkt wie ein Berliner Start-up mitten auf dem Land. Oder wie eine Parallelwelt. Denn das andere Vorpommern gibt es ja auch – Arbeitslosigkeit, schlechte Infrastruktur, rechte Parteien. Es scheint hier allerdings sehr weit weg.
Platz seit Mitte der 80er-Jahre
"Das werden Klangstühle, Klangraumstühle", sagt Christina Rode, Künstlerin und Bildhauerin. "Das ist auch wieder Linde, alles aus einem Stamm und du sitzt in dem Baum erstmal drin."
Rode steht in ihrem Atelier in Wietzow vor einem ausgehöhlten Baumstamm, geformt wie ein Ohrensessel. Noch ist nur der Rohbau des Klangraumstuhls fertig. Später kommen noch Musiksaiten an die Rückenlehne.
Man müsse es sich ungefähr so vorstellen, als würde man in einem Kontrabass sitzen oder in einer Gitarre. "Als ich den Ersten gemacht hatte und gespielt habe - ich war von den Socken. Ich bin erst einmal ins Dorf gerannt: Ihr müsst kommen, ihr müsst das mal erleben, was ich da gemacht habe."
Wer solche Arbeit macht, braucht Platz – für Werkstätten, für Ateliers, für Material. Christina Rode weiß es zu schätzen, dass sie diesen Platz hier hat. Mitte der 80er, mit Anfang 20, kam sie in die Region. Viele Dörfer waren aufgelassen, hier und da siedelten sich Künstler an.
"Und wenn erstmal ein Nest geschaffen ist, wo Menschen schon mal da sind, die ein bisschen anders ticken, ein bisschen anders leben, schon mal eine Alternative im Kopf haben - einer kennt den Nächsten und den Nächsten und den Nächsten."
In der ausgehenden DDR entwickelte sich rund um Witzow, weit weg von jeder Stadt, ein Anlaufpunkt für Künstler und Querdenker.
"Es war eine spannende Zeit, die war so energievoll, die war so kraftvoll, und wir hatten so viel Hoffnung, was neu beginnen zu können", erinnert sich Rode. "Das war wirklich das Gefühl, ein anderes Land aufbauen zu können in der Zeit."
Das Gefühl von Zusammengehörigkeit hält
Die Hoffnungen von damals haben sich nur teilweise erfüllt, sagt Christina Rode heute. Aber die Dynamik, das Zusammengehörigkeitsgefühl, das hält sich bis heute. Mit sichtbaren Ergebnissen: Während in Nachbardörfern leer stehende Häuser einfallen und die AfD Rekordergebnisse einfährt, blüht in Wietzow das Leben. Und mehr und mehr junge Leute kommen dazu.
"Dass die Dörfer lebendig werden, das finde ich zauberhaft." Es gebe noch mehr Dörfer in der Region, die diese neue Kraft bräuchten, betont sie. "Und von daher freue ich mich immer darüber, wenn junge Menschen kommen und sagen: Ja, wir packen was neu an, und wir wollen mit dieser Erde leben, und wir wollen hier was machen. Das ist die Zukunft."