Die Hetze lebt
In Deutschland wurden 25 Prozent der Jüdinnen und Juden im vergangenen Jahr verbal attackiert oder belästigt. Exemplarische Zahlen für einen europaweiten Trend: In legitime Kritik an Israel mischt sich zunehmend eine generelle Judenfeindschaft.
Vor drei Jahren wurde in Köln in der Nähe des Doms ein abstruses Plakat an der sogenannten "Klagemauer" aufgehängt, einer Art Pinnwand zum Nahost-Konflikt, initiiert von einer Privatinitiative, die sich ursprünglich dem Kampf gegen Wohnungsnot und Obdachlosigkeit gewidmet hatte. Das Plakat zeigte einen am Tisch sitzenden Mann mit einem Brustlatz mit aufgedrucktem Davidstern um den Hals, der mit Messer und Gabel ein auf dem Teller liegendes palästinensisches Kind verspeist.
Auch siebzig Jahre nach dem Holocaust tauchen in Deutschland immer noch Zerrbilder von Juden auf, die dem "Stürmer", dem Hetzblatt der Nazis, entnommen sein könnten. Die Grundzüge des Antisemitismus hätten sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kaum verändert, meint der Soziologe Peter Ullrich vom Berliner Zentrum für Antisemitimusforschung.
"Es geht immer um die Darstellung der Jüdinnen und Juden als ein anderes zum eigenen Kollektiv, aber auch als ein anderes zu allen anderen sogenannten normalen Völkern. Und diese grundsätzlichen Strukturen des antisemitischen Weltbildes haben sich nicht geändert, sondern es ändern sich die Kontexte, in denen sie sich ein wenig anders artikulieren können."
So bietet zum Beispiel der ungelöste Nahostkonflikt seit Jahrzehnten die Gelegenheit, antisemtische Einstellungen in Kritik an der israelischen Regierungspolitik zu verpacken. Erst jüngst veröffentlichte eine deutsche Tageszeitung eine Karikatur, die Israels Ministerpräsidenten Netanjahu als Taubenvergifter zeigte, eine Anspielung auf das uralte Stereotyp vom jüdischen Brunnenvergifter. In Großbritannien rufen linke Gruppen aus Solidarität mit den Palästinensern zum Boykott israelischer Produkte auf, ohne zu bedenken, dass solche Aktionen beklemmende Assoziationen an Vorläufer aus der NS-Zeit wachrufen können.
Wenn Israelkritik zu Judenfeindschaft wird
Das macht das Dilemma deutlich, zwischen legitimen Vorbehalten gegenüber israelischer Politik und Antisemitismus zu differenzieren. Peter Ullrich spricht von einer Grauzone zwischen Israelkritik und Judenfeindschaft.
"Diese vermischen sich, und dann kann es aber passieren, dass antisemitisch eingestellte Personen die Kritik an Israel als Vehikel nutzen, das auf eine Art und Weise zu artikulieren, die gestattet ist; oder andersrum, dass Kritikerinnen und Kritiker Israels auch für antisemitische Argumente offen sind."
Wenn es in Großbritannien, Frankreich oder Deutschland zu antisemitischen Vorfällen oder Gewalttaten kommt, verurteilen politische Repräsentanten und Medien solche Vorkommnisse sofort. Antisemitien können nicht ungestört in einem rechtsfreien Raum agieren. In Ungarn oder der Türkei ist dies hingegen häufig nicht der Fall. Dort verbreiten rechtsextreme Gruppen antisemitische Vorurteile, manche berufen sich auf Adolf Hitler. Sein Werk „Mein Kampf“ avancierte in der Türkei zum Bestseller, bevor es vor einigen Jahren verboten wurde. Beliebt sind auch Verschwörungstheorien, in deren Zentrum Juden und Israel stehen. Mit ihnen hat sich die Politologin Dilek Güven beschäftigt.
"Im Mittelpunkt stehen der Geheimdienst Mossad und der zionistische Staat Israel. Man erwähnt sie in der Türkei nur in einem extrem negativen Zusammenhang. Besonders populär sind Verschwörungstheorien, wonach die neue Regierung der kurdischen Region im Irak von Israel unterstützt wird und deren Präsident Barzani ein Jude sei. "
Auch in Deutschland: immer wieder Pöbeleien
Eine abgeschwächte Form der Judenfeindschaft, der sogenannte sekundäre Antisemitismus, ist in osteuropäischen Ländern wie Litauen und Polen zu beobachten. Dort bemüht man sich, der Opfer des stalinistischen Terrors zu gedenken und zugleich die Erinnerung an den Nationalsozialismus in den Hintergrund zu drängen, um damit von der eigenen Rolle als Kollaborateure des NS-Regimes abzulenken.
Antisemitismus steht stellvertretend für das Phänomen des Rassismus: Einzelne Gruppen werden mit negativen Stereotypen belegt und wegen ihrer Religion, Hautfarbe oder Herkunft angefeindet. Nicht nur Volkes Stimme, sondern auch Regierungen fördern diese Aus- und Abgrenzungsprozesse.
"In diesem Kontext ist der Rassismus, der institutionelle, der dazu führt, dass vor den Toren Europas massenhaft Menschen ertrinken, genauso ein Moment wie der Hass gegen Sinti und Roma, die per se beispielsweise verdächtigt werden, wenn das Kind hellhäutig ist, dass es nicht so richtig dazugehört."
Wie sehr auch Juden nach wie vor tätlichen Angriffen oder Beleidigungen ausgesetzt sind, zeigt eine aktuelle europaweite Studie: Etwa zwei Drittel der europäischen Juden erwägen, ihre Heimat wegen antisemitischer Übergriffe zu verlassen. In Deutschland wurden 25 Prozent der Jüdinnen und Juden im vergangenen Jahr verbal attackiert oder belästigt.