Vorwärts im rückschrittlichen Anatolien
Jeder kennt sie, die Berichte über Türken in Deutschland, die aus Südostanatolien stammen. Anatolien! Synonym für Rückständigkeit, Analphabetismus, archaische Stammesgesellschaften, die jedes Problem mit den Fäusten regeln.
Auch in Istanbul spricht man so über die Ostanatolier. Die in die Großstädte kamen, sich nicht zu benehmen wissen, die schöne Architektur kaputt wohnen - die trotteligen Anatolier halt! Und dann der Terror. Ostanatolier sind Kurden. Kurden sind Terroristen. Terroristen gefährden die Nation. Feinde halt. Kaputtmacher, Trampeltiere.
Ich war in Anatolien. Schaute mich um. Habe gelesen, gelernt, gestaunt. Zugegeben, ich war in Diyarbakir, das ist das New York Anatoliens.
Ich war in Anatolien. Schaute mich um. Habe gelesen, gelernt, gestaunt. Zugegeben, ich war in Diyarbakir, das ist das New York Anatoliens.
Das anatolische Diyarbakir wirbt für die Aussöhnung mit den Armeniern
Diyarbakir, diese Millionenstadt am Tigris, der sich seit über 1000 Jahren unter der Brücke mit den zehn Torbögen hindurchschlängelt, ehemalige Station auf der Seidenstraße, dieses Diyarbakir, wo sich das Läuten der Kirchenglocken zusammen mit dem Gesang des Muezzins zu einem Großstadtrap vermischt - diese Metropole ist fortschrittlicher als Osnabrück, Münster, Hamburg oder Berlin-Charlottenburg jemals sein werden können.
In der Türkei fand ab 1915 ein Völkermord an Armeniern und anderen Christen statt. Politisch wird er bis heute in der Türkei geleugnet. Nicht die Bürgermeister von Istanbul, Izmir oder Ankara waren in der Lage folgende Worte zu sprechen, sondern der Bürgermeister von Diyarbakir. Er warb für Versöhnung und Aufklärung und sendete diesen Aufruf in die Welt: "Ich bitte alle Armenier: kommt zurück in eure Stadt, ihr seid ein Teil von uns!"
Wie oft heißt es, dass Südostanatolier ungebildet wären. In Istanbul, Izmir oder Ankara spricht die Mittelschicht allenfalls ein kryptisches Englisch. In Diyarbakir spricht jeder analphabetische Tomatenverkäufer Türkisch und Kurmanci, zwei vollkommen voneinander unabhängige Sprachen.
Wie oft kommt es vor, dass ein Mensch ohne Schulbildung die Klassiker seiner Sprache auswendig weiß? Ich denke, sehr selten. In Istanbul, Izmir oder Ankara findet man sicher nur schwerlich eine Handvoll Menschen, die ein paar Gedichte in altem Türkisch rezitieren können.
Im vermeintlich zurückgebliebenen Osten der Türkei haben - trotz massivem sieben Jahrzehnte andauerndem Kurdischsprechverbot bei Androhung von Haft und Folter - zwei Sprachen überlebt, nämlich das Kurmanci und das Zaza. Plus das gesamte kurdische klassische Repertoire an Sagen, Mythen, Märchen, Liedern, Literatur und Gedichten.
In der Türkei fand ab 1915 ein Völkermord an Armeniern und anderen Christen statt. Politisch wird er bis heute in der Türkei geleugnet. Nicht die Bürgermeister von Istanbul, Izmir oder Ankara waren in der Lage folgende Worte zu sprechen, sondern der Bürgermeister von Diyarbakir. Er warb für Versöhnung und Aufklärung und sendete diesen Aufruf in die Welt: "Ich bitte alle Armenier: kommt zurück in eure Stadt, ihr seid ein Teil von uns!"
Wie oft heißt es, dass Südostanatolier ungebildet wären. In Istanbul, Izmir oder Ankara spricht die Mittelschicht allenfalls ein kryptisches Englisch. In Diyarbakir spricht jeder analphabetische Tomatenverkäufer Türkisch und Kurmanci, zwei vollkommen voneinander unabhängige Sprachen.
Wie oft kommt es vor, dass ein Mensch ohne Schulbildung die Klassiker seiner Sprache auswendig weiß? Ich denke, sehr selten. In Istanbul, Izmir oder Ankara findet man sicher nur schwerlich eine Handvoll Menschen, die ein paar Gedichte in altem Türkisch rezitieren können.
Im vermeintlich zurückgebliebenen Osten der Türkei haben - trotz massivem sieben Jahrzehnte andauerndem Kurdischsprechverbot bei Androhung von Haft und Folter - zwei Sprachen überlebt, nämlich das Kurmanci und das Zaza. Plus das gesamte kurdische klassische Repertoire an Sagen, Mythen, Märchen, Liedern, Literatur und Gedichten.
Das rückständige Anatolien existiert nicht!
Finde doch mal jemand zehn Bürger in Berlin-Lichtenberg, die auf Anhieb ein Berthold-Brecht-Gedicht auswendig aufsagen können. Ich wette, es wird nicht gelingen. Und dabei war es weder verboten Brecht zu drucken, zu kaufen, zu lesen oder einfach nur ein Buch von ihm zu besitzen, ja, mehr noch, der Mann war Schullektüre.
Was ich sagen will, ist sehr einfach. Dass der Osten Anatoliens eine arme Gegend sei, dem stimme ich gerne zu. Aber zu glauben, dass er deshalb kulturell verarmt, politisch ungebildet, gesellschaftlich unsensibel, gar unzivilisiert unkultiviert sei, ist ein Riesenmissverständnis. Die aufregendsten zeitgenössischen Künstler der Türkei traf ich in Diyarbakir, die berühmtesten Feministinnen, Verleger, Autoren, die bestbestücktesten Kirchenbuchhandlungen, meine Güte, dieser Ort ist für Kulturschaffende ein Schlaraffenland!
Fragen sie mal in Berlin-Prenzlauer-Berg jemanden, wo sich die nächste katholisch-apostolische Gemeinde befindet. "Apo wat, wat solln dit sein?"
In Diyarbakir fragte ich nach der katholischen Kirche. Der Eisenwarenhändler erkundigte sich: Meinen Sie chaldäisch-katholisch, meine Dame? Ich wusste bis zu dieser Reise gar nicht was das ist. Chaldäisch.
Dies ist deshalb ein Aufruf an alle: Bitte sagt und schreibt nie mehr – "das rückständige Anatolien". Es ist nämlich einfach nicht wahr!
Mely Kiyak, Publizistin aus Berlin. Zuletzt erschienen: "Briefe an die Nation und andere Ungereimtheiten", "Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an" (beide S. Fischer Verlag, Frankfurt 2013).
Im Herbst dieses Jahres veröffentlicht sie im neu gegründeten Digitalverlag shelff einen kleinen Text über ihre Zeit in der Türkei. Auf "Zeit Online" erscheint ihre wöchentliche Kolumne "Türkische Tage". Derzeit ist sie Stipendiatin in der Kulturakademie Tarabya/Istanbul.
Was ich sagen will, ist sehr einfach. Dass der Osten Anatoliens eine arme Gegend sei, dem stimme ich gerne zu. Aber zu glauben, dass er deshalb kulturell verarmt, politisch ungebildet, gesellschaftlich unsensibel, gar unzivilisiert unkultiviert sei, ist ein Riesenmissverständnis. Die aufregendsten zeitgenössischen Künstler der Türkei traf ich in Diyarbakir, die berühmtesten Feministinnen, Verleger, Autoren, die bestbestücktesten Kirchenbuchhandlungen, meine Güte, dieser Ort ist für Kulturschaffende ein Schlaraffenland!
Fragen sie mal in Berlin-Prenzlauer-Berg jemanden, wo sich die nächste katholisch-apostolische Gemeinde befindet. "Apo wat, wat solln dit sein?"
In Diyarbakir fragte ich nach der katholischen Kirche. Der Eisenwarenhändler erkundigte sich: Meinen Sie chaldäisch-katholisch, meine Dame? Ich wusste bis zu dieser Reise gar nicht was das ist. Chaldäisch.
Dies ist deshalb ein Aufruf an alle: Bitte sagt und schreibt nie mehr – "das rückständige Anatolien". Es ist nämlich einfach nicht wahr!
Mely Kiyak, Publizistin aus Berlin. Zuletzt erschienen: "Briefe an die Nation und andere Ungereimtheiten", "Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an" (beide S. Fischer Verlag, Frankfurt 2013).
Im Herbst dieses Jahres veröffentlicht sie im neu gegründeten Digitalverlag shelff einen kleinen Text über ihre Zeit in der Türkei. Auf "Zeit Online" erscheint ihre wöchentliche Kolumne "Türkische Tage". Derzeit ist sie Stipendiatin in der Kulturakademie Tarabya/Istanbul.

Mely Kiyak© Ute Langkafel